Kontroverse um die Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt
Eine Kontroverse über die Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt hat am Montag, 15. Oktober 2012, den Auftakt einer Anhörung der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ unter Vorsitz von Daniela Kolbe (SPD) bestimmt. Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), und der von der FDP benannte Sachverständige Karl-Heinz Paqué zeichneten angesichts steigender Beschäftigtenzahlen und eines sich abzeichnenden Fachkräftemangels für die Zukunft ein insgesamt optimistisches Bild. Der von der SPD in das Bundestagsgremium berufene Experte Dietmar Hexel vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) verwies hingegen auf die sich hartnäckig haltende Langzeiterwerbslosigkeit sowie auf die erst anlaufende Digitalisierung der Verwaltung und des Wissenssektors, wodurch in einem neuen Schub vor allem einfache Jobs in hohem Maße wegzufallen drohten.
Die emeritierte Bremer Wirtschaftsprofessorin Dr. Adelheid Biesecker forderte, die häufig aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzte oder schlecht bezahlte „Sorgearbeit“, die vorwiegend von Frauen geleistet werde, stärker in den Blick zu nehmen und aufzuwerten: „Diese Tätigkeiten tragen viel zu Wohlstand und Lebensqualität bei.“
„Zeichen stehen wieder auf Expansion“
Paqué warnte davor, die negativen Trends auf dem Arbeitsmarkt in den zurückliegenden Jahrzehnten einfach fortzuschreiben: „In der Zukunft stehen die Zeichen wieder auf Expansion“, jedenfalls in Deutschland und anderen industriellen Kernländern Westeuropas. Der Sachverständige begründete diese positive Prognose vor allem mit dem Hinweis auf den demografischen Wandel, der von 2020 an zu einer spürbaren Verknappung des Arbeitskräfteangebots führen werde, was besonders auf Fachkräfte zutreffe. Paqué rechnet damit, dass es auch wieder zu einem spürbaren Lohnanstieg kommen wird.
Hüther sprach von einem „Höchststand bei der Beschäftigung“. Die Erwerbstätigenquote erhöhe sich, was auch für Frauen gelte. Um die Berufstätigkeit von Frauen zu fördern, müsse die soziale Infrastruktur weiter ausgebaut werden. Bei sozialversicherungspflichtigen Stellen sei seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts eine Stabilisierung zu beobachten, so der IW-Direktor. Der Niedriglohnsektor habe sich zwar im Lauf der Zeit ausgedehnt, die Quote solcher Jobs am Arbeitsmarkt bleibe aber mittlerweile bei etwa 20 Prozent stabil.
„Druck zur Höherqualifizierung der Arbeit“
Auch gehe die Teilzeitarbeit, die in den meisten Fällen dem Wunsch dieser Beschäftigten entspreche, nicht zulasten der Vollzeitarbeit, sagte der Professor. Insgesamt hätten „Globalisierung und technischer Fortschritt nicht dazu geführt, dass uns die Arbeit ausgegangen ist“, meinte Hüther. Allerdings wachse der Druck zur Höherqualifizierung der Arbeit.
Hexel betonte negative Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt. So müssten inzwischen acht Millionen Erwerbstätige im Niedriglohnsektor arbeiten. Zeitarbeit könne zwar als Flexibilisierungsinstrument zum Austarieren von Auftragsschwankungen sinnvoll sein, erklärte der Gewerkschafter, doch sei es nicht hinzunehmen, dass Leihkräfte 30 Prozent weniger verdienten als Stammbelegschaften. Hexel kritisierte Mängel bei der Umschulung und Fortbildung, die einem Abbau der Erwerbslosigkeit entgegenstünden.
„Transnationale Sorgeketten“
Aus Sicht Bieseckers wird eine existenzsichernde Erwerbsarbeit im produzierenden Sektor immer knapper – eine Entwicklung, die durch die wachsende Dienstleistungsbranche nicht automatisch ausgeglichen werde. Auch als Folge der globalen Standortkonkurrenz nehme der Trend zur „Prekarisierung“ zu, inzwischen könnten viele selbst von einer Vollzeitbeschäftigung nicht mehr leben.
Die Wissenschaftlerin verwies auf „transnationale Sorgeketten“, wodurch die überwiegend von Frauen erbrachte Sorgearbeit von ärmeren in reichere Länder verlagert werde und am Ende der Kette unversorgte Kinder und Alte zurückblieben. Sie plädierte für den Ausbau einer qualitativ hochwertigen sozialen Infrastruktur, deren Schwerpunkte bei der Kinderbetreuung und beim Zugang zur Pflege im Alter liegen sollten.
„Gesellschaftlich notwendige Arbeit“
Biesecker warb dafür, die „außermarktliche Arbeit“ wie Sorge, Eigenarbeit oder bürgerschaftliches Engagement als „gesellschaftlich notwendige Arbeit“ anzuerkennen. Unterstützt werden sollten die Gemeinwohlökonomie und die Genossenschaftsbewegung als Gegenbewegung zu den negativen Trends auf dem Arbeitsmarkt.
Die Wirtschaftsprofessorin plädierte mit Nachdruck für Arbeitszeitverkürzungen, um die Erwerbsarbeit gerechter zu verteilen. Das hohe Maß an wirtschaftlicher Produktivität ermögliche auch mehr Muße. Biesecker: „Wir müssen über Zeit nachdenken.“ (kos/15.10.2012)