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Parlament

„Stabilität braucht vor allem Vertrauen“

Schulz ist Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament

Schulz ist Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (Martin Schulz)

Mehr Europa oder weniger Europa, vor dieser Entscheidung steht die Politik nach den Worten des SPD-Europaabgeordneten Martin Schulz, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament. Im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ vom Dienstag, 4. Oktober 2011, sagt Schulz, dass „mehr Europa“ bedeute, die Integration in Form einer echten Wirtschaftsregierung zu vertiefen, während „weniger Europa“ zur Abwicklung eines „enorm erfolgreichen politischen Projekts“ führen würde. Mit dem Scheitern des Euro würde Europa dramatisch an wirtschaftlichem und politischem Gewicht verlieren, so der Abgeordnete. Das Interview im Wortlaut:


Glauben Sie, dass die Ausweitung des Rettungsschirms EFSF den Euro stabilisieren kann?

Ob es gelingt, den Euro zu retten, hängt von der Feinjustierung einiger Instrumente und Mechanismen ab. An zentraler Stelle steht dabei der Rettungsschirm EFSF, der durch einen dauerhaften Stabilitätsmechanismus, den ESM, abgelöst werden muss. Stabilität braucht jedoch vor allem eines: Vertrauen. Das Vertrauen der Menschen in ihre Regierungen und in die EU, das Vertrauen zwischen den Euro-Partnern und in die Euro-Zone. In den letzten Monaten wurde durch ein Krisenmanagement, das allzu oft als Krisenverstärker wirkte, viel Vertrauen verspielt. Um dieses Vertrauen wieder zu gewinnen, ist jetzt von den Regierungschefs der politische Wille gefragt, sich zur Rettung des Euros und der EU zu bekennen, alle Karten auf den Tisch zu legen und ehrlich zu den Menschen in Europa zu sein.

Die deutsche Bundeskanzlerin hat vor dem Bundestag gesagt: „Scheitert der Euro, scheitert Europa.“ Sehen Sie das genauso?

Ja. Wir stehen heute vor einer klaren Entscheidung: mehr Europa oder weniger Europa. Die Vertiefung der Integration in Form einer echten Wirtschaftsregierung oder die Abwicklung eines enorm erfolgreichen politischen Projekts. Mit dem Scheitern des Euros würde Europa dramatisch an wirtschaftlichem und politischem Gewicht verlieren. Heute ist die EU die größte Wirtschaftsmacht mit dem größten Bruttoinlandsprodukt, dem größten Binnenmarkt und der größte Ex- und Importeur der Welt. Die Nationalstaaten sind im transkontinentalen Wettbewerb auf sich gestellt, während die EU ein Schwergewicht ist. Wirft Europa sein Gewicht gebündelt in die Waagschale, können Globalisierungsprozesse und die Weltpolitik nach unseren Werten und Interessen entscheidend geprägt werden.

Die Summen, die beim Rettungsschirm im Raum stehen, machen vielen Deutschen Angst. Haben Sie Verständnis dafür, dass eine Mehrheit da nicht mehr mitkommt und sagt: Wir selbst müssen sparen, sollen nun aber für jene einstehen, die über ihre Verhältnisse gelebt haben?

Angesichts der Riesensummen, über die auf Gipfeltreffen derzeit verfügt wird, bekomme ich auch Bauchschmerzen. Doch man muss sich auch mal vor Augen halten, dass zur Stabilisierung der Banken in der Finanzkrise vier Mal so viel Geld in die Hand genommen wurde. Das Hauptproblem ist, dass den Menschen nicht erklärt wird, warum diese Entscheidungen getroffen werden. Die Regierungschefs erfüllen ihre Aufgabe derzeit einfach nicht. Sie müssten erklären, worum es geht. Wir sind mit einer Schuldenkrise konfrontiert, die nicht zuletzt durch die Finanzkrise und durch Spekulation verstärkt wurde. Wir brauchen eine bessere Regulierung der Finanzmärkte und müssen in Europa endlich den Geburtsfehler der Währungsunion beheben: Eine gemeinsame Währung funktioniert nicht ohne enge wirtschaftpolitische Koordinierung. Deutschland hat wie kein anderes Land vom Euro profitiert. Durch den Wegfall von Wechselkursschwankungen haben gerade deutsche Unternehmen und Beschäftigte enorm vom gemeinsamen Markt profitiert, 60 Prozent unserer Exporte gehen in die EU, 42 Prozent in die Eurozone. Das Scheitern des Euros hätte fatale ökonomische Konsequenzen.

Muss man einem überschuldeten Land wie Griechenland Schulden erlassen? Und das den Menschen auch heute schon klar sagen?

Ich will eine Gläubigerbeteiligung. Es ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, diejenigen, die mit griechischen Staatsanleihen enorm hohe Zinsen kassiert haben – und damit die Situation von Griechenland weiter verschlimmert haben – zu beteiligen. Die Entkoppelung von Risiko und Haftung, dass also die Steuerzahler die Zeche für die Spekulanten zahlen, ist nicht hinnehmbar.

Ist eine Insolvenz ein denkbares Szenario?

Nein. Weder das griechische Volk noch die Euro-Partner haben diese Herkules-Maßnahmen gestemmt, damit Griechenland jetzt in die Insolvenz geht. Im Gegenteil, eine Insolvenz muss verhindert werden, das ist eine hochriskante Strategie, da sie eine Infektionsgefahr birgt und dramatische Dominoeffekte auslösen könnte.

Warum lässt sich die Politik eigentlich von Wettgeschäften gegen die Gemeinschaftswährung treiben? Wie begegnet man Auswüchsen auf den Finanzmärkten am sinnvollsten?

Diese Frage stelle ich mir auch täglich. Der Euro ist eine stabile Währung, der Außenwert des Euros ist stabil. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise wurde die Renaissance der Politik verkündet, doch jetzt erleben wir wieder, dass die Spekulanten erneut die Politik vor sich her treiben. Das muss ein Ende haben. Das Versprechen, die entfesselten Finanzmärkte in einem politischen Ordnungsrahmen zu bändigen, muss endlich eingelöst werden. Jeder Akteur und jedes Finanzprodukt müssen reguliert und überwacht sowie besonders riskante Spekulationsformen verboten werden.

Estland und die Slowakei haben ein geringeres Pro-Kopf-Einkommen als die Griechen und sollen ihren Teil zum EFSF beitragen. Was verstehen Sie unter Solidarität in Europa?

Beide Länder haben harte Jahre mit gewaltigen Anstrengungen und Einschnitten hinter sich, um die Kriterien für den Euro-Beitritt zu erfüllen. Auf den ersten Blick erscheint es unbillig, sie an der Rettung zu beteiligen. Aber wir sind in einer Solidargemeinschaft, die auf Gegenseitigkeit im Rahmen der jeweiligen Leistungsfähigkeit beruht.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy wollen eine EU-Wirtschaftsregierung. Was wollen Sie?

Ich will auch eine Wirtschaftsregierung, aber ich will nicht die Wirtschaftsregierung von Sarkozy und Merkel. Ihr Vorschlag lautet, das, was bislang auf Ebene der Finanzminister der Euro-Gruppe immerhin monatlich abgestimmt wird, zur Chefsache zu erklären. Die wirtschaftspolitische Koordinierung soll in Form sechsmonatiger Treffen der Regierungschefs stattfinden – also sechsmal weniger häufig als heute. Eine schlagkräftige Wirtschafsregierung, die schnell auf Marktereignisse reagieren und, wenn notwendig, Staaten auf den rechten Pfad leiten kann, sieht anders aus. Durch langwierige und intransparente Abstimmungsprozesse schafft man weder auf den nervösen Märkten noch bei den verunsicherten Menschen Vertrauen. Eine echte Wirtschaftsregierung, angesiedelt in der Kommission und überwacht vom Europäischen Parlament, müsste Werkzeuge in die Hand bekommen, die schnelle Reaktionen und eine effektive Überwachung der Schuldengrenze sowie den Ausgleich makroökonomischer Ungleichgewichte erlauben.

Sind die nationalen Parlamente und Regierungen überhaupt bereit, mehr Souveränität an die Gemeinschaft abzugeben? Gerade hat das deutsche Verfassungsgericht unmissverständlich klargestellt: Ohne die Beteiligung des Bundestages läuft nichts.

Die Abgeordneten des Bundestages sind für mich Partner, nicht Rivalen. Wenn etwa deutsches Geld für einen europäischen Rettungsschirm bereitgestellt werden soll, dann muss der Bundestag darüber entscheiden. In dem Moment, in dem das Geld auf die europäische Ebene fließt, muss es in den Kontrollbereich des Europäischen Parlaments übergehen. Es ist höchste Zeit, dass wir uns von Nullsummen- und Konkurrenzdenken verabschieden. Es geht nicht um die Frage, entweder Bundestag oder Europäisches Parlament. Sondern um die Zusammenarbeit von nationalen und europäischen Abgeordneten und die Stärkung der Parlamentsrechte auf beiden Ebenen.

(jbi/ahe)

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