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21. August 2020 Presse

Der Berliner SPD-Bundestagsabgeordnete Fritz Felgentreu erläutert, warum Neukölln ein Vorbild für das ganze Land sein kann

Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 24. August 2020)

– Bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –

Aus den positiven Erfahrungen, aber auch aus den Fehlentwicklungen der Einwanderungsgesellschaft in Berlin-Neukölln lassen sich Erkenntnisse für ganz Deutschland ableiten, betont der direkt gewählte Neuköllner Bundestagsabgeordnete Fritz Felgentreu (SPD): „Ich denke, dass wir heute ein realistisches Verständnis von Einwanderungs-, Migrations- und Integrationsprozessen haben. Dass wir, anders als in den 1990er Jahren, nicht einfach darauf vertrauen, dass sich Integrationsprobleme in der zweiten Generation von allein erledigen. Von dieser etwas blauäugigen Betrachtungsweise sind wir runter.“ Die Tatsache, dass es immer noch überdurchschnittlich viele Schulabbrecher in dem Bezirk gebe, sei nicht Ausdruck eines politischen Scheiterns. Denn: „Die Migrationsgeschichte erneuert sich permanent, sie ist nie abgeschlossen. Deshalb erneuern sich auch die Probleme permanent, nur mit unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass die Zahl der Schulabbrecher deutlich höher ist als in Steglitz-Zehlendorf. Das wird immer so sein. Die Frage ist: Haben wir Antworten darauf?“, sagt Felgentreu.

Zur bisherigen Bilanz des rot-rot-grünen Senats stellt der Sozialdemokrat fest: „Im Bereich der Innen- und Sicherheitspolitik oder bei der Forschungsförderung hat der Senat sehr gut agiert. Nicht zuletzt ist Berlin inzwischen so weit weg von der Haushaltsnotlage der Nullerjahre, dass es mit eigenen stimulierenden Maßnahmen in der Corona-Krise wieder Akzente setzen kann. Insbesondere beim Wohnungsbau wurden aber längst nicht die Fortschritte gemacht, die nötig gewesen wären. Das hat mich sehr enttäuscht.“


Das Interview im Wortlaut:

Herr Felgentreu, Sie zogen 1989 zum Studieren nach Berlin, aber nicht weil Sie dem Wehrdienst aus dem Weg gehen wollten, den hatten Sie schon hinter sich. Warum Berlin?

Ich war einfach neugierig auf die Stadt. Ich war ein Landei, kam aus einem 300-Seelen-Dorf und hatte Lust, etwas zu erleben. Hamburg war mir zu nah und zu vertraut und dieser Berlin-Mythos faszinierte mich. Aber ich hatte eigentlich gar nicht vor, so lange zu bleiben – das spricht eindeutig für diese Stadt.

1992 begannen Sie mit der Kommunalpolitik in Neukölln. Damals war der Bezirk noch kein Magnet für Hipster aus aller Welt. Was zog Sie ausgerechnet dorthin?

Als ich 1989 nach Berlin gezogen bin, war die Wohnungssituation angespannt. Ich habe einfach in Neukölln eine Wohnung gefunden. Ich wusste nichts über die Stadt, insofern war ich da auch relativ unkritisch, habe dort einen Mietvertrag abgeschlossen, wo ich eine Wohnung gefunden hatte. Es hat sich dann aber als Glücksgriff erwiesen und so ist Neukölln zu einem Leitmotiv für mein bürgerliches und politisches Leben geworden und das war immer mit einem Gefühl der Sinnhaftigkeit verbunden.

1992 war die Stadt noch nicht lange wiedervereint, die Risse der Teilung waren überall sichtbar. Mit welchen Problemen hatten Sie es als Kommunalpolitiker damals zu tun?

Begriffe wie „Brennpunktkiez“ oder „Parallelgesellschaften“ bildeten sich im Rahmen der politischen Debatte erst im Verlauf der späten 1990er-Jahre heraus. Aber die Probleme existierten natürlich schon früher und deswegen habe ich mich von Anfang an für Integrations- und Einwanderungspolitik interessiert und engagiert.

Wie veränderte es den Bezirk, dass der ehemals abgeschirmte Osten der Stadt plötzlich so nahe dran war?

Zum einen fielen durch den Strukturwandel der Berliner Wirtschaft ganz viele Arbeitsplätze für Niedrigqualifizierte weg, die Arbeitslosigkeit stieg stark. Zum anderen wurden auf einmal viele Mittel, die für Investitionen in West-Berlin vorgesehen waren, in den Osten umgeleitet. Das hatte für viele Bewohner Neuköllns erstmal einen ziemlich unglücklichen Effekt.

Wie reagierten die Menschen?

Also, Ressentiments gegenüber dem Osten konnte ich jedenfalls nicht wahrnehmen. Die Menschen waren vielmehr unzufrieden mit der Gesamtsituation und damit, wie die Politik damit umgangen ist. Der CDU-geführte Senat von Eberhard Diepgen tat lange so, als gäbe es kein Problem, während die Schwierigkeiten tatsächlich mit Händen zu greifen waren. Das führte zu wachsender politischer Unzufriedenheit, dann zu den relativ hohen Wahlergebnissen für die Republikaner Anfang der 1990er-Jahre. Das war für mich auch ein Grund, mich politisch einzumischen.

Gleichzeitig hat der Berliner Senat damals Geld mit vollen Händen ausgegeben, damit die spätere Haushaltsnotlage verursacht, die letztlich in einen Sparkurs der Verwaltung mündete, über deren suboptimales Funktionieren sich seither die halbe Republik amüsiert.

Die Herausforderungen waren 1990 aber auch unglaublich. Die Berlin-Förderung war weggefallen, all die Subventionen, mit denen man es früher geschafft hatte, einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. Gleichzeitig waren Industriearbeitsplätze in riesigem Maßstab weggebrochen. Der einzige leistungsfähige Arbeitgeber, der noch übrig war, war der öffentliche Dienst, der aber gleichzeitig sehr ineffektive Strukturen hatte. Das in den Griff zu bekommen, war eine echte Herkulesaufgabe. Und der Diepgen-Senat hat dann entschieden: Schulden sind uns erstmal egal, jetzt sehen wir zu, dass wir das Zusammenwachsen der Stadt gut organisiert bekommen. Vermutlich hätte man auch klüger agieren können, aber das war damals die Antwort auf die Herausforderungen der Zeit.

2013 haben Sie mit „Fritz bringt Neukölln in den Bundestag“ für Ihre Kandidatur geworben. Wie realistisch ist es, in der Bundespolitik die Interessen eines Berliner Bezirkes zu vertreten?

Daraus allein kann man kein politisches Programm gestalten. Das Programm lag darin zu sagen: Aus den positiven Erfahrungen, aber auch aus den Fehlentwicklungen der Einwanderungsgesellschaft in Neukölln können wir Erkenntnisse ableiten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. In diesem Sinn wollte ich das, was ich in Neukölln gelernt hatte, in den Bundestag bringen.

Hat das funktioniert?

Manches auf jeden Fall. Ich denke, dass wir heute ein realistisches Verständnis von Einwanderungs-, Migrations- und Integrationsprozessen haben. Dass wir, anders als in den 1990er Jahren, nicht einfach darauf vertrauen, dass sich Integrationsprobleme in der zweiten Generation von allein erledigen. Von dieser etwas blauäugigen Betrachtungsweise sind wir runter.

Dennoch verlassen in Neukölln immer noch überdurchschnittlich viele Schüler die Schule ohne Abschluss.

Die Migrationsgeschichte erneuert sich permanent, sie ist nie abgeschlossen. Deshalb erneuern sich auch die Probleme permanent, nur mit unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass die Zahl der Schulabbrecher deutlich höher ist als in Steglitz-Zehlendorf. Das wird immer so sein. Die Frage ist: Haben wir Antworten darauf?

Und hat der Bezirk die richtigen Antworten?

Ich glaube, wir haben in Neukölln gute Ansätze entwickelt. Unser Konzept reduziert sich nicht auf eine konsequente, gute Bildungspolitik. Sondern wir haben stattdessen einen ganzheitlichen Anspruch an einen starken Staat formuliert. Das gelingt nicht immer gleich gut. Aber die programmatische Zielvorstellung dahinter ist absolut tragfähig und zukunftsfähig.

Sie waren zehn Jahre Mitglied des Abgeordnetenhauses. Hatten Sie denn das Gefühl, dort nicht mehr genügend bewirken zu können?

Meine Arbeit war immer mehr zu einem normalen Bürojob geworden. Das ist keine gute Motivation. Und wenn man das merkt, sollte man sich nach etwas anderem umgucken. Ich hatte eigentlich alle Ideen, die ich hatte, ausprobiert, manches erfolgreich, manches nicht. Es war Zeit für einen Tapetenwechsel.

Nun leidet Berlin seit vielen Jahren unter akutem Wachstumsstress. Bezahlbarer Wohnraum ist knapp, die Straßen sind verstopft. In einem Jahr endet die Legislatur. Was verbuchen Sie auf der Haben-Seite des Berliner Senats?

Im Bereich der Innen- und Sicherheitspolitik oder bei der Forschungsförderung hat der Senat sehr gut agiert. Nicht zuletzt ist Berlin inzwischen so weit weg von der Haushaltsnotlage der Nullerjahre, dass es mit eigenen stimulierenden Maßnahmen in der Corona-Krise wieder Akzente setzen kann. Insbesondere beim Wohnungsbau wurden aber längst nicht die Fortschritte gemacht, die nötig gewesen wären. Das hat mich sehr enttäuscht.

Berlin hat aber mit der Einführung eines Mietendeckels etwas gewagt. Alle warten nun gespannt auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Entwertet es das Gesetz für Sie, dass das letzte Wort nun Karlsruhe haben muss?

Nein. So ist das nun mal in einem demokratischen Rechtsstaat mit Gewaltenteilung und unabhängiger Justiz.