Vor 15 Jahren: Bewährungsprobe an der Oder
Vor 15 Jahren — Ausnahmezustand entlang der Oder: Im Sommer 1997 bedroht das bis dahin größte bekannte Oderhochwasser die Flussregion. Das Tiefdruckgebiet „Xolska“ hatte in den tschechischen und polnischen Gebirgsregionen sintflutartige Niederschläge verursacht. In den Beskiden, einem Gebirgszug im Nordosten Tschechiens, waren bis zu 586 Liter Regen pro Quadratmeter gefallen. Der heftige Dauerregen hat die Pegelstände der Oder auf Rekordhöhen ansteigen lassen. In Tschechien sind etwa ein Drittel des Staatsgebietes und in Polen weite Teile Südpolens überflutet; Tausende Menschen sind obdachlos und bereits 39 gestorben, als die Flutwelle am 17. Juli 1997 Brandenburg erreicht.
Größter ziviler Katastropheneinsatz
Der Pegelstand der Oder liegt 3,50 Meter über den Normalwerten und steigt weiter. Anhaltende Regenfälle in Deutschland haben die Deiche aufgeweicht. Es gibt zwölf große Schadstellen. An Hunderten Stellen sickert das Wasser durch. Vier Wochen kämpfen Anwohner und Katastrophenschutz gegen die Wassermassen. Die außergewöhnliche Höhe des Hochwassers und die extrem lange Dauer der hohen Wasserstände erfordern einen enorm hohen Einsatz von Kräften, Material und Technik.
Fast 50.000 Helfer, darunter 30.000 Bundeswehrsoldaten, sind rund um die Uhr im Einsatz. Gemeinsam mit Bundesgrenzschutz, Polizei, Feuerwehren, Technischem Hilfswerk, Hilfsorganisationen und freiwilligen Helfern verbauen sie 8,5 Millionen Sandsäcke, fünf Kilometer Folie, 66.000 Quadratmeter Vlies und 200.000 Reisigbündel. Zahlreiche Hubschrauber, Lkw, Räumgeräte, Busse und Feuerwehrfahrzeuge sind im Einsatz. Es ist der bis dahin größte zivile Katastropheneinsatz Deutschlands.
Gefahr für das Oderbruch
Trotz aller Anstrengungen bricht am 23. Juli bei Brieskow-Finkenherd der Deich. Einen Tag später bricht neun Kilometer flussaufwärts der Deich bei Aurith. Rund 6.000 Hektar der Ziltendorfer Niederung, einer Tiefebene südlich von Frankfurt (Oder), stehen unter Wasser, darunter die Ortschaft Aurith und die Ernst-Thälmann-Siedlung. 2.000 Menschen konnten rechtzeitig evakuiert werden.
Flussabwärts droht der Deich bei Hohenwutzen den Wassermassen nicht standhalten zu können. Der Druck der Wassermassen auf den Damm ist hier besonders hoch, da die Oder an dieser Stelle einen Knick macht. Bricht hier der Deich, ist das ganze Oderbruch, ein Landstrich im äußersten Osten Deutschlands, in vier bis fünf Stunden überflutet. Fast 20.000 Menschen sind in Gefahr.
Das Wunder von Hohenwutzen
Der Gemüsegarten Berlins, vor 250 Jahren von Friedrich dem Großen trockengelegt, droht im Jubiläumsjahr in den Wassermassen zu versinken. An mehreren Stellen ist der Deich bereits abgerutscht. Häuser werden geräumt, Tiere evakuiert. Bundeswehrhubschrauber bringen Sandsäcke im Minutentakt. Einsatzkräfte der Bundeswehr stabilisieren damit die Schadstellen. Taucher dichten die aufgeweichten Deiche mit Folien ab. Unter großen Anstrengungen aller Einsatzkräfte gelingt das „Wunder von Hohenwutzen“. Ab dem 4. August beginnt sich die Lage etwas zu entspannen, die Pegelstände sinken.
Anteilnahme und Solidarität im Land sind überwältigend. Der Wasserflut folgt eine beispiellose Spendenflut. Die größte Rettungsaktion seit der Hamburger Flutkatastrophe 1962 läuft auf Hochtouren. Millionenschäden in der Landwirtschaft, ruinierte Häuser. Aber anders als in Polen und Tschechien verliert niemand sein Leben.
Sondersitzung des Bundestages
Trotz parlamentarischer Sommerpause kommt der Bundestag am Dienstag, 5. August 1997, in Bonn zu einer Sondersitzung zusammen, um den Menschen im Hochwassergebiet in der Oderregion seine Verbundenheit auszusprechen und weitere Unterstützungen zuzusagen. Einstimmig verabschieden die Abgeordneten einen entsprechenden gemeinsamen Entschließungsantrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. (13/8341).
Darin würdigt das Parlament den Einsatz der zahlreichen Helfer und Unterstützer. Die Abgeordneten begrüßen die Sofortprogramme der Bundesregierung und unterstreichen die Notwendigkeit weiterer Unterstützung zur Beseitigung der Hochwasserschäden und zur anstehenden Sanierung und Wiederherstellung der Infrastruktur.
Umdenken im Hochwasserschutz
Die Flutkatastrophe führt aber auch zu einem Umdenken im Hochwasserschutz. Ufergebiete müssen wieder natürlicher werden, Kanalisierungen verhindert werden, Überflutungsgebiete müssen mehr Platz finden, fordert nicht nur die Bündnis 90/Die Grünen-Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig. Doch nicht nur Regenmassen und immer kleiner werdende Überflutungsgebiete, sondern auch Industrialisierung und Vernichtung von Waldgebieten am Oberlauf des Flusses haben die Katastrophe begünstigt.
Der Boden kann die Wassermassen nicht mehr zurückhalten, und die Fließgeschwindigkeit der Oder hat sich dadurch erhöht. Die Katastrophe betrifft Polen, Tschechien und Deutschland. Es braucht ein grenzüberschreitendes Gesamtkonzept für den Oderraum, lautet daher die einstimmige Forderung aller Parlamentarier.
„Wir müssen den Flüssen ihren Raum lassen“
Forderungen, die Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl (CDU) unterstreicht: „Wir müssen den Flüssen ihren Raum lassen. Sie holen ihn sich sonst — mit schlimmen Folgen für die betroffenen Menschen — zurück.“ Und weiter: „Meine Damen und Herren, die schlimme Erfahrung der Hochwasserkatastrophe an der Oder muss ein Anlass sein, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit an diesem Fluss zu vertiefen.“
Auch der Bundeskanzler betont in seiner Regierungserklärung die Verbundenheit mit den Hochwasserbetroffenen: „Dies ist die größte Naturkatastrophe, die das wiedervereinigte Deutschland getroffen hat.“ Den betroffenen Menschen beizustehen „ist ein dringendes Gebot der Solidarität und eine nationale Aufgabe, der wir alle verpflichtet sind“. In seiner Ansprache verweist Kohl auch auf die vielen Zeichen der Solidarität. „Die Not der Betroffenen bewegt die Herzen überall in unserem Land.“ Auf eindringliche Weise werde deutlich, „wie sehr sich die Menschen in Deutschland als Gemeinschaft verstehen können, wenn es darauf ankommt“.
Wiederaufbau als nationale Aufgabe
Dankbar für das vorbildliche Zusammenwirken amtlicher Einsatzkräfte, vieler Freiwilliger aus der Region und zahlreicher Helfer aus ganz Deutschland sowie für die Verbundenheit und Unterstützung zeigt sich auch Brandenburgs Ministerpräsiden Dr. Manfred Stolpe (SPD). „Diese Bundestagssitzung setzt ein Zeichen der Hoffnung. Bundestag und Bundesregierung bestätigen den Wiederaufbau der Oderregion als nationale Aufgabe; denn Brandenburg allein wäre hiermit völlig überfordert.“
Stolpe weiter: „Die Menschen rücken im Kampf gegen die Naturgewalten zusammen. Ossis und Wessis erleben angesichts der existenziellen Herausforderung, dass sie zusammengehören. An den Deichen der Oder hat die deutsche Nation im Jahre sieben der Einheit ihre Bewährungsprobe bestanden.“ Als Schlussfolgerung aus der Katastrophe fordert auch er, dass es gemeinsam mit Polen, Tschechien und der Europäischen Union ein Europaprojekt „Lebensraum Oder“ geben sollte, in dem es um den Schutz der Menschen, einen sinnvollen Umgang mit der Natur und wirtschaftliche Existenzgrundlagen geht. (klz)