Ostdeutsches Urgestein: Wolfgang Thierse
Dr. Wolfgang Thierse ist einer der bekanntesten Politiker Deutschlands. Er ist Sozialdemokrat und wurde mit der Wiedervereinigung 1990 Mitglied des Bundestages. Damals hatte das Parlament seinen Sitz noch in Bonn. Das ist 23 Jahre her, und Wolfgang Thierse blickt auf diese intensiven zwei Jahrzehnte mit Stolz zurück. Der Politiker, oft als Stimme für Ostdeutschland bezeichnet, setzte jetzt einen Schlusspunkt. Er kandidiert im September nicht noch einmal für den Bundestag.
„Ich werde im Oktober 70“
Wenn man ihn fragt, warum er gerade jetzt aufhört, sagt er ohne zu zögen: „Ich werde im Oktober 70, und ich finde, das ist ein guter Zeitpunkt, um aufzuhören. Jetzt vernehme ich noch Töne des Bedauerns und ernte Kopfschütteln von einigen Kollegen, weil ich nicht mehr kandidiere. Es ist ein gutes Gefühl, selbstbestimmt zu entscheiden, wann man aufhört. Ich möchte nicht warten, bis junge Politiker sich fragen: Was will der Alte noch? Wann hört er endlich auf? Es ist Zeit für einen Generationenwechsel, und es ist der richtige Zeitpunkt für mich.“
Wolfgang Thierse studierte Germanistik und Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und war in der DDR bis 1989 parteilos. Kurz nach dem Mauerfall, im Januar 1990, trat er der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP) bei. Wenige Monate später wählten ihn die Genossen zum Parteivorsitzenden.
1990 – das dramatischste Jahr seines Lebens
Auf dem Vereinigungsparteitag der Sozialdemokraten aus West und Ost wurde er am 27. September 1990 zu einem der stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt. Es gibt nicht viele Politiker, die eine solche Turbokarriere aufweisen können. Von März bis Oktober 1990 gehörte Wolfgang Thierse der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR an und wurde am 3. Oktober 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages.
Im Rückblick bezeichnet Wolfgang Thierse 1990 als das dramatischste Jahr seines Lebens. „Ich wurde quasi über Nacht in die Politik geworfen, musste in wenigen Wochen lernen, was es bedeutet, einem frei gewählten Parlament anzugehören. Wir trafen damals folgenreiche Entscheidungen, hatten eine große Verantwortung, und ich musste das alles erst begreifen lernen. Die friedliche Revolution war ein prägendes Ereignis, ebenso der Prozess der deutschen Einheit. Es waren Erfahrungen eines großen politischen und menschlichen Abenteuers. Bis heute sind diese Ereignisse, an denen ich aktiv beteiligt war, von keinem anderen Ereignis zu überbieten.“
Für Berlin als Bundeshauptstadt
Wenn Wolfgang Thierse auf sein politisches Wirken als Parlamentarier zurückblickt, fallen ihm zwei weitere herausragende Ereignisse ein, die er als Leuchttürme seiner politischen Karriere bezeichnet. Im Juni 1991 fand im Deutschen Bundestag in Bonn eine zwölfstündige Debatte zur Hauptstadtfrage statt. Sollte Bonn oder Berlin Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands werden? Dr. Norbert Blüm (CDU/CSU) hielt eine Rede pro Bonn, in der er sagte: „Lasst dem kleinen Bonn Parlament und Regierung.“
Wolfgang Thierse hielt die Einbringungsrede für den Pro–Berlin-Antrag und sagte in der Debatte: Berlin zum Ort der Repräsentation zu degradieren, sei nicht nur eine Beleidigung für die Berliner, sondern auch eine Erniedrigung der Bürger im Osten.
23 Jahre nach dieser Abstimmung freut sich Wolfgang Thierse noch immer über diese „richtige Entscheidung“: „Es war ein knappes Ergebnis, aber viele Berlin-Gegner haben in den vergangenen Jahren ihre Meinung geändert. Manche bedauern ganz offen, dass sie damals gegen Berlin gestimmt haben und sind inzwischen richtig begeistert von der Hauptstadt. Berlin ist heute eine Weltmetropole, und ich möchte mir nicht vorstellen, wo Berlin heute stehen würde, wäre die Entscheidung anders ausgefallen“, sagt der Sozialdemokrat.
Erster ostdeutscher Bundestagspräsident
Als Wolfgang Thierse nach der Bundestagswahl 1998 in der ersten konstituierenden Sitzung des Parlaments zum Präsidenten des Bundestages gewählt wurde, war dies das dritte wichtige Ereignis in seinem politischen Leben. Für den leidenschaftlichen Sozialdemokraten war es ein wichtiger Schritt zur inneren Vereinigung.
Wolfgang Thierse war der erste ostdeutsche Bundestagspräsident nach der deutschen Vereinigung. Dies hatte für ihn Symbolkraft, und er sagt: „Meine Wahl ins zweithöchste Amt des Staates empfand ich als ein Zeichen dafür, dass die Ostdeutschen in der gemeinsamen Demokratie angekommen sind. Es hat mir sehr viel bedeutet.“ Zweimal wurde Wolfgang Thierse zum Bundestagspräsidenten gewählt, zweimal wählten ihn die Abgeordneten zum Vizepräsidenten.
Abschied mit ein wenig Wehmut
Bereits im Sommer 2012 hat er den Entschluss gefasst, nicht noch einmal für den Bundestag zu kandidieren. Viele Genossen waren über die Entscheidung von Wolfgang Thierse erstaunt, einige entsetzt. Er sei doch noch so kraftvoll und die Partei brauche ihn, argumentierten einige Weggefährten. Aber sein Entschluss stand fest.
„Ich war dann fast 24 Jahre Parlamentarier, und ich war es immer mit großer Leidenschaft. Ein wenig Wehmut spüre ich schon und denke, dieses Gefühl wird stärker, je näher der Tag des Abschieds kommt. Trotzdem war meine Entscheidung absolut richtig. Jetzt bin ich noch voller Energie und freue mich auf das, was kommt“, sagt der Sozialdemokrat.
Was genau das ist, was er vorhat, darüber hat er sich bisher wenig Gedanken gemacht. Er wird seit einem Jahr immer wieder gefragt, was er im Ruhestand mache, und er gibt immer dieselbe Auskunft: „Diese Frage beantworte ich, wenn ich im Ruhestand bin, weil ich noch keine Antwort habe.“
„Ich bin noch immer leidenschaftlich Politiker“
Wolfgang Thierse sitzt in seinem Bundestagsbüro und wirkt absolut entspannt. Ob er sich im kommenden Bundestagswahlkampf noch einmal engagieren wird? Er sagt: „Ich bin noch immer leidenschaftlich Politiker, mein Engagement für Wahlkämpfe ist allerdings inzwischen etwas geringer geworden. Ganz zurückziehen werde ich mich aber nicht. Ich unterstütze gern Kollegen, die mir sympathisch sind und die mich ausdrücklich dazu einladen.“
Ob sein Nachfolger im Wahlkreis ebenso erfolgreich sein wird wie er? Thierse antwortet souverän: „Darüber entscheiden die Wählerinnen und Wähler, nicht der Vorgänger.“ Ratschläge an junge Politiker? Nein, die möchte Wolfgang Thierse nicht ungefragt geben. „Es gibt doch nichts Schlimmeres als alte Politiker, die der jungen Generation ungefragt Ratschläge erteilen wollen. Ich bin offen für junge Menschen, die mich nach meinen Erfahrungen fragen, aber das ist etwas ganz anderes. Jede Generation sollte eigene Erfahrungen machen, wenn ihre Zeit gekommen ist.“
„Ganz schnell weg vom Fenster“
Wolfgang Thierse verabschiedet sich aus dem Bundestag – aber wird ein so aktiver Politiker wirklich Privatmann? Einige Ämter wird er noch ausüben. Thierse ist weiterhin Mitglied des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken und Ehrenpräsident der Europäischen Bewegung Deutschland.
Auf die Frage, ob er seiner Partei für Veranstaltungen zur Verfügung steht, antwortet er spontan: „Ich bin überzeugt: Wenn ich ausgeschieden bin, wird das Interesse an meiner Person sehr schnell geringer werden. Ich denke, dann ist man, salopp formuliert, ganz schnell weg vom Fenster. Ich konnte es bei vielen Kollegen beobachten, die vor mir aus dem Amt geschieden sind. Es wird sehr schnell sehr ruhig, aber das ist wohl der Lauf der Dinge.“
Bücher hat er schmerzlich vermisst
Wolfgang Thierse sieht seine Zukunft gelassen. Er lebt ja in Berlin in einem der lebendigsten Stadtbezirke der Hauptstadt und wird sich künftig ganz sicher nicht langweilen. Er hat einen großen Freundeskreis, den er auch in den intensivsten Zeiten seiner politischen Arbeit nie vernachlässigt hat. Auch Museum und Theater oder Konzertbesuche sind bei Wolfgang Thierse nie zu kurz gekommen, daraus hat er Kraft geschöpft.
Ganz am Schluss fällt ihm doch noch ein, was er schmerzlich vermisst hat: Bücher. „Ich habe in den letzten 20 Jahren meine Leidenschaft für Bücher vernachlässigen müssen und viel zu wenig gelesen. Das werde ich künftig nachholen.“
Georg-Leber-Preis für Zivilcourage
Wolfgang Thierse ist am 17. Juni in Berlin für sein vorbildliches demokratisches Engagement mit dem Georg-Leber-Preis für Zivilcourage ausgezeichnet worden.
Die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt verlieh den Preis in diesem Jahr erstmals in Andenken an den SPD-Politiker und Vorsitzenden der Baugewerkschaft Georg Leber, der 2012 im Alter von 91 Jahren verstorben ist. (bsl/26.08.2013)