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8. November 2019 Presse

Strafverfahrens-Reform: „Prozessleitungswillkür Tür und Tor geöffnet“
Jürgen Martens (FDP) im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“

Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 11. November 2019)

- bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung -

Jürgen Martens, rechtspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, hat scharfe Kritik am Gesetzentwurf der Koalition zur „Modernisierung des Strafverfahrens“ geübt. Durch die geplante Änderung im Beweisantragsrecht werde „in bestimmten Situationen und in bestimmten Verfahren einer Prozessleitungswillkür Tür und Tor geöffnet“. Die geplante Neuregelung sei „ein sehr gefährliches Werkzeug“, sagte Martens im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 11. November 2019). Das Recht des Angeklagten, Beweiserhebungen zu verlangen, sei einer der zentralen Punkte, mit denen die Verteidigung auf das Geschehen einwirken könne, betonte der FDP-Abgeordnete, der von 2009 bis 2014 in Sachsen als Staatsminister für Justiz und Europa amtierte.

Der Gesetzentwurf der Koalition sieht unter anderem vor, dass Gerichte Beweisanträge einfacher ablehnen können, wenn „der Antragsteller sich der Nutzlosigkeit der Beweiserhebung bewusst ist und er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt“, wie es in dem Entwurf heißt. Der Gesetzentwurf ist an diesem Montag Thema einer öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages. Am Freitag soll der Bundestag den Entwurf, der vergangene Woche in erster Lesung beraten wurde, beschließen.


Das Interview im Wortlaut:

Herr Martens, die Bundesregierung will das Strafverfahren modernisieren, die Koalition hat einen Gesetzentwurf vorgelegt. Parallel dazu hat die FDP-Fraktion einen Antrag eingebracht. Was unterscheidet die beiden Vorlagen?

Unser Antrag ist wesentlich umfassender, weil wir dort den Strafprozess insgesamt beleuchten. Im Gesetzentwurf der Koalition werden zahlreiche Einzelregeländerungen vorgeschlagen, ein Gesamtüberblick findet nicht statt. Und das bemängeln wir, weil die ganzen Reformen im Strafprozessrecht wie auch im materiellen Recht zunehmend Einzelaktionen sind. Sozusagen Stückwerk, dem es an einem geschlossenen Konzept mangelt. Deswegen haben wir die Punkte aufgeschrieben, von denen wir sagen: Hier muss sich etwas ändern, um das Strafverfahren zu verbessern. Das heißt, es muss schneller werden, aber ohne die Rechte der Betroffenen weiter einzuschränken. Wir müssen beispielsweise von der Digitalisierung Gebrauch machen.

Ist die Kritik an zu lange dauernden Gerichtsverfahren berechtigt?

Die Mehrzahl der Gerichtsverfahren läuft in Deutschland im Verhältnis zu anderen europäischen Ländern sehr schnell. Daneben gibt es natürlich immer wieder Verfahren, die außergewöhnlich lange dauern, und man kann sich natürlich wünschen, dass gerade Strafverfahren im Bereich des Jugendstrafrechts noch schneller geführt werden als jetzt. Man wird nicht immer eine Maximalbeschleunigung in allen Verfahren erreichen können, aber wir halten es für möglich, durch Verfahrensvereinfachungen und den Einsatz digitaler Mittel zu einem schnelleren Strafverfahren zu kommen.

Welche Chancen verbinden Sie mit der Digitalisierung?

Das Kernstück mündliche Verhandlung wird es weiterhin geben. Aber anstelle des Protokollbeamten, der alles mitschreibt, schlagen wir vor, dass eine Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung stattfindet. Gerade auch mit Blick auf die Einvernahme von Zeugen, die dort befragt werden, denn es kann unter Umständen bei der Urteilsfindung tatsächlich einmal auf die Auslegung einer Zeugenaussage ankommen. Es ist eigentlich nicht verständlich, warum im Zeitalter der Videoaufnahmen und der Digitalisierung das noch nicht angewandt wird. Im Bereich der Vernehmung von Zeugen, etwa im Bereich von Prozessen im Sexualstrafrecht, ist es ja schon möglich.

Was hält Ihre Fraktion von neuen Ermittlungsbefugnissen?

Wir haben uns bereits in den vergangenen Legislaturperioden immer gegen eine bloße Ausweitung von Ermittlungsbefugnissen gewehrt. Dem Gewinn, den man durch ausufernde Befugnisse der Ermittlungsbehörden erreicht, steht aus meiner Sicht kein entsprechender Nutzen gegenüber. Die potentielle Einschränkung von Bürgerrechten ist wesentlich umfassender und tiefgreifender als der Gewinn. Und was bei der Einführung ausdrücklich nur für schwere Kriminalität gedacht war, wird jetzt auch in den Bereichen mittlerer bis einfacher Kriminalität angewandt. Das heißt, man kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass, wenn neue Ermittlungsbefugnisse eingeführt werden mit der Begründung, man wolle sie nur für schwere Kriminalität, diese dann auch tatsächlich nur dort angewandt werden. Wir haben natürlich im Bereich der Telekommunikationsüberwachung, speziell bei der Vorratsdatenspeicherung, weiter Bedenken bezüglich der Europarechts- und Verfassungswidrigkeit. Da sind wir bisher in unserer Rechtsauffassung von den Gerichten immer bestätigt worden. Der Wunsch nach einem möglichst einfachen Strafprozesses ist keine ausreichende Begründung.

Umstritten ist die Pflichtverteidigung ab der ersten Stunde. Was schlägt die FDP hier vor?

Es gibt eine EU-Richtlinie, nach bereits ab Beginn eines Verfahrens der Betroffene die Möglichkeit haben muss, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen. Das ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Der Regierungsentwurf sieht das zwar vor, aber es gibt keine Hinweispflicht der Ermittlungsbehörden. Dass man also jemanden sagt, pass auf, hier kommt eine Haftstrafe in Betracht, deswegen kannst du jederzeit einen Pflichtverteidiger beantragen. Für die meisten Betroffenen und Beschuldigten in den ersten Vernehmungen wäre genau das erforderlich, dass auch schon die erste Vernehmung im Beisein eines Verteidigers stattfindet und dieser nicht irgendwann später geholt wird. Der Gesetzentwurf sieht das so nicht vor.

Sie kritisieren auch die geplante Erweiterung der DNA-Analyse.

Die DNA-Analyse ist grundsätzlich ein Hilfsmittel, aber die Ausweitung im Ermittlungsverfahren und die Begrenzung auf bestimmte Merkmale hat bei uns Zweifel hinsichtlich der Zielgenauigkeit geweckt. Auch diese Merkmale können sich ändern, und dann könnten Fehler passieren. Und genau diejenigen, die man eigentlich sucht, werden im Ergebnis einer unzutreffenden DNA-Analyse eben nicht ins Visier genommen. So sucht man vielleicht aufgrund einer solchen Analyse eine blonde Person, aber Haare lassen sich färben.

In Gerichtsverhandlungen soll das Verbot eingeführt werden, das Gesicht ganz oder teilweise zu verdecken. Ist das notwendig?

Nein, denn wir haben bereits heute die Regelung, dass Zeugen persönlich aussagen müssen und dass das Gericht sich ein Bild von dem Zeugen machen muss. Deswegen kann ein Gericht auch jetzt jederzeit im Rahmen seiner Sitzungsbefugnisse darauf hinwirken, dass etwa ein Zeuge oder ein Angeklagter nicht mit Gesichtsschleier auftaucht. Unabhängig von der Frage der Identitätsfeststellung. Man kann einen Zeugen nicht wirklich ernsthaft vernehmen und seine Reaktionen und seine Verhaltensweise mitkriegen, wenn dieser sein Gesicht verhüllt.

Die Koalition will auch das Beweisantragsrecht ändern. Was halten Sie von dem Argument einer möglichen Prozessverschleppung?

Das ist eine der zentralen Regelungen, die wir besonders beanstanden. Denn das Recht des Angeklagten, Beweiserhebungen zu verlangen, ist einer der zentralen Punkte, mit denen die Verteidigung auf das Geschehen einwirken kann und mit denen man die Rechte des Angeklagten wahrnimmt. Wenn jetzt die Möglichkeit geschaffen wird, einen solchen Beweisantrag durch das Gericht zurückzuweisen, wird der Verteidigung eben diese Möglichkeit von Beweisanträgen aus der Hand genommen. Mit der Unterstellung der Absicht einer Prozessverschleppung schafft man ein sehr gefährliches Werkzeug. Wenn das dann auch noch nicht einmal mit einem Rechtsmittel angegriffen werden kann, dann sage ich ganz klar, dass dadurch in bestimmten Situationen und in bestimmten Verfahren einer Prozessleitungswillkür Tür und Tor geöffnet wird.

Der Gesetzentwurf und der FDP-Antrag sehen beide eine Bündelung der Nebenklagevertretung vor. Warum?

Es hat in den letzten Jahren einige wenige Verfahren gegeben mit einer großen Anzahl von Geschädigten oder Angehörigen von Geschädigten und Nebenklägern. Als Beispiele zu nennen sind hier das Verfahren um die Love Parade in Duisburg oder das NSU-Verfahren. Es handelt sich hierbei aber um Sonderfälle, die nicht die Regel sind. In diesen Verfahren kann man sich durchaus mal überlegen, wie man die Anzahl der Nebenklagevertreter begrenzt, ohne die Interessen von Nebenklägern zu vernachlässigen oder zu beschädigen, und trotzdem dafür sorgt, dass das Verfahren einfacher und auch schneller wird.
 

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