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Inneres

„Im demografischen Wandel stecken auch Chancen“

Bernschneider (li) und Münterfering

(© DBT/Melde)

Eine bundesweit einheitliche Definition der vom demografischen Wandel besonders betroffenen Regionen und Formen des solidarischen Ausgleich fordert der SPD-Abgeordnete Franz Müntefering in einem Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ zum Thema „Demografischer Wandel — Zukunft in der alternden Gesellschaft“, das am Montag, 6. August 2012, erschienen ist. Interviewpartner war neben dem 72-jährigen Müntefering, der dem Bundestag seit 1975 angehört, auch Florian Bernschneider (FDP). Der 25-Jährige ist der jüngste Abgeordnete im Bundestag und gehört ihm seit 2009 an. Bernschneider wünscht sich, nicht über straffe, sondern dem Einzelfall angemessene Grenzen für den Renteneintritt und über höhere Zuverdienstgrenzen für Rentner zu diskutieren. Das Interview im Wortlaut:


2030 sollen mehr als 22 Millionen Bundesbürger 65 oder älter sein. Eine demografische Katastrophe?

Müntefering: Das ist keine Katastrophe. Der demografische Wandel hat viele Aspekte und auch viele Chancen. Zum Beispiel, dass junge Menschen größere Möglichkeiten am Arbeitsmarkt haben. Das Schlimme an der Jahreszahl 2030 ist, dass das Ende dann noch nicht erreicht sein wird. Die Bundesregierung macht sich etwas vor, wenn sie die Zahlen für 2030 für entscheidend erklärt. Die Zahl der Menschen über 65 wird weiter steigen. Sie wird 2050 bei einem Drittel der Bevölkerung liegen.

Bernschneider: Von einer Katastrophe würde ich auch nicht sprechen. Aber die Zahlen — ob nun 2030 oder darüber hinaus — machen die Herausforderung deutlich, vor der wir stehen. Trotzdem sollte man nicht in Schwarzmalerei verfallen. Im demografischen Wandel stecken auch jede Menge Chancen, die man bei all den sicherlich auch schwierigen Herausforderungen nicht aus den Augen verlieren sollte.

Herr Müntefering hat seinerzeit die Rente mit 67 durchs Parlament gebracht. Herr Bernschneider, war das rückblickend betrachtet eine Maßnahme zur Zukunftssicherung? Oder doch eher eine schnöde Rentenkürzung?

Bernschneider: Ohne Einzelmaßnahmen bewerten zu wollen, denke ich, dass die Agenda 2010 insgesamt richtige Schlussfolgerungen auch im Sinne des demografischen Wandels hat. Unsere Gesellschaft wird älter und bleibt dabei fit. Deswegen ist es gerade im Sinne zukünftiger Generationen notwendig, diesen Prozess bei der Alterssicherung zu berücksichtigen. Als Liberaler würde ich mir trotzdem wünschen, dass wir nicht über straffe, sondern dem Einzelfall angemessene Grenzen für den Renteneintritt diskutieren. Ein Weg, hier zu mehr Flexibilität zu kommen, sind höhere Zuverdienstgrenzen für Rentner. Schade ist allerdings, dass sich die SPD nach den richtigen Ansätzen der Agenda 2010 mehrheitlich von diesen Notwendigkeiten einer demografiesicheren Altersvorsorge verabschiedet hat.

Müntefering: Nein, nein, mal langsam. Klar ist: Die SPD verabschiedet sich nicht von der Rente mit 67. Sie sagt nur, dass es im Moment schwierig ist, damit zu beginnen, weil zu viele Ältere derzeit gar keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Was das starre Renteneintrittsalter angeht: Früher gab es das nicht, da arbeitete jeder so lange wie er konnte, im Familienverbund und auf dem Hof. Erst mit der Rentenversicherung ist das heutige System entstanden. In einem starren Renteneintrittsalter liegt immer auch ein Stück Willkür.

Herr Bernschneider, Sie haben eben von „Chancen“ gesprochen, die der demografische Wandel bietet. Welche sollen das sein?

Bernschneider: Solche Chancen bieten sich beispielsweise im bürgerschaftlichen Engagement, wo junge und ältere Menschen gegenseitig Verantwortung füreinander übernehmen und ihre Erfahrungen und Talente so einbringen, dass jeweils die andere Generation davon profitiert. Aber auch im Bildungsbereich geben uns sinkende Schülerzahlen zum Beispiel die Chance, mit den bestehenden Mitteln pro Schüler — also der demografischen Rendite — noch mehr zu erreichen.

Herr Müntefering, Sie haben einen Demografiepakt zwischen Bund, Ländern und Kommunen vorgeschlagen. Wer soll den bezahlen?

Müntefering: Wir brauchen eine bundesweit einheitliche Definition der vom demografischen Wandel besonders betroffenen Regionen. Und wir müssen Formen des solidarischen Ausgleichs finden. Das nützt allen, dem ganzen Land.

Ein zweiter Länderfinanzausgleich?

Müntefering: Es wird Regionen geben, die dramatisch verfallen, weil sie in den nächsten 20, 30 Jahren die Hälfte ihrer Bevölkerung verlieren. Bleiben werden dort vor allem Alte. Auf der anderen Seite stehen Metropolregionen. Dort gibt es im Zentrum kaum bezahlbare Wohnungen und einen akuten Mangel an Menschen, die Kinder erziehen und alte Menschen pflegen. Man kann das Ganze ausbalancieren, das ist meine feste Überzeugung.

Aber eine Demografie-Abgabe, so wie aus der Union gefordert, lehnen Sie beide ab —auch Sie, Herrn Bernschneider?

Bernschneider: Ja, weil man den Herausforderungen des demografischen Wandels nicht einfach mit Einnahmeerhöhungen zum Erhalt bisheriger Systeme gerecht wird, sondern tatsächlich über Strukturveränderungen sprechen muss. Neben der Rente geht es auch um andere Sicherungssysteme wie der Gesundheitsvorsorge, bei der wir nicht nur eine nachhaltige Finanzierung, sondern auch die Versorgung im ländlichen Bereich angepackt haben. Gerade in bevölkerungsschwachen Gegenden sind aber neben der Politik auch neue Versorgungskonzepte der Privatwirtschaft gefragt. Hier ist bereits einiges in Bewegung. Insgesamt sind es also große strukturelle Aufgaben, aber auch viele kleine Dinge, die Politik einbringen muss.

Wie sehen diese Maßnahmen aus?

Bernschneider: Im Kleinen sehen solche Maßnahmen wie der Bundesfreiwilligendienst aus. Wir haben immer mehr Ältere, die sich engagieren wollen. Also lasst uns doch dafür sorgen, dass es dafür die Gelegenheit gibt! Kaum jemand hat gedacht, dass Ältere überhaupt bereit sind, sich für ein kleines Taschengeld zu engagieren. Und heute zeigt sich: Jeder fünfte von den „Bundesfreiwilligendienstlern“ ist über 60.

Müntefering: Ein Nein zur Demografie-Abgabe, ein Ja zur Stabilität in den sozialen Sicherungssystemen. Es stimmt: Die Bereitschaft der Menschen, sich zu engagieren, ist da, in vielfältiger Weise. Wir lernen im Augenblick, wie es sich mit einer großen Gemeinschaft älterer Menschen lebt. Aber ganz wichtig ist, dass die Familien und die Jungen nicht aus dem Blick geraten. Denn was wir heute in Bildung, Ausbildung und Qualifizierung, auch in Forschung und Entwicklung investieren, das ist die Altersvorsorge für morgen und übermorgen. Löhne, Gehälter und Renten hängen in Deutschland ganz eng zusammen. Gute Löhne, gute Renten. Das System muss stabil bleiben.

In vielen Berufen entscheiden sich junge Menschen lieber für eine Auslandskarriere, weil die Arbeitsbedingungen dort besser sind. Fehlt es an Initiativen, um etwa junge Ärzte in Deutschland zu halten?

Bernschneider: Man muss die richtigen Anreize setzen, dass bei uns benötigte Arbeitskräfte nicht abwandern. Dazu gehört es, in der Forschung und Wissenschaft starre und unattraktive Gehaltssysteme aufzubrechen. Insgesamt sollte man aber die internationale Flexibilität der Arbeitsmärkte nicht in Frage stellen. Für meine Generation ist die Chance, in ganz Europa arbeiten zu können, ein hohes Gut. Einen Teil seiner beruflichen Karriere auch im Ausland zu verbringen, ist eine von vielen Optionen in bunter werdenden Erwerbsbiografien. Die Zeiten unserer Großeltern, die in dem Betrieb in Rente gegangen sind, in dem sie ausgebildet wurden, sind vorbei.

Und in Zukunft…

Bernschneider: …wird sich das noch weiter verändern. Unsere sozialen Sicherungssysteme sind allerdings noch größtenteils für lange Beschäftigungsverhältnisse in einem Betrieb ausgelegt. Wenn jetzt vermehrt über Lebensarbeitszeitkonten nachgedacht wird, bringt das beispielsweise diese notwendige zusätzliche Flexibilität.

Müntefering: Internationalität: Ja! Im vergangenen Jahr sind 40.000 junge, türkischstämmige Menschen nach Abitur und Studium zurück in die Türkei gegangen. Ich finde das gut. Eines Tages wird in den Geschichtsbüchern stehen: In Deutschland lebten Millionen Menschen, die eng mit zwei Kulturen vertraut waren, Türken oder beispielsweise auch Russen. Diese Internationalität dürfen wir uns nicht kaputtmachen lassen. Wir müssen die jungen, guten Leute ordentlich bezahlen und versuchen, sie im Land zu halten. Wenn sie aber trotzdem gehen wollen, ist das auch in Ordnung, weil jeder von ihnen ein deutscher Botschafter im Ausland ist.

Lange Zeit haben die Unternehmer auf junge Arbeitskräfte gesetzt. Beschäftigte über 50 Jahre zählten zum alten Eisen und wurden nach Kräften durch Jüngere ersetzt. Augenscheinlich hat sich dieser Trend gewandelt.

Müntefering: Es ist Bewegung da, das ist richtig. Die Menschen werden nicht mehr so früh verrentet, die allermeisten werden im Beruf 58, 60, 63, und ich bin sicher, das geht auch auf 65, und 67 Jahre zu. Das Problem ist nur: Wenn man 50 Jahre und älter ist und dann arbeitslos wird, hat man auf dem Arbeitsmarkt kaum noch Chancen. Deshalb bleibt mein Appell an die Unternehmen: Guckt euch bei den Älteren um, gebt denen eine Chance. Der Dachdecker, der mir dann immer entgegengehalten wird, kann tatsächlich mit 67 nicht mehr aufs Dach. Nur: Das konnte der mit 65 auch schon nicht mehr, irgendwann ist halt Schluss. Aber vielleicht ist genau dieser Dachdecker ja der Richtige, um in den Haushalten Kundenbetreuung zu machen.

Bernschneider: Die Betriebe haben doch im demografischen Wandel gar keine andere Wahl, als auf ältere Arbeitnehmer zurückzugreifen; und das zum eigenen Vorteil. Die Mischung macht's: In Geschlecht und Altersstruktur gemischte Teams sind immer im Vorteil. Und eines ist ebenfalls nicht zu unterschätzen: Was junge Menschen heute an Bildung mitbringen, ist wesentlich weniger wert als das, was zu den Zeiten von Herrn Müntefering in der Ausbildung gelernt worden ist, weil die technische Entwicklung schneller vorangeht und damit erworbenes Wissen auch schneller an Wert verliert. Deswegen müssen wir auch aufhören zu denken, man könne mit dem Wissen der Jugend sein Leben lang arbeiten. Lernen ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Lebensaufgabe.

Müntefering: Ganz richtig, und da sind wir ein Entwicklungsland. Das haben wir alle mit zu verantworten. Uns fehlt das Bewusstsein, dass es ganz normal ist, weiterzulernen, sich zu entwickeln, auch einen Berufswechsel nicht auszuschließen. Aber: Wenn du Fußball spielst und du bist 35, dann sagen alle: „Jetzt ist auch mal gut.“ Dann machst du eben etwas anderes. Warum soll das denn in anderen Berufen nicht gehen?

Wie gehen denn Ihre beiden Fraktionen mit Ihrem Alter um?

Bernschneider: Ich merke im parlamentarischen Alltag nicht mehr, dass ich der jüngste Abgeordnete bin. Man wird weder weniger ernst genommen noch hat man so etwas wie Welpenschutz. Das ist auch richtig so, schließlich zählt die Stimme eines 25-Jährigen bei der Abstimmung genauso viel wie die Stimme eines 65-Jährigen. Die FDP-Fraktion hatte am Wahltag 17 Abgeordnete der Jungen Liberalen, also alle unter 35 Jahren. Das waren 17 von 93. Das ist schon ein schlagkräftiges Netzwerk, das sich da gebildet hat. Wenn wir jungen Abgeordneten uns zusammenschließen und sagen, das ist ein Thema, das uns bewegt, dann hat das auch Gewicht in der Fraktion.

Müntefering: Ich habe in meiner alten Zeit im Willy-Brandt-Haus bei zwei Wahlen die Parole herausgegeben: „30 unter 40“, also 30 SPD-Abgeordnete unter 40 Jahren. Das ist auch gut gelungen. Den Jungen muss man die Chance geben, weil wir Impulse und Innovation brauchen. Ich bin 72. Ich habe nicht Recht, weil ich 72 bin, auch nicht Unrecht, weil ich 72 bin. Genauso verhält es sich bei einem 27-Jährigen. Man kann vom Alter nicht ableiten: Ich gehöre an die Spitze. Wenn man in der dritten oder vierten Reihe sitzt und ab und zu mal für fünf Minuten als Joker eingewechselt wird, ist das völlig in Ordnung. Zugegeben: Das muss man auch ein bisschen lernen.

Klingt nach altem Zirkuspferd: Das läuft etwas langsamer als früher, aber kennt dafür den Weg in der Manege ganz genau.

Müntefering: Vor allem kennt es alle möglichen Abkürzungen.

Wie lange werden Sie jeweils noch in der Politik bleiben?

Bernschneider: Ich will zur Bundestagswahl 2013 wieder antreten. Ob ich gewählt werde, entscheidet dann der Wähler, schließlich hat hier niemand ein Dauerticket. Trotzdem kann ich mir heute nicht vorstellen, wie Wolfgang Schäuble...

Müntefering: ...Wolfgang Schäuble ist 1972 in den Bundestag gekommen, ich 1975...

Bernschneider: ... okay, da muss ich ehrlich sagen: So gerne ich diese Arbeit auch mache, kann ich mir heute nicht vorstellen, 40 Jahre im Bundestag zu sitzen. Dazu gibt es zu viele Bereiche außerhalb der Politik, die ich auch spannend finde.

Müntefering: Ich war ja vorher schon 21 Jahre Industriekaufmann, ich habe mehrere Leben hinter mir. Im Moment fragen alle: Kandidieren Sie eigentlich bei der Bundestagswahl 2013 wieder? Dann sage ich: Das weiß kein Mensch — außer vielleicht ich.    

(jbi/ver)

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