Zoni Weisz erinnert an den vergessenen Holocaust
„Heute gedenken wir der Opfer des nationalsozialistischen Genozids an 500.000 Sinti und Roma, wir erinnern an die Opfer der Shoa, des Mordes an sechs Millionen Juden, und wir gedenken all der anderen Opfer des Nazi-Regimes“, sagte Zoni Weisz, niederländischer Holocaust-Überlebender und Vertreter der Sinti und Roma, in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus am Donnerstag, 27. Januar 2011.
Vor 66 Jahren, am 27. Januar 1945, befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Der Jahrestag der Auschwitz-Befreiung ist der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Seit 1996 findet dazu jährlich eine Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Bundestages statt.
Durch glückliche Fügungen überlebt
Die Familie von Zoni Weisz war 1944 in der niederländischen Kleinstadt Zutphen verhaftet worden. Durch mehrere glückliche Fügungen überlebte der damals Siebenjährige die deutsche Besatzung, während seine Eltern, Geschwister und weitere Familienmitglieder im Konzentrationslager umkamen.
Weisz sprach von dem „vergessenen Holocaust“, weil ihm in den Medien wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht werde: „Ich frage mich, warum das so ist. Sind die Opferzahlen ausschlaggebend für die Aufmerksamkeit, die einem zuteil wird, oder ist das Leid eines einzelnen Menschen wichtig?“
Eine halbe Million Sinti und Roma ausgerottet
Nichts oder fast nichts habe die Gesellschaft daraus gelernt, dass im Holocaust eine halbe Million Sinti und Roma ausgerottet worden seien, „sonst würde sie heute verantwortungsvoller mit uns umgehen“.
Antisemitismus und Antiziganismus könnten in Nazi-Deutschland doch niemandem entgangen sein, sagte Weisz. Juden und „Zigeuner“ seien als „fremdrassig“ definiert, all ihrer Rechte beraubt und vom öffentlichen Leben ausgeschlossen worden.
Nach Auschwitz-Birkenau deportiert
„Für Sinti und Roma waren Verfolgung und Ausgrenzung nichts Neues. Seit Jahrhunderten wurden wir verfolgt und ausgeschlossen. Pogrome kamen regelmäßig vor“, sagte Weisz.
In bewegenden Worten schilderte er, wie er mit Hilfe eines Polizisten dem Transport nach Auschwitz entkommen konnte, die übrige Familie jedoch nicht. Im Gegensatz zu den Juden, die vielfach in den Vernichtungslagern sofort vergast worden seien, habe man Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau im Familienverband im sogenannten „Zigeunerlager“ interniert.
Aufstand im „Zigeunerlager“
Nach dem Aufstand im „Zigeunerlager“ im Mai 1944 seien fast alle Männer aus dem „Zigeunerlager“ ausgesondert und in andere Konzentrationslager verlegt worden. Vater, Onkel und andere Familienlager seien im Konzentrationslager Mittelbau-Dora, wo sie in der unterirdischen Waffenindustrie „unter erbärmlichsten Umständen“ arbeiten mussten, ums Leben gekommen: „Vernichtung durch Arbeit.“
Die verbliebenen 2.900 Frauen, Kinder und alten Menschen, darunter auch die Mutter, der Bruder und zwei Schwestern von Zoni Weisz, seien in der Nacht auf den 3. August 1944 vergast worden.
Verbrechen als Völkermord anerkannt
Ein historisches Datum sei für die Gemeinschaft der Sinti und Roma der 17. März 1982 gewesen. Damals habe Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Delegation des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma unter Leitung des Vorsitzenden Romani Rose empfangen.
„Dabei vollzog der Bundeskanzler einen völkerrechtlich ausgesprochen wichtigen Schritt, indem er das gegenüber den Sinti und Roma begangene nationalsozialistische Verbrechen als einen Völkermord anerkannte, der auf der Grundlage des Begriffs der 'Rasse' begangen wurde“, sagte Weisz.
Auswirkungen des Krieges noch zu spüren
Die Auswirkungen des Zeiten Weltkriegs seien innerhalb der Gemeinschaft der Sinti und Roma heute noch ganz klar zu spüren, unterstrich der Gastredner.
„Wir wurden unserem Schicksal überlassen. Die jahrhundertelange Geschichte von Stigmatisierung, Ablehnung und Ausgrenzung wiederholte sich.“
„Symbolische Geste an das Deutschland von heute“
Weisz hatte 1962 ein eigenes Blumengeschäft in Amsterdam eröffnet und kurz danach eine Ausstellungs- und Veranstaltungsfirma gegründet. Zum 50-jährigen Bestehen des Bundestages am 7. November 1999 schmückte er den Plenarsaal des Reichstagsgebäudes mit einem Blumenkunstwerk, ein Geschenk des niederländischen Parlaments.
„Die Arbeit an dieser Blumendekoration hat mir ein gutes Gefühl beschert. Gerade hier, im Deutschen Bundestag, konnte ich zeigen, dass die Nazis uns nicht alle haben ermorden können.“ Für ihn sei es auch eine „symbolische Geste an das Deutschland von heute“ gewesen.
„Die Geschichte wiederholt sich“
Zur heutigen Situation der Sinti und Roma sagte Weisz, es sei menschenunwürdig, wie sie vor allem in vielen ost- und südosteuropäischen Ländern wie Rumänien und Bulgarien behandelt würden. Diskriminierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung seien an der Tagesordnung. In Ungarn zögen Rechtsextremisten wieder in schwarzer Kluft umher und schikanierten und überfielen Juden, Sinti und Roma: „Die Geschichte wiederholt sich.“
Es könne nicht sein, so Weisz, dass ein durch Jahrhunderte diskriminiertes und verfolgtes Volk heute immer noch ausgeschlossen und jeder ehrlichen Chance auf eine bessere Zukunft beraubt werde: „Wir sind doch Europäer und müssen dieselben Rechte wie jeder andere Einwohner haben, mit gleichen Chancen, wie sie für jeden Europäer gelten“, sagte Weisz unter dem Beifall des gesamten Plenums.
Gedenken auch in Auschwitz
Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert hatte eingangs daran erinnert, dass sich am 22. Juni der deutsche Überfall auf die Sowjetunion zum 70. Mal jährt. Damit habe der Teil des ideologisch motivierten Vernichtungskrieges begonnen, der die meisten Opfer forderte.
Das „schreckliche Ausmaß“ der Verfolgung der Sinti und Roma durch das NS-Regime sei lange Zeit außerhalb des öffentlichen Bewusstseins geblieben. Nicht nur der Bundestag erinnere heute daran, sondern auch Bundespräsident Christian Wulff, der gemeinsam mit dem polnischen Präsidenten Komorowski diesen Tag in Auschwitz begehe, wo der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, die Gedenkansprache halte.
Die am meisten diskriminierte Minderheit Europas
Zum „ehrlichen Umgang mit unserer Vergangenheit“ gehört nach den Worten Lammerts auch, an die Urteile höchster deutscher Gerichte zu erinnern, die sich in den Anfangsjahrzehnten der Bundesrepublik bei Wiedergutmachungsfällen von Sinti und Roma die Diktion des NS-Regimes zu eigen gemacht hätten. „Lange war diese Opfergruppe von Entschädigungszahlungen ausgeschlossen.“
Bis heute sei die größte Minderheit Europas zugleich die wohl am meisten diskriminierte Minderheit Europas. Noch heute fühlten sich viele Sinti und Roma diskriminiert und stigmatisiert - auch in Deutschland. Klischees seien weit verbreitet, „weil wir nur wenig über die Kultur, die Lebensweise und den Alltag der Sinti und Roma wissen“. Er begrüße daher sehr, dass sich Ungarn während seiner EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2011 für eine Verbesserung ihrer Situation einsetzen will, sagte Lammert.
Der ungarische Gitarrist Ferenc Snétberger verlieh der Gedenkstunde ihren musikalischen Rahmen. (vom)