Abgeordnete kritisieren weltweite Nothilfe
Nicht eingehaltene Hilfszusagen für Notleidende, eklatante Verletzungen des humanitären Völkerrechts – die Abgeordneten sparten nicht mit Klagen, als sie am Freitag, 3. Juni 2016, über die Qualität der humanitären Hilfe debattierten. Anlass war ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (18/8619) mit dem Titel „Eine Menschheit, gemeinsame Verantwortung - für eine flexible, wirksame und zuverlässige humanitäre Hilfe“, der sich auf den humanitären Weltgipfel der Vereinten Nationen am 23. und 24. Mai in Istanbul bezieht.
Lob für Bundesregierung, Tadel für Partner
Tom Koenigs (Bündnis 90/Die Grünen) eröffnete die Debatte, nicht selbstverständlich für einen Oppositionsredner, mit einem Lob der Bundesregierung. Deren hochrangige Präsenz in Istanbul mit Bundeskanzlerin, Bundesaußenminister und Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit sei bis hin zur New York Times registriert worden.
Koenigs gleichzeitige Kritik an der umgekehrt schwachen Präsenz anderer wichtiger Staaten zog sich dann wie ein roter Faden durch die Debatte. So verwies Erika Steinbach (CDU/CSU) darauf, dass keine der fünf Vetomächte der Vereinten Nationen hochrangig vertreten gewesen sei, und Michael Brand (CDU/CSU) kritisierte, dass auch „die erste Reihe der anderen europäischen Regierungen durch Abwesenheit geglänzt“ habe.
Grüne: Wir brauchen neue Antworten
Der weltweite Bedarf an humanitärer Hilfe sei von 2005 bis 2016 um das Vierfache gestiegen, stellte Koenigs fest. Gleichzeitig habe sich aber 2015 auch mit 8,7 Milliarden Euro die bisher größte Finanzierungslücke auf diesem Feld aufgetan. Die Humanitären Katastrophen der Gegenwart seien „in der Regel menschengemacht“.
Achtzig Prozent aller Krisen, die internationale Hilfe erfordern, seien bewaffnete Konflikte oder komplexe Notlagen, erläuterte Koenigs. Das heiße: „Wir können nicht mit denselben Antworten auf diese immens gewachsenen Probleme antworten.“ Dem habe der Gipfel in Istanbul Rechnung getragen.
„Nicht nur Zahler, sondern Gestalter werden“
Eine der Antworten sei, dass es zu einer Verzahnung von schneller Nothilfe und nachhaltigen Rehabilitations- und Entwicklungsmaßnahmen kommen müsse. An die Bundesregierung gerichtet stellte Koenigs fest, Deutschland sei einer der größten Zahler, es müsse aber „immer mehr auch zu einem Gestalter werden“. Das sei noch nicht richtig angekommen.
Koenigs lobte Bemühungen der Vereinten Nationen, ihre auf dem Feld der humanitären Hilfe tätigen Organisationen besser zu koordinieren, und forderte ein gleiches Vorgehen auch von der Bundesregierung. Ein weiteres „Follow-up“ aus Istanbul könne sein, etwas Vergleichbares wie das Institut für Menschenrechte, also einen Think Tank für humanitäre Hilfe, einzurichten.
In ihrem Antrag fordern die Grünen die Bundesregierung zudem auf, die Mittel für akute Notsituationen zu erhöhen sowie mindestens 30 Prozent der Mittel für humanitäre Hilfe in Zukunft ohne Zweckbindung zu vergeben.
CDU/CSU: Die Länder zahlen einfach nicht
Die bereits von Koenigs angeschnittene schlechte Zahlungsmoral vieler Staaten stellte Erika Steinbach in den Mittelpunkt ihrer Rede. 125 Millionen Menschen weltweit benötigten Hilfe „zum nackten Überleben“. Doch immer wieder würden die Mittel dafür von der Weltgemeinschaft nicht rechtzeitig oder nicht ausreichend zur Verfügung gestellt. Selbst von den zugesagten Mitteln kämen im Schnitt nur zwei Drittel tatsächlich herein. „Die Länder zahlen einfach nicht“, stellte Steinbach fest.
Für die Bedürftigen bedeute das weniger Hilfe. So habe im Lauf des vergangenen Jahres die Unterstützung syrischer Flüchtlinge in Nachbarländern wie Jordanien auf 50 Cent pro Tag abgesenkt werden müssen. Das sei eine wesentliche Ursache dafür gewesen, dass sich über eine Million Menschen auf den Weg nach Deutschland und Europa gemacht hätten. Deutschland stelle sich seiner internationalen Verantwortung und gehe mit gutem Beispiel voran, lobte Steinbach, „aber wir müssen erreichen, dass auch die anderen Staaten ihre Verpflichtungen am Ende einhalten“.
Zu dem Antrag der Grünen merkte Steinbach an, dass sich Deutschland seit langem für vorausschauende Hilfe einsetze. Zudem gebe es bereits jetzt eine enge Koordination von humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. „Die Ministerien arbeiten sehr gut zusammen“, lobte sie.
„Krise des humanitären Völkerrechts“
Der Abgeordnete Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) forderte „neben der Stärkung der humanitären Hilfe auch eine Stärkung des Rechts“. Derzeit sei eine „Krise des humanitären Völkerrechts“ zu erleben, beklagte Ullrich, und erinnerte an Bombenangriffe auf Krankenhäuser, Flüchtlingslager und andere humanitäre Einrichtungen.
Solche Angriffe seien „Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und müssten geahndet werden. Der Grundsatz, dass Helfer ungefährdet ihre Arbeit verrichten können müssen, werde zunehmend gebrochen.
Linke: Istanbul-Gipfel vertane Chance
Während die meisten Redner den humanitären Weltgipfel in Istanbul lobten, fiel bei Inge Höger (Die Linke) die Kritik vernichtend aus. Der Gipfel habe viele Absichtserklärungen, aber keine verbindlichen Beschlüsse ergeben, fasste Höger das Ergebnis zusammen und sprach von einer „vertanen Chance“: „Angesichts der Notlage in den Flüchtlingscamps, des Sterbens an den Grenzen Europas, der andauernden Kriege und der zunehmend dramatischeren Folgen des Klimawandels sind die Antworten des Gipfels beschämend unkonkret.“
Einem von der Bundeskanzlerin geäußerten Lob für die Teilnahme vieler Unternehmen an dem humanitären Weltgipfel konnte Höger nichts abgewinnen. „Wenn Hilfe zum Geschäft wird“, mahnte sie, „kann es schnell passieren, dass nicht mehr die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt stehen, sondern die Rentabilität.“
Regierung: Breiter Konsens für Nothilfe
Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), zeigte sich erfreut über ein „gewachsenes Bewusstsein der Einen Welt“ in Deutschland. Nicht nur im Bundestag, sondern auch in der Gesellschaft gebe es eine breite Mehrheit für humanitäre Hilfe. Das dafür ausgegebene Geld sei „gut ausgegeben“.
Deutschland gelte als zuverlässiger Partner in der Welt, stellte Roth fest, „weil wir eben zu unseren Zusagen stehen“. Ziel der deutschen Politik sei ein internationales System der humanitären Hilfe, das auf langfristiger Planung und solider Finanzierung beruht.
SPD weist Kritik an Gipfelteilnahme zurück
Frank Schwabe (SPD) verwahrte sich gegen zwar nicht in dieser Debatte, aber in der Öffentlichkeit geäußerte Kritik an der Teilnahme von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, Außenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier und Entwicklungsminister Dr. Gerd Müller an der Istanbuler Konferenz. Diese sei drei Jahre lang vorbereitet worden, und welche aktuellen politischen Entwicklungen es dann zum Zeitpunkt ihrer Durchführung gegeben habe, sei nicht absehbar gewesen. „Wie hätte es ausgesehen, wenn sie nicht hingefahren wären“, fragte Schwabe.
Angesichts der zögerlichen Zahlungsmoral vieler Geberländer setzte Schwabe die aktuelle Deckungslücke für humanitäre Hilfe von 15 Milliarden Dollar in Vergleich zu anderen Beträgen. Es sei ein Zwanzigstel dessen, was die weltweit hundert größten Rüstungsfirmen jedes Jahr an Waffen verkaufen. Es sei weniger als das, was Großbritannien und die Türkei für ein neues Atomkraftwerk einplanten und nur „die Hälfte dessen, was ein Herr Zuckerberg besitzt“. (pst/03.06.2016)