„Die Lage der syrischen Flüchtlinge ist dramatisch“
Deutschland und die EU sollen mehr Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen, fordert Kerstin Müller (Bündnis 90/Die Grünen) vor einer Plenardebatte am Freitag, 28. Juni 2013, über den Schutz dieser Opfer des syrischen Bürgerkriegs. Bei der Auswahl von Syrern für eine Aufnahme habe nur die Schutz- und Hilfsbedürftigkeit zu zählen. Keinesfalls dürfe die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion eine Rolle spielen. Müller lehnt es ab, „dass etwa nur Christen kommen dürfen, wie es leider einige Politiker immer wieder fordern“. Das Interview im Wortlaut:
Frau Müller, wie schlimm ist die Lage?
Die Lage der Flüchtlinge, vor allem der Frauen und Kinder, ist dramatisch und spitzt sich weiter zu. Täglich flüchten etwa 4.000 Syrer ins Ausland. Laut UN sind 4,25 Millionen innerhalb Syriens auf der Flucht. 1,6 Millionen haben sich nach Jordanien, Libanon, Irak, Ägypten und der Türkei in Sicherheit gebracht. Die Binnenvertriebenen in Syrien geraten ständig zwischen die Fronten und können nicht ausreichend versorgt werden. Das Assad-Regime und die Rebellen müssen humanitäre Standards einhalten und Helfer zu den Flüchtlingen durchlassen.
Mit welchen Problemen haben die Aufnahmestaaten zu kämpfen?
Die UN rechnen damit, dass die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien bis Ende des Jahres auf bis zu 3,5 Millionen anschwellen könnte. Auf einen solchen Zustrom sind weder die Nachbarstaaten noch die UN vorbereitet. Es fehlt nicht nur an Geld und Logistik. Innerhalb der Lager regiert längst eine Kriegsökonomie. So werden etwa Mädchen und Frauen durch eine sogenannte Kurzheirat zur Prostitution gezwungen. Je länger der Krieg und das Flüchtlingsdasein andauern, desto mehr Kinder werden traumatisiert. Zudem wächst die Gefahr, dass die Aufnahmeländer innenpolitisch ins Wanken geraten. Die Rückkehr zum Frieden wird so immer schwieriger.
Deutschland engagiert sich eigentlich schon sehr stark für die syrischen Flüchtlinge, es fließt viel Geld in die Aufnahmestaaten, das Technische Hilfswerk und andere Einrichtungen sind vor Ort sehr aktiv. Kritik an mangelnder Hilfsbereitschaft kann man da wohl kaum üben.
Beim Schutz von Flüchtlingen geht es nicht allein um Hilfsbereitschaft, das ist Menschenrechtspolitik und ein wichtiger Teil ziviler Präventionspolitik. Es gilt, die fundamentalen Rechte der Flüchtlinge zu schützen und den Druck von den Nachbarländern zu nehmen, damit sie nicht immer weiter in den Sog des syrischen Bürgerkriegs geraten. Deutschland sollte sich noch mehr engagieren, etwa für jene, die mit Traumata zu kämpfen haben, für die Betreuung von Kindern oder für mehr Sicherheit in den Lagern. Aber auch die sogenannten befreiten Gebiete brauchen dringend mehr Unterstützung beim Wiederaufbau, damit Flüchtlinge zurückkehren können.
Soll die Bundesrepublik ebenfalls Flüchtlinge aufnehmen? Müsste man dies nicht auf EU-Ebene im Sinne einer fairen Lastenverteilung regeln?
Meine Fraktion fordert schon seit einem Jahr, dass Deutschland und die EU mehr Flüchtlinge aufnehmen müssen und dass EU-weit ein vollständiger Abschiebestopp zu gelten hat. Doch anstatt über eine humanitäre Offensive zu reden, spricht Innenminister Hans-Peter Friedrich mit seinen EU-Amtskollegen vor allem über Lasten und Terrorabwehr. Nur wenige Flugstunden vor unserer Haustür gibt es fast sechs Millionen Flüchtlinge, und um deren Schutz muss es vor allem gehen. Da kann die Aufnahme von 5.000 Syrern bei uns nur ein erster Schritt sein.
Nach welchen Kriterien sollen die Flüchtlinge ausgewählt werden, die in der Bundesrepublik aufgenommen werden?
Allein die Schutz- und Hilfsbedürftigkeit sollte ausschlaggebend sein, zuvörderst sind Kinder, Frauen, Alte, Kranke und Verletzte zu nennen. Eine genaue Auswahl können nur UN-Experten vor Ort treffen, die Bundesregierung sollte dann eine unbürokratische Einreise ohne Vorbedingungen ermöglichen. Keinesfalls darf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion eine Rolle spielen. Es darf nicht sein, dass etwa nur Christen kommen dürfen, wie es leider einige Politiker immer wieder fordern.
Die USA und manche EU-Staaten wollen Waffen an die Rebellen liefern. Verlängert dies nicht den Krieg mit der Folge, dass sich die Flüchtlingsströme weiter vergrößern?
Jede Verlängerung des Kriegs verlängert die Leiden der Zivilbevölkerung. Es kann nur darum gehen, den Krieg schnellstmöglich zu beenden. Bislang sind jedoch alle Versuche gescheitert, die Krise diplomatisch zu lösen, woran auch der jüngste G8-Gipfel nichts geändert hat. Warum auch sollte Assad einlenken, wenn die Russen ihn weiter stützen und Waffen liefern und der Iran sogar Kämpfer schickt? Sunnitische Länder wie Saudi-Arabien und Katar unterstützen mit Waffen die andere Seite. So wird der Konflikt zusehends zum religiösen Stellvertreterkrieg zwischen Schiiten und Sunniten. Waffen aus dem Westen heizen da den Konflikt eher an. Stattdessen sollte man prüfen, ob in den befreiten Gebieten die Einrichtung einer Schutzzone für die Zivilbevölkerung sinnvoll sein könnte.
(kos/21.06.2013)