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1. Untersuchungsausschuss

Fachebene im Kanzleramt über Selektoren später informiert als Hausspitze

Deutsche Fahne und Fahne der USA und Webkamera

Der NSA-Ausschuss setzte seine Zeugenbefragungen fort. (© pa/chromorange)

Über die Verwendung politisch fragwürdiger Selektoren durch den Bundesnachrichtendienst wurde die zuständige Fachebene im Kanzleramt erst anderthalb Jahre später informiert als die Spitze des Hauses. Dies bestätigten am Donnerstag, 20. Oktober 2016, der Leiter des Referats 603, Albert Karl, sowie die verantwortliche Referentin Friederike Nökel dem 1. Untersuchungsausschuss (NSAunter Vorsitz von Prof. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU). Das Referat 603 führt die Fachaufsicht unter anderem über die mit Abhörmaßnahmen befasste Abteilung Technische Aufklärung (TA) beim BND. Der heute 54-jährige Politologe Karl steht seit August 2013 an der Spitze des Referats. Die 44-jährige Volkswirtin Nökel gehört dem Referat seit November 2013 an.

Mündliche Weisung

Beide erklärten übereinstimmend, sie hätten erst im März 2015 davon erfahren, dass der BND in seiner strategischen Fernmeldeaufklärung auch Suchmerkmale eingesetzt hatte, die zur Ausspähung von Partnerstaaten in EU und Nato geeignet waren. Dies hatte der damalige BND-Präsident Gerhard Schindler aber bereits Ende Oktober 2013 in einem persönlichen Gespräch dem noch amtierenden Kanzleramtschef Ronald Pofalla und Geheimdienstkoordinator Günter Heiß mitgeteilt. Er erhielt die mündliche Weisung, den Einsatz der politisch fragwürdigen Selektoren umgehend zu beenden.

„Mir wurde erst im März 2015 bekannt, dass es schon im Oktober 2013 eine Besprechung gegeben haben soll“, betonte Karl. Warum Heiß, der als Leiter der Abteilung 6 ihr direkter Vorgesetzter ist, ihnen die Information nicht sofort weitergab, wussten weder er noch Nökel schlüssig zu beantworten. „Wenn für die Dienst- und Fachaufsicht etwas zu veranlassen war, war es naheliegend, das zu tun. Damals ist das nicht geschehen“, sagte Karl und fügte später hinzu, er könne den Vorgang „nicht nachvollziehen“, denn er liege „außerhalb der Wahrnehmungen und Einschätzungen, die ich eigentlich für normal halte“. Auch Nökel meinte: „Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, wir hätten's gewusst.“

„Ich war im ersten Reflex überrascht“

Beide erklärten, von dem Vorgang erstmals Kenntnis genommen zu haben, als der BND selbst über die Existenz von Dateien berichtete, in denen wegen politischer Bedenken aussortierte Selektoren gespeichert waren. Zuvor hatte am 20. März 2015 eine Delegation aus dem Kanzleramt unter Leitung von Amtschef Peter Altmaier (CDU) der Geheimdienstzentrale in Pullach einen Besuch abgestattet. Was sie zu lesen bekamen, versetzte Karl nicht minder als Nökel, wie sie berichteten, in Verwunderung. 

„Ich war zum Teil doch erstaunt, dass die so was machen“, meinte Nökel über die Abhörgepflogenheiten des BND. „Ich war im ersten Reflex überrascht“, sagte Karl und setzte hinzu: „Meine Überraschung weitet sich sehr schnell zu Empörung aus - manchmal.“ Der Einschätzung, dass die Abteilung TA beim BND seit langem ein „Eigenleben“ führe, wollte der zuständige Referatsleiter im Kanzleramt nicht rundheraus widersprechen.

 „Eine gewisse Dynamik erfahren“

Im Frühjahr 2015 entfaltete jedenfalls das Referat 603 eine fieberhafte Aktivität, um weitere Klarheit über den heiklen Sachverhalt zu gewinnen. Die Abteilung TA wurde mit Anfragen ihrer Fachaufsicht zum Einsatz von Selektoren gegen Verbündete überhäuft.

„Die Bearbeitung der Abteilung TA hat mit März, April schon eine gewisse Dynamik erfahren“, wie Karl formulierte. Dies sei normal, wenn ein Sachverhalt erstmals auf dem Radar auftauche: „Es gab viele für uns unbekannte technische und methodische Komplexe.“ Schließlich habe sich das Referat bis dahin mit dem Einsatz von Selektoren durch den BND nie genauer befasst.

Umstände der Inspektion der Abhöranlage in Bad Aibling

Zuvor hatte eine Mitarbeiterin der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) dem Ausschuss erneut über die Umstände berichtet, unter denen ihre Behörde die vom Bundesnachrichtendienst und der amerikanischen National Security Agency (NSA) betriebene Abhöranlage in Bad Aibling inspiziert hat.

Über die dabei gewonnenen Erkenntnisse und deren rechtliche Bewertung könne sie in öffentlicher Sitzung allerdings nichts mitteilen, betonte die Zeugin Gabriele Löwnau in ihrer Vernehmung. Die heute 57-jährige Juristin leitet seit März 2012 in der Datenschutzbehörde das für die Aufsicht über Nachrichtendienste und Polizeien des Bundes zuständige Referat V, mittlerweile Arbeitsgruppe 22.

Durch Snowden auf die Abhöranlange aufmerksam geworden

Bis zum Sommer 2013, als die Enthüllungen des US-Geheimdienstkritikers Edward Snowden über die Tätigkeit der NSA Furore machten, habe ihre Behörde dem BND in Bad Aibling nie einen Besuch abgestattet, berichtete Löwnau. Durch die von Snowden ausgelöste Diskussion sei sie auf die Abhöranlage aufmerksam geworden.

Vorschriftsgemäß seien die beiden Inspektionsreisen im Dezember 2013 und Oktober 2014 in knapp und allgemein gehaltenen Schreiben an den BND wie an das Kanzleramt als aufsichtsführende Behörde angekündigt worden. Eine Vertreterin des Kanzleramts sei auch bei den Besuchen in Bad Aibling zugegen gewesen. Sie könne sich nicht erinnern, betonte die Zeugin, dass BND oder Kanzleramt im Vorfeld der Reisen versucht hätten, auf ihre Behörde einzuwirken.

Streng geheimer Sachstandsbericht

Die Befunde der beiden Kontrollbesuche sind in einem Sachstandsbericht der BfDI festgehalten, der seit Juli 2015 vorliegt. Eine gesonderte „rechtliche Bewertung“ ging dem Ausschuss im Frühjahr 2016 zu. Beide Dokumente sind der Öffentlichkeit offiziell nicht zugänglich. Der Sachstandsbericht ist als „streng geheim“, die rechtliche Bewertung als „geheim“ eingestuft. 

Die Zeugin bestätigte, dass ihre Behörde diese Einstufung selbst vorgenommen habe. Sie habe aber keine andere Wahl gehabt: „Uns sind diese ganzen Dinge nur als streng geheim zur Kenntnis gekommen.“ Sie habe sich als Beamtin an Vorschriften zu halten: „Wenn wir Unterlagen haben, die als geheim oder streng geheim vorliegen, dann sind wir an diese Einstufung gebunden.“

„Wir haben das Kanzleramt angeschrieben“

Die Zeugin berichtete, dass ihre Behörde das Kanzleramt gebeten habe, wenigstens die rechtliche Bewertung der Öffentlichkeit zugänglich machen zu dürfen: „Wir haben nachgefragt, das Kanzleramt angeschrieben.“ Doch das Ersuchen sei abgelehnt worden mit dem Hinweis, dass auch in der rechtlichen Bewertung geheimschutzbedürftige Sachverhalte zur Sprache kämen und deswegen „das Dokument nicht heruntergestuft werden kann“.

Mit weiteren Mitteilungen gab sich die Zeugin zurückhaltend. Immer wieder beriet sie sich mit einem anwesenden Vertreter ihrer Behörde. Bei einem ersten Auftritt vor dem Ausschuss am 12. November 2015 hatte sie noch juristische Einschätzungen zu den in Bad Aibling festgestellten Befunden abgegeben. Da mittlerweile eine rechtliche Bewertung ihrer Behörde vorliege, sei dies jetzt nicht mehr möglich, betonte sie.

Grüne: Putinscher Mechanismus

Vertreter der Opposition im Ausschuss kritisierten die Geheimhaltungspraxis in scharfen Worten.

Der Grüne Dr. Konstantin von Notz sprach von einer „Farce“ und einem „Putinschen Mechanismus“, „wenn ein in einer offenen Gesellschaft bekannter Sachverhalt, der von der Datenschutzbeauftragten untersucht wird, ein streng geheimer Vorgang werden kann“. (wid/21.10.2016) 

Liste der geladenen Zeugen

  • Gabriele Löwnau, Referatsleiterin, Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit
  • Albert Karl, Referatsleiter, Bundeskanzleramt
  • Friederike Nökel, Bundeskanzleramt
  • Jan Bernard, Bundeskanzleramt

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