Schneisen im Aktendschungel zur Neonazi-Mordserie
Vorm Europasaal 4.900 im Paul-Löbe-Haus des Bundestages springen Fotografen auf, TV-Kameraleute werfen schnell ihre Geräte an, Reporter greifen zu Notizblock und Kugelschreiber. In diesen Momenten kommen der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy und die Obleute der fünf Fraktionen heraus, um ihre Kommentare für die abendlichen Fernsehnachrichten oder die Zeitungsschlagzeilen von morgen loszuwerden: Die Abgeordneten kritisieren die mangelnde Kooperation zwischen Polizei und Geheimdiensten bei der Aufklärung der dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) angelasteten Mordserie, oder man moniert, dass über Jahre Ermittlungsansätze in der rechtsextremen Szene nicht energisch verfolgt wurden.
Sichtung und Vorauswahl der Unterlagen
Einer tritt in solchen Situationen nie in Erscheinung: Bernd von Heintschel-Heinegg. Dabei ist der Rechtsanwalt aus Straubing eine wichtige Hilfe bei der praktischen Arbeit des Untersuchungsausschusses, der Pannen und Fehlgriffe der Sicherheitsbehörden bei den Recherchen zu zehn Tötungsdelikten zwischen 2000 und 2007 durchleuchten soll: Die elf Parlamentarier haben den Juristen eigens als „Ermittlungsbeauftragten“ angeheuert, damit sie nicht in einer Flut tausender Aktenordner ertrinken – Heintschel soll durch eine „Sichtung und Vorauswahl“ der beim Generalbundesanwalt lagernden Unterlagen zu den Morden an neun türkisch- oder griechischstämmigen Kleinunternehmern und einer deutschen Polizistin eine Schneise im Wust des Papierdickichts schlagen.
Bei Generalbundesanwalt Harald Range stapeln sich zwar nicht alle, aber viele Akten über die Ermittlungen zu der Tötungsserie. Während Range die Dokumente für strafrechtliche Recherchen auswertet, interessiert Heintschel und seine Mitarbeiter Harald Dähne von der Bundestagsverwaltung, der Erfahrungen im BND-Untersuchungsausschuss gesammelt hat, und Hans-Joachim Lutz, Oberstaatsanwalt in München, ob das Karlsruher Material wertvolle Hinweise im Sinne des Auftrags des NSU-Gremiums enthält – oder nicht. Zu Heintschels Team hinter den Kulissen gehören noch Büroleiterin Jutta Schneider-Schill, eine Internetexpertin der Bundestagsverwaltung und eine Sekretärin.
Beurteilungskriterien gemeinsam entwickelt
Aber was ist im Sinne des Ausschusses bedeutsam, unwichtig oder eher am Rande relevant? Die entsprechenden Beurteilungskriterien habe er gemeinsam mit den fünf Fraktionsobleuten entwickelt, erzählt Heintschel. Von Belang seien etwa Hinweise auf den Informationsaustausch zwischen Polizei und Geheimdiensten. Andererseits benötigten die Abgeordneten, deren Arbeit auf die politische Verantwortung für Mängel bei den Ermittlungen zielt, keine Obduktionsberichte über die Opfer.
Beiseitegeschoben hat Heintschel auch im Fall der getöteten Heilbronner Polizistin Erkenntnisse zur Jagd nach einer „Phantomfrau“, die für diesen Mord und zahlreiche anderer Tötungsdelikte in Süddeutschland verantwortlich gewesen sein sollte – wobei letztlich herauskam, dass fehlerhaft behandelte Wattestäbchen bei den Ermittlungen an den Tatorten stets die gleichen DNA-Spuren hinterlassen hatten.
„Lieber eine Akte zu viel als zu wenig nach Berlin“
Aber natürlich tauchen Grenzfälle bei der Frage auf, welches Papier wichtige oder unbedeutende Informationen in sich birgt. Heintschels klare Maxime: „Im Zweifel schicke ich lieber eine Akte zu viel als zu wenig nach Berlin.“
Der Ermittlungsbeauftragte hat die von ihm gesichteten Unterlagen nicht inhaltlich für die Parlamentarier auszuwerten und im Blick auf den Auftrag des Ausschusses zu gewichten. Das ist Sache der Abgeordneten, denen deshalb das Lesen der von Heintschel vorsortierten Papiere nicht erspart bleibt.
Dreißig Ordner an den Bundestag übermittelt
Jede Woche fährt er für zwei bis drei Tage nach Karlsruhe, die restliche Zeit nutzt er für seine Tätigkeit als Anwalt. Dähne und Lutz sitzen sogar die ganze Woche über in Ranges Amtsstuben. Das Trio wälzt Akten, die sämtlich in Papierform vorliegen, oder studiert die Unterlagen am PC, da alles inzwischen auch digitalisiert ist. Aber könnte man sich dann nicht alles aus Karlsruhe zum heimischen Computer mailen lassen und dort ohne lange Reisen bequemer bearbeiten? Heintschel: „Keine Akte und kein Rechner darf die Büros des Generalbundesanwalts verlassen.“
Eine Ausnahme ist der Bundestagsausschuss. Für dieses Gremium gibt Range auf Bitte Heintschels die ausgewählten Akten frei, und zwar nur in Papierversion. Bisher haben Heintschel und sein Team in Karlsruhe schon über 1.200 Aktenordner gesichtet (von denen jeder wiederum zahlreiche einzelne Unterlagen enthält). Rund 30 Ordner wurden zusammengestellt und thematisch geordnet zum Bundestag übermittelt – beispielsweise sind unter einer Rubrik Informationen zu dem Umstand gesammelt, dass bei den Morden die Täter häufig ein Fahrrad benutzten.
„Noch in keinem Fall verweigert“
Die Dokumente werden von Heintschel fortlaufend in die Arbeit des Ausschusses eingespeist, man unterstützt so inhaltlich die bei den öffentlichen Sitzungen jeweils anstehenden Zeugenvernehmungen: „Im Rhythmus von eineinhalb Wochen geht ein Schwung Akten von Karlsruhe nach Berlin.“
Die Entscheidung über die Freigabe von Unterlagen für den Bundestag obliegt letztlich dem Generalbundesanwalt. Range habe sich „aber bislang noch in keinem Fall verweigert“, sagt Heintschel, er gewähre vielmehr jede Unterstützung.
„Eine interessante Erfahrung“
Was aber prädestiniert einen Anwalt für Familien- und Strafrecht dazu, das Durchackern von brisanten Aktenbergen für einen Parlamentsausschuss zu übernehmen? Nun, Anwalt ist der 1945 geborene Jurist erst seit seiner Pensionierung. Zuvor war er staatsanwaltschaftlich und als Richter aktiv.
Vor allem stand der Honorarprofessor an der Universität Regensburg mehrere Jahre an der Spitze des Staatsschutzsenats beim Bayerischen Obersten Landesgericht: „Ich kenne mich mit linkem, rechtem und islamistischem Terrorismus aus.“ Die Tätigkeit als Ermittlungsbeauftragter beim Bundestag ist noch einmal „etwas Neues“, so Heintschel, das sei eine „interessante Erfahrung“. (kos)