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Texte

Laudatio zur Verleihung des Wissenschaftspreises

Laudatio von Prof. Dr. Ute Sacksofsky, M.P.A. (Harvard) zur Verleihung des Wissenschaftspreises des Deutschen Bundestages an Friederike Lange für die Schrift „Grundrechtsbindung des Gesetzgebers. Eine rechtsvergleichende Studie zu Deutschland, Frankreich und den USA.“ (Mohr Siebeck, 2010)

Die Schrift von Friederike Lange, die mit dem Wissenschaftspreis des deutschen Bundestages für Arbeiten auf dem Gebiet des Parlamentswesens ausgezeichnet wird, beschäftigt sich mit der Grundrechtsbindung des Gesetzgebers. Damit behandelt Lange eine Grundfrage, man könnte auch sagen, ein grundlegendes Spannungsverhältnis der verfassungsstaatlichen Demokratie. Einerseits geht es um das Demokratieprinzip. Demokratie ist Herrschaft des Volkes, Demokratie beruht auf der Volkssouveränität. Daher ist das Parlament als unmittelbar vom Volk legitimierte Vertretung berufen, die zentralen Entscheidungen im Gemeinwesen zu treffen. Alle Einschränkungen des Gesetzgebers sind aus dem Blickwinkel des Demokratieprinzips problematisch. Auf der anderen Seite stehen die Grundrechte. Im Verfassungsstaat unterliegt die Herrschaft, auch die Herrschaft der Volksvertretung, rechtlichen Bindungen und Einschränkungen. Diese sind in der Verfassung, die wiederum vom Volk in freier Entscheidung beschlossen wurde, niedergelegt. Von zentraler Bedeutung sind dabei die Grundrechte. Denn die freiheitliche Demokratie erlaubt keine absolute Herrschaft, sondern verlangt den Respekt und den Schutz der Freiheit derer, die in der Minderheit sind; Grundrechte sind primär Minderheitenschutz. Zur Durchsetzung der grundrechtlichen Bindungen sind Verfassungsgerichte berufen. Das Konfliktpotential ist damit offensichtlich. Wer hat das letzte Wort: Berlin oder Karlsruhe?

I.

Natürlich ist die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers kein vollkommen neues Thema. Schon viele haben darüber nachgedacht, gestritten und geschrieben. Doch das Buch von Friederike Lange eröffnet einen neuen Blick auf überkommene Debatten.

Dies liegt zum einen daran, wie Friederike Lange Rechtswissenschaft versteht und betreibt. In der rechtswissenschaftlichen Zunft herrscht Streit darüber, ob Rechtswissenschaft primär dogmatisch oder ob sie grundlagenorientiert betrieben werden soll. Die dogmatische Herangehensweise fokussiert auf Rechtsprechungs- und Normenanalyse, systematisiert und strukturiert; Dogmatik ist wichtig, aber sie ist nicht alles und kann – selbst für Juristinnen und Juristen – manchmal ziemlich langweilig sein. Glücklicherweise reduziert Lange ihr Thema der „Grundrechtsbindung des Gesetzgebers“ darauf nicht, wobei sie freilich auch gute Dogmatik betreibt. Statt sich aber auf dogmatische Spitzfindigkeiten von Geltungsfragen, Bindungswirkung und Rechtsfiguren zu beschränken, analysiert sie Recht in seinem Kontext und seiner Entwicklung. Lange beschäftigt die Frage, „wie die Entscheidungshoheit des demokratisch legitimierten Gesetzgebers mit den Anforderungen an die Effektivität der Grundrechte versöhnt werden kann“ (S. 4). Vollkommen zu Recht untersucht sie daher nicht nur grundrechtsdogmatische Fragestellungen, sondern auch die Rolle der Institutionen, die mit Grundrechtsauslegung befasst sind. Eine Leitfrage ihrer Untersuchung ist dabei die Frage nach der verbleibenden Eigenständigkeit des Gesetzgebers.

Ein zweiter Aspekt macht die Arbeit von Friederike Lange so ertragreich. Lange untersucht die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers rechtsvergleichend am Beispiel von Deutschland, den Vereinigten Staaten und Frankreich. Diese Auswahl überzeugt. Denn die amerikanische Verfassung mit ihrer Bill of Rights und die in die französische Verfassung inkorporierte Menschenrechtserklärung von 1789 stellen Marksteine, man könnte auch sagen das Fundament, der Grundrechtsentwicklung dar. Im Hinblick auf die rechtliche Durchsetzung der Grundrechte unterscheiden sich freilich der US-amerikanische und der französische Weg gravierend. Der U.S. Supreme Court hat in seiner berühmten Entscheidung Marbury v. Madison aus dem Jahr 1803 zum ersten Mal in Anspruch genommen, dass auch der Gesetzgeber verfassungsgerichtlicher Kontrolle unterliegt. In Frankreich hingegen ist eine echte Verfassungsgerichtsbarkeit trotz der frühen Menschenrechtsdeklaration eine relativ neue Institution. USA, Frankreich und Deutschland stellen also unterschiedliche Modelle einer verfassungsstaatlichen Demokratie dar, die sich sowohl in der zeitlichen Dimension als auch von ihrem institutionellen Gefüge her, erheblich unterscheiden, aber dennoch mit vergleichbaren Problemen konfrontiert sind. Ein Vergleich kann daher Einsichten fördern, die dem allein im nationalen Diskurs Verhafteten entgehen können – eine „produktive Irritation“, wie Lange dies im Anschluss an Möllers/Voßkuhle nennt.

Lange betreibt Rechtsvergleichung auf höchstem Niveau. Häufig folgen rechtsvergleichende Arbeiten dem einfachgestrickten Schema: Situation in Land A, Situation in Land B, Situation in Land C, Vergleich. Lange hat ihre Thematik dagegen voll durchdrungen, was zu wechselnden Strukturierungen führt. Je nachdem, wie es für den jeweiligen Problemzusammenhang angezeigt ist, beginnt sie mit unterschiedlichen Ländern oder fasst sie zusammen. Das erhöht den Reiz und die Lesbarkeit erheblich. Zudem beschreibt Lange nicht nur „die Rechtslage“ als Gemengelage von Normen und wichtigen Gerichtsentscheidungen, sondern analysiert auch die Diskussionen in der verfassungsrechtlichen und verfassungstheoretischen Literatur, so dass auch neuere Strömungen und Ansätze Berücksichtigung finden.

II.

Um einen etwas genaueren Eindruck des Inhalts des Buches zu vermitteln, eine kurze Skizze. Das Buch besteht aus drei großen Teilen. Im ersten Hauptteil beschäftigt sich Lange mit Grundlagen und Begriffsklärungen. Zunächst beschreibt sie die Basis, die zentralen verfassungshistorischen Entwicklungsschritte in den einzelnen Ländern. Besonders interessant ist dabei ihre Darstellung der verschiedenen Akteure bei der Durchsetzung der Grundrechtsbindung. Sie fokussiert nicht allein auf die Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern nimmt auch die anderen Akteure im Verfassungsleben, wie etwa Parlament, Präsident oder Bürgerinnen und Bürger, in den Blick.

Der zweite Hauptteil ist der Eigenständigkeit des Gesetzgebers gewidmet. Dabei zeichnet Lange die unterschiedlichen Debatten in den jeweiligen Ländern zur Rolle des Gesetzgebers bei der Verfassungsinterpretation sowie um den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum nach. Besonderes Augenmerk widmet sie auch dem – in Deutschland relativ wenig ausgearbeiteten – Grundrechtsschutz im Gesetzgebungsverfahren; hier ist beispielsweise ein Ort, in dem sich aus der Rechtsvergleichung Anregungen für die deutsche Diskussion gewinnen lassen.

Im dritten Hauptteil schließlich widmet sie sich verschiedenen Grundrechtsgehalten und Grundrechtsdimensionen. Ausgehend von der zentralen Rolle von Grundrechten als Abwehrrechten zeichnet sie – die in Deutschland wesentlich weniger thematisierten – „Folgewirkungen“ nach, wie beispielsweise die Beseitigungspflicht des Gesetzgebers bezüglich verfassungswidriger Gesetze und die Haftung für legislatives Unrecht. Angesichts der „modernen“ Herausforderungen an die Grundrechtstheorie untersucht Lange auch grundrechtliche Schutzpflichten und soziale Grundrechte.

III.

Das Buch von Lange ist handwerklich auf höchstem Niveau. Es ist – trotz seiner fast 500 Seiten – spannend zu lesen und macht immer wieder deutlich, welche politische Bedeutung scheinbar neutrale juristisch-dogmatische Fragen haben können bzw. zu bestimmten historischen Zeitpunkten gehabt haben. Zudem ist das Buch klar und verständlich geschrieben und damit auch für Nichtjuristinnen und -juristen gut lesbar.

Auch inhaltlich „passt“ Langes Buch hervorragend für den Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestages. Lange arbeitet heraus, dass effektiver Grundrechtsschutz nicht nur durch Verfassungsgerichtsbarkeit erfolgen kann, sondern dass dem Gesetzgeber dabei eine wichtige Rolle zukommt. Die Betonung der Eigenständigkeit des Gesetzgebers bei der Grundrechtsinterpretation gegenüber einer Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Grundrechtsauslegung ist aus „parlamentsfreundlicher Perspektive“ nur zu begrüßen. Selbstverständlich darf der Gesetzgeber verfassungsgerichtliche Entscheidungen nicht ignorieren, aber es ist wünschenswert, dass er sich seiner zentralen Rolle bewusst ist, um sich nicht in „vorauseilenden Gehorsam“ seinen eigenen Handlungsspielraum übermäßig zu verkürzen.

Das Buch von Friederike Lange ist ihre Dissertation. Einer meiner akademischen Lehrer sprach immer von Dissertationen als „Gesellen-“ und der Habilitationsschrift als „Meisterstück“. Materiell gesehen ist Langes Dissertation also eine Habilitationsschrift, denn sie ist unzweifelhaft ein Meisterstück. Ich hoffe, dass die Verleihung des Wissenschaftspreises viele Menschen dazu anregt, das Buch auch zu lesen. Es lohnt sich.

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