„Raus aus dem Hinterzimmer, rein ins pralle Leben“
Mehr Bürgerbeteiligung bei politischen Entscheidungen fordert der SPD-Bundestagsabgeordnete und Parteivorsitzende Sigmar Gabriel. „Ich bin ein glühender Verfechter von Volksentscheiden auch auf Bundesebene“, sagt Gabriel in einem am Montag, 8. April 2013, erschienenen Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Gabriel zeigte sich davon überzeugt, dass direkte Bürgerbeteiligung die parlamentarische Demokratie nicht schwäche, sondern stärke. „Denn wenn die Abgeordneten wissen, dass grundsätzlich jedes Gesetz durch einen Volksentscheid gekippt werden kann, werden wir uns viel mehr Mühe geben, unsere Entscheidungen nicht nur im Parlament, sondern auch in der Öffentlichkeit zu begründen“, sagt Gabriel. Das Interview im Wortlaut:
Die SPD wird in diesem Jahr 150 Jahre alt. Wie bedeutend sind die historischen Wurzeln der SPD für die Gestaltung der Politik heute?
Sehr wichtig. Da ist zum einen der Stolz darauf, was Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in den vergangenen 150 Jahren alles erreicht haben: vom Frauenwahlrecht über den Acht-Stunden-Tag bis zur Ostpolitik Willy Brandts. Zum anderen die Erinnerung an den Mut von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten: Es waren die Abgeordneten der SPD, die vor 80 Jahren unter dem Fraktionsvorsitzenden Otto Wels gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt und damit die erste bürgerliche Demokratie in Deutschland verteidigt haben – während die Vorgänger der sich heute „bürgerlich“ nennenden Parteien mit Hitler gestimmt haben. Zu meinen bewegendsten Pflichten als Parteivorsitzender gehört die Ehrung von langjährigen Mitgliedern: Wenn Ihnen jemand, der seit 80 Jahren in der SPD ist, erzählt, wie er gemeinsam mit den Eltern die SPD-Fahne vor den Nazis verstecken musste und später unter der SED-Herrschaft litt – dann relativieren sich viele der alltäglichen Probleme, die wir heute so haben.
Die traditionellen Milieubindungen der Parteien haben stark abgenommen. Zwar sind in der SPD noch vergleichsweise viele Arbeiter und Gewerkschafter organisiert, sie ist aber gewiss nicht auf diese Klientel zu reduzieren. Wenn Parteien Profile verlieren, werden sie als beliebig empfunden. Wie ist damit umzugehen?
Klar, traditionelle Milieus haben sich aufgelöst. Darunter leiden alle Großorganisationen. Kirchen genauso wie Gewerkschaften oder die SPD. So groß die Probleme sein mögen, die damit verbunden sind – das ist auch ein Erfolg der Politik der SPD. Wir wollten ja immer, dass die Menschen sich frei entfalten können. Dass die Kinder einen anderen Beruf ergreifen können, als ihn ihre Eltern hatten. Dass sie nicht in der gleichen Siedlung wohnen müssen. Besonders gut kann man diese Entwicklung bei den Migrantinnen und Migranten beobachten. Die erste Generation der „Gastarbeiter“ gab ihre Stimme – wenn sie denn in Deutschland wählen durfte – ganz überwiegend der SPD. Die zweite und dritte Generation wählt im Durchschnitt ähnlich wie die deutschstämmige Bevölkerung. Das ist schade für die SPD, aber Indiz für einen großen gesellschaftlichen Erfolg: gelungene Integration.
Bei der Bundestagswahl 2009 hat Ihre Partei 23 Prozent erzielt. Wann hört eine Partei eigentlich auf, Volkspartei zu sein?
Wenn sie nicht mehr das Gemeinwohl im Blick hat, sondern sich auf Einzelinteressen konzentriert. Volkspartei zu sein, ist für mich keine Frage von Prozentpunkten, sondern von Haltung. Der Sinn der Volksparteien besteht darin, innerparteilich gesellschaftliche Konflikte zu klären: Ein Geringverdiener mit Mietwohnung hat einen anderen Blick auf den Ausbau der Fotovoltaik als ein Ingenieur aus der Ökoenergie-Branche mit Solaranlage auf dem Eigenheim-Dach. Unterschiedliche Perspektiven ernst zu nehmen und dann zu einem Interessenausgleich zu kommen, der nicht nur innerparteilich trägt, sondern auch in der Gesellschaft vermittelbar ist – das ist die hohe Kunst.
Der Erfolg der „Piraten“ hat gezeigt, dass es offenbar viele Wähler gibt, die mit den etablierten Parteien nichts mehr anzufangen wissen. Haben die „Etablierten“, hat die SPD daraus gelernt? Oder bleibt nach dem wieder zurückgehenden Zuspruch für die „Piraten“ alles, wie es war?
Die Piraten hatten einen großen Erfolg: Sie haben jedem, der es noch nicht wusste, klar gemacht, dass Parteien und Politik insgesamt sich öffnen müssen. Wir haben als SPD damit schon ein bisschen früher angefangen, lange vor den ersten Wahlerfolgen der Piraten. Wir haben 2011 eine Parteireform beschlossen, die zum einen die Rechte der Mitglieder stärkte: Wer in eine Partei eintritt, will ja mitmachen, etwas gestalten und nicht einfach Fördermitglied werden. Zum anderen haben wir uns für Nichtmitglieder geöffnet. Bestes Beispiel: Unser Bürgerdialog, an dem sich alle beteiligen konnten. Wir haben 40.000 konkrete Vorschläge bekommen und auf einem Bürgerdialog gemeinsam mit Nichtmitgliedern konkrete Projekte entwickelt, die jetzt eins zu eins in unser Regierungsprogramm übernommen werden.
Wie politisch sind junge Menschen heute noch?
Ich glaube sehr politisch. Aber die Formen des Engagements haben sich geändert. Viele junge Leute haben Scheu vor Parteien, weil sie sich nicht vereinnahmen lassen wollen. Sie arbeiten lieber in konkreten Projekten mit – sei es in der Bürgerinitiative vor Ort, bei Amnesty oder Greenpeace. Darauf müssen wir reagieren. Auch in Parteien muss es selbstverständlich sein, dass man mitmachen und mitentscheiden kann, ohne ein Parteibuch zu haben.
Erreichen die Parteien junge Menschen in ausreichendem Maße? Oder ist es vielmehr so, dass die nachwachsende Generation sich allenfalls noch punktuell engagieren will und für umfassende Parteiprogramme nicht mehr zu begeistern ist?
Ich finde, man sollte das nicht gegeneinander ausspielen. Natürlich muss sich eine Partei wie die SPD immer wieder neu über die großen politischen Themen verständigen. Aber daneben gibt es auch ganz konkrete, oft genug zeitlich begrenzte Projekte vor Ort, für die man sich engagieren kann. So bin ich übrigens vor vielen Jahren zur SPD gekommen: Damals ging es um ein Jugendzentrum in meiner Heimatstadt. Wir wollten einfach einen Ort, an dem wir uns ohne Erwachsene treffen konnten. Uns ging es damals gar nicht primär um große Politik, sondern um unsere Freizeitgestaltung. Dass das ein eminent politisches Thema ist, haben wir erst gemerkt, als wir uns mit Widerständen in der Kommunalpolitik rumschlagen mussten. Das ist das, was ich unter „Politik von unten machen“ verstehe: Die Alltagsprobleme ganz normaler Menschen kennen, und dafür Lösungen entwickeln. Das war immer die Stärke der SPD. Politik aus der Vogelperspektive, vom grünen Tisch aus, möglichst noch mit der Attitüde des Allwissendenden – das können andere besser.
Muss sich Politik stärker direkten Beteiligungsformen der Bürger zuwenden?
Auf jeden Fall. Den SPD-Bürger-Dialog hatte ich schon angesprochen. Wichtig ist, dass sowas nicht zu einer Show-Veranstaltung wird. Wir haben in der SPD auch damit begonnen, Mandatsträger nicht mehr ausschließlich parteiintern auszuwählen, sondern auf öffentlichen Veranstaltungen, bei denen jeder, der Interesse hat, auch abstimmen kann. Mehr Demokratie sollten aber nicht nur die Parteien wagen, sondern auch der Staat. Ich bin ein glühender Verfechter von Volksentscheiden auch auf Bundesebene. Das schwächt die parlamentarische Demokratie nicht, sondern stärkt sie. Denn wenn wir Abgeordneten wissen, dass grundsätzlich jedes Gesetz durch einen Volksentscheid gekippt werden kann, werden wir uns viel mehr Mühe geben, unsere Entscheidung nicht nur im Parlament, sondern auch in der Öffentlichkeit zu begründen.
Wie wird sich die Parteiendemokratie in den nächsten zehn Jahren verändern?
Die Devise muss lauten: Raus aus dem Hinterzimmer, rein ins pralle Leben. Natürlich gibt es da auch in der SPD Vorbehalte. Viele fragen: Wozu soll ich eigentlich noch Mitglied werden, wenn Nichtmitglieder fast die gleichen Rechte haben? Meine Erfahrung ist aber, dass die Öffnung der Partei unglaublich motivierend ist. Auch für altgediente Genossen macht Politik schlicht mehr Spaß, wenn man mal auf andere Leute trifft
Noch einmal zurück zum SPD-Jubiläum. Die Geschichte Ihrer Partei hat immer wieder gezeigt, dass es auch mit Mut zu tun hat, trotz Bedrohung und Sorge um die eigene Unversehrtheit konsequent zu politischen Überzeugungen zu stehen. Könnte es sein, dass Politik heutzutage als zu stromlinienförmig wahrgenommen wird?
Das wird sie ganz sicher. Politik ist in einer gefestigten Demokratie nur sehr selten heroisch. Aber ehrlich gesagt: Darüber bin ich sehr froh.
(jbi/08.04.2013)