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Parlament

„Regelmäßige Kanzlerbefragung könnte spannend sein“

Wolfgang Thierse (SPD)

Wolfgang Thierse (SPD) (© DBT/photothek.net)

Der scheidende Bundestagsvizepräsident Dr. Wolfgang Thierse (SPD) macht sich für eine neuerliche Parlamentsreform stark. Man müsse die Bundestagsdebatten interessanter machen, sagt Thierse, der bei der Bundestagswahl im Herbst nicht mehr antritt, in einem am Montag, 5. August 2013, erschienenen Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. „Wir haben so unendlich viele Tagesordnungspunkte, noch das Unwichtigste muss im Plenum debattiert und abgestimmt werden – wir haben häufig gar nicht die Zeit dazu, und die Reden werden zu Protokoll gegeben“, beklagte er. Das sei „kein guter Parlamentarismus“. Das Interview im Wortlaut:


Herr Thierse, in der vorletzten Bundestagssitzung mussten Sie fast 90 Minuten unterbrochen Tagesordnungspunkte vorlesen und Abstimmungen vornehmen, bis ein Uhr nachts, um dann festzuhalten: „Die Tagesordnung, steht hier, ist erschöpft. Ich auch.“ Fühlen Sie sich auch mit Blick auf Ihre fast 24 Jahre als Parlamentarier manchmal erschöpft?

Manchmal ja, aber im Grundsatz nicht. Ich bin immer noch von gleicher parlamentarischer Leidenschaft wie eh und je, auch wenn ich inzwischen natürlich Routinier bin und mich nicht immer alles gleichermaßen aufregt und nicht mehr alles gleichermaßen spannend ist wie im ersten Jahr in der Volkskammer-Zeit.

Sie haben aber unlängst einen „abgrundtiefen Respektverlust“ vor demokratischen Politikern, eine grassierende „Politikerverachtung“ im Lande beklagt. Das hört sich doch ein bisschen verbittert an.

Nein, ich habe einen Vergleich gezogen mit der wunderbaren Aufbruchstimmung von 1989/90. Wenn ich damit die Stimmung von heute vergleiche, beobachte ich einen Grundton der Häme im Verhältnis der veröffentlichten Meinung zur Politik und zu Politikern, den ich für absolut unangemessen halte. Denn das Echo darauf ist eindeutig: In allen Umfragen rangieren Politiker, Parteien und auch das Parlament am untersten Ende der Skala. Das ist beunruhigend. Man muss darüber öffentlich reden, dass dieser Grundton der Häme die Stimmung im Lande auch vergiftet. Kritische Begleitung von Politik ist Aufgabe des Journalismus. Aber ebenso ist es Aufgabe des Journalismus, komplexe Entscheidungsprozesse und schwierige Sachverhalte ins Verständliche zu übersetzen. Das können die Wenigsten, dazu haben die Wenigsten Zeit, und an die Stelle dieser Übersetzung tritt dann die Verkürzung, die Personalisierung, die Skandalisierung, das Aburteilen.

Liegt das nicht zum Teil auch an Politikern, die diese komplexen Abläufe auch nicht vermitteln und oft den Eindruck erwecken, die Beschimpfung des politischen Konkurrenten sei ihnen wichtiger als die Sacharbeit?

Politiker tragen gewiss dazu bei – auch durch einen Politjargon, den ich nicht mag. Ich wünsche mir, dass die Politiker so verständlich wie möglich reden, aber sie kommen auch nicht ohne Fachsprache aus – das geht nicht. Und natürlich ist parlamentarische Demokratie auch Kampf: Kampf zwischen unterschiedlichen Meinungen, Vorschlägen und Positionen. Das gehört dazu, auch wenn es dabei fair und seriös zugehen sollte ohne persönliche Angriffe.

Sie haben sich für Verbesserungen am parlamentarischen Betrieb ausgesprochen, für eine „Kanzlerbefragung“ etwa. Was erhoffen Sie sich davon?

Wir müssen – gewiss in den Grenzen, in denen das möglich ist – die Parlamentsdebatten interessanter machen. Wir haben so unendlich viele Tagesordnungspunkte, noch das Unwichtigste muss im Plenum debattiert und abgestimmt werden – wir haben häufig gar nicht die Zeit dazu, und die Reden werden zu Protokoll gegeben. Das ist kein guter Parlamentarismus. Deshalb ist einer meiner Vorschläge, mehr erste Lesungen von nicht ganz so wichtigen Gesetzesvorhaben und Anträgen in öffentlichen Ausschusssitzungen zu verhandeln und so die Tagesordnung des Plenums zu entschlacken. Der zweite Vorschlag: Da Regierungsbefragung und Fragestunde die Erwartungen nicht erfüllen, die wir mit diesen Neuerungen vor Jahren verbunden haben, wäre es gut, wenn in gewissen Abständen – nicht jede Sitzungswoche – eine Befragung des Kanzlers, der Kanzlerin stattfinden würde. Man sieht im britischen Parlament, wie spannend das sein kann. Sowohl Regierung wie Parlament müssten sich Mühe geben, mit intelligenten Anfragen und Antworten Themen auch konfrontativ zu verhandeln. Das würde mehr Aufmerksamkeit auf das Parlament als dem Zentrum unserer Demokratie lenken.

Bei den Ausschüssen haben wir aber einen gegenteiligen Trend. Zu beobachten war in den vergangenen Jahren, dass die sich immer mehr abgekapselt haben.

Das halte ich für ganz falsch. Der Sportausschuss ist das negativste Beispiel. Der hat die Öffentlichkeit 2011 von seinen Sitzungen generell ausgeschlossen... Das war die schwarz-gelbe Mehrheit. Ich kann nur sagen, dass das dumm war. Das öffentliche Echo war entsprechend schlecht. Schon als Bundestagspräsident habe ich die Ausschüsse aufgefordert, mehr öffentliche Sitzungen zu machen – damit die Öffentlichkeit sieht, wie fleißig dieses Parlament ist.

Sie haben Ihre Zeit in der frei gewählten DDR-Volkskammer 1990 schon angesprochen – wo waren die größten Unterschiede zum Parlamentsbetrieb heute?

Der größte Unterschied ist wohl, dass wir relativ unvoreingenommen gegenüber den anderen waren. Erst in der Diskussion lernten wir uns kennen. Auch Parteifronten waren nicht so sichtbar, abgesehen von der Front gegenüber der Nachfolgepartei der SED. Aber diese Art von Offenheit, von sich einlassen und hinhören auf das Argument der anderen – die war viel größer.

Die deutsche Einheit war auch danach eines Ihrer großen Themen. Wenn Sie da eine Bilanz ziehen – wie sieht die aus?

Ein starkes Motiv, mich um einen Volkskammersitz zu bewerben, war, daran mitwirken zu wollen, dass diese Einheit vernünftig und gerecht gestaltet wird. Ich habe mich dann auch immer verstanden als leidenschaftlichen Verfechter der Interessen des schwächeren Teils der Ex-DDR und ihrer Ex-Bürger. Es ist in den gut 23 Jahren seitdem vieles passiert – wer das bestreitet, ist nicht nur blind, der ist böswillig. Aber trotzdem sind wir noch nicht fertig. Alle Daten sind eindeutig: Bei Arbeitslosigkeit, Bruttoinlandsprodukt, Produktivität, Renten, Löhnen sind immer noch Unterschiede zwischen West und Ost sichtbar. Also haben wir da noch weiterzuarbeiten. Wir haben vielleicht noch ein gutes Drittel vor uns – und die letzte Wegstrecke ist ja manchmal besonders langwierig und quälend.

Ein anderer Ihrer Schwerpunkte war der Kampf gegen Rechtsextremismus. Half dabei, dass ein Bundestagspräsident eher Gehör findet in der Öffentlichkeit?

Das habe ich ausdrücklich ausgenutzt. Als Bundestagspräsident bin ich in viele kleine, vor allem ostdeutsche Städte gereist, aus denen ich Hilfeersuchen von Initiativen erhalten hatte, die sich gegen Rechtsextremisten wehrten. Ich habe denen immer gesagt: Ich kann euch kein Geld mitbringen, aber Aufmerksamkeit. Das war wichtig – vor 15 Jahren wurde das Problem ja noch von manchen verdrängt. Diese Atmosphäre hat sich spätestens seit dem kollektiven Erschrecken über die Morde des NSU verändert. Trotzdem: Wir brauchen Kontinuität im Kampf gegen Rechtsextremismus, in der Demokratie-Arbeit, in der Aufklärungsarbeit. Schwarz-Gelb hat leider Programme gegen Rechtsextremismus immer wieder befristet. Ich halte das für einen wirklichen Fehler. Man soll solche Programme evaluieren, ganz klar, aber man darf sie nicht befristen, weil dann immer wieder Wissen und Netzwerke verloren gehen und wieder neu angefangen werden muss.

Auf was freuen Sie sich denn besonders in Ihrer „nachparlamentarischen Zeit“?

Ich habe nach 24 Jahren natürlich eine kleine Wehmut – und bin neugierig, wie es mir wirklich nach dem Oktober geht. Aber da ich mich vor der Politik nicht gelangweilt habe, bin ich der gelassenen Überzeugung, dass mir das auch nach der Politik nicht passieren wird. Und ich freue mich darauf, dass ich dann viel mehr und anderes lesen kann als während der Politiker-Zeit, denn vorher war ich ja ein professioneller Leser.

(sto/jbi/05.08.2013)

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