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Familie

„Hartz IV ist kein Überbrückungsgeld“

Kinder spielen mit einem Ball

(dpa)

Fürsorgliche Eltern, finanzieller Spielraum und die Chance, gesellschaftlich dabei sein zu können — das sind drei mögliche Antworten auf die Frage, was ein Kind braucht. Eine Antwort darauf, wie jedem Kind dafür so viele Steine wie möglich aus dem Weg geräumt werden können, suchte die Kinderkommission (Kiko) des Deutschen Bundestages am Mittwoch, 13. Juni 2012, in einem öffentlichen Expertengespräch unter Vorsitz von Diana Golze (Die Linke). Doch eine Patentlösung scheint nicht in greifbare Nähe zu rücken.

„Bedarfssätze sind auf Kante genäht“

Kritik wurde am derzeit praktizierten Regelsatzsystem für Hartz-IV-Empfänger geäußert. Für den Sachverständigen Dr. Rudolf Martens vom Paritätischen Wohlfahrtsverband sind die Bedarfssätze für Kinder und Jugendliche „viel zu knapp auf Kante genäht“. Kinder aus Familien, die auf Hartz IV angewiesen sind, könnten auf Grundlage der derzeit gewährten Regelsätze von 219 Euro für Kinder bis unter sechs Jahren, 251 Euro für Kinder bis unter 14 Jahren und 287 Euro für Jugendliche bis unter 18 Jahren nicht angemessen am sozialen Zusammenleben teilnehmen. Martens kritisierte, dass zum Beispiel bei der Berechnung der Bedarfssätze die Kosten für Mobilität nicht einbezogen worden seien. „Doch wissen wir, dass rund 60 Prozent der betroffenen Kinder im Umland von Städten oder in ländlichen Gebieten leben“, sagte er.

In der Praxis bedeute dies Kosten, die nicht einfach aufzufangen seien. Der Experte stellte fest, dass Familien, die Hartz IV beziehen, im Regelfall lange auf Unterstützung angewiesen sind. „Der Regelsatz ist kein Überbrückungsgeld, sondern wird für viele Jahre bezogen.“ Insofern sei die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen der Unterstützung von besonderer Bedeutung für die betroffenen Kinder, weil es sich nicht nur um eine kurze Zeit, sondern unter Umständen um eine ganz Entwicklungsphase handeln könne. Deshalb schlug Martens vor, die Regelsätze für Kinder nach seinen Berechnungen um acht bis neuen Prozent zu erhöhen.

„Sachleistungen sind verfassungsrechtlich zulässig“

Expertin Prof. Dr. Anne Lenze von der Hochschule Darmstadt äußerte sich über das von der Bundesregierung aufgelegte Bildungs- und Teilhabepaket, das durch Sachleistungen als Ersatz für Geldzahlungen im Regelsatz dem Bedarf nach Bildung und Persönlichkeitsentwicklung gerecht werden soll. Sie stellte fest, dass diese Methode „verfassungsrechtlich zulässig“ sei.

Doch sah sie darin auch den Ursprung einer neuen Gerechtigkeitslücke begründet, denn im Zuge der Einführung des Teilhabepaketes seien vorher ausgezahlte Geldmittel aus dem Regelbedarf in die Sachleistungen überführt worden. „Nur werden die Sachleistungen von rund 50 Prozent der betroffenen Familien abgerufen“, sagte Lenze. Zudem könnten viele Familien die für die kulturelle Entfaltung vorgesehenen Leistungen nicht in Anspruch nehmen, weil es in ihrem Umfeld keine entsprechenden Angebote gebe.

„Persönlichkeitsrechte selbstständig wahrnehmen“

Teilhabe gelinge also nur in den Fällen, wo entsprechende Angebote bestehen würden — also zum Beispiel Vereine existieren, die entsprechende Gutscheine einlösen. „Wo kein Angebot ist, besteht kein Anspruch auf Teilhabe“, kritisierte sie einen dadurch entstehenden Widerspruch. Außerdem würde auf diese Weise Jugendlichen Geld entzogen, auf das sie keinen Zugriff mehr hätten. „Ältere Jugendliche wollen unter Umständen ihre Persönlichkeitsrechte selbstständig wahrnehmen und nicht in einem Verein.“

Rechtlich hielt Lenze das für bedenklich, denn es gebe einerseits durch das Teilhabepaket einen festgestellten Bedarf, der aber nur durch institutionelle Organisationsformen wie zum Beispiel Sportvereine gedeckt würde. Das tangiert nach Auffassung von Anne Lenze das im Grundgesetz festgeschriebene Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit.   

„Gutscheine sind mit einem Stigma behaftet“

In der Diskussion mit den Kiko-Mitgliedern riet Lenze von der Gewährung reiner Sachleistungen zur Verbesserung der Situation von Kindern in Hartz IV ab. „Für Kinder ist es wichtig, mit anderen mitzuhalten“, sagte sie. Gutscheine seien mit einem Stigma behaftet. Doch wie garantiert werden könne, dass ausgezahltes Geld wirklich die Kinder erreicht, blieb strittig.

Nach Auskunft von Rudolf Martens leben derzeit rund zwei Millionen Kinder und Jugendliche im „SGB-II-System“, erhalten also Hartz IV. Eine Antwort, wie die Lebensverhältnisse von Kindern verbessert werden können, bot Anne Lenze an: „Die Schule kann zur stigmafreien Zone umgestaltet werden.“ Ganztagsschulen können ihrer Meinung nach kulturelle und bildungsfördernde Angebote machen, die unabhängig von Geld- oder Sachleistungen allen Kindern gleichermaßen angeboten werden und sie teilhaben lassen. (eis)

Liste der geladenen Sachverständigen

Prof. Dr. Anne Lenze, Hochschule Darmstadt
Dr. Rudolf Martens, Gesamtverband des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes

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