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Europäische Union

Krichbaum gegen Abbruch der Beitrittsverhand­lungen mit der Türkei

Ein Mann an einem Tisch zeigt mit dem Finger nach oben.

Gunther Krichbaum, Vorsitzender des Europaausschusses (© DBT/Melde)

Der Vorsitzende des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Bundestages, Gunther Krichbaum (CDU/CSU), betrachtet die aktuellen Entwicklungen in der Türkei mit großer Sorge, hält aber den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen derzeit nicht für sinnvoll. „Dies würde die letzten Gesprächskanäle abschneiden, die wir benötigen, um den europäisch orientierten Menschen in der Türkei beizustehen“, sagt der Unionsabgeordnete im Nachgang der Cosac-Tagung vom 13. bis 15. November 2016 in Bratislava, dem Treffen der Europaausschüsse der nationalen Parlamente in der EU.

Mit Blick auf die Wahl Donald Trumps zum neuen Präsidenten der USA räumt Krichbaum im Interview ein, von der Entscheidung überrascht gewesen zu sein. Auch unter seinen europäischen Kollegen sei derzeit „eine Stimmung der Unklarheit vorherrschend“. Der CDU-Abgeordnete aus Pforzheim hält das deutsch-amerikanische Verhältnis aber für stark genug, dass es auch unter einem Präsidenten Trump keinen Schaden nehmen werde. „Durch Trumps Ankündigung, sich verstärkt auf die US-amerikanische Innenpolitik konzentrieren zu wollen, steigt natürlich auch die Rolle Deutschlands und damit der Bundeskanzlerin in der internationalen Staatengemeinschaft“, lautet Krichbaums Einschätzung. Das Interview im Wortlaut:


Herr Krichbaum, bei der Cosac-Herbsttagung in Bratislava ging es unter anderem um die Stärkung der Rolle nationaler Parlamente. Müssten nicht aber eigentlich die europäischen Institutionen – vor allem das Europäische Parlament gestärkt werden, um zu mehr Zusammenhalt und besseren gemeinsamen Entscheidungen innerhalb Europas zu gelangen?

Das Europäische Parlament ist seit dem Vertrag von Lissabon in fast allen Politikfeldern ein gleichberechtigter Akteur. Ohne eine Zustimmung des Parlaments können in Brüssel praktisch keine Entscheidungen getroffen werden. Eine Änderung sollte es in jedem Fall beim Initiativrecht für neue Rechtsetzungsvorhaben geben, das ausschließlich bei der EU-Kommission liegt. Allerdings ist hierfür eine Änderung der Europäischen Verträge notwendig. Was den Zusammenhalt in Europa angeht, so sehen sich die Menschen fast 60 Jahre nach den Römischen Verträgen in erster Linie als Bürger ihres eigenen Landes. Daher werden die nationalen Parlamente aus ihrer Sicht als bedeutender empfunden als das Europäische Parlament. Das lässt sich auch an der jeweiligen Wahlbeteiligung ablesen. Ganz konkret bedeutet das für uns als nationale Parlamentarier, dass die Menschen nicht nur die Durchsetzung ihrer Interessen in Berlin erwarten, sondern eben auch die Wahrung ihrer Interessen in Brüssel.

Diskutiert wurde in Bratislava auch über eine bessere Sicherung der EU-Außengrenzen. Gibt es in dieser Frage – anders als bei der Aufnahme von Flüchtlingen – Einigkeit innerhalb der EU?

Ja, hier sind sich alle EU-Staaten inzwischen einig. Der Grenzschutz ist eine Aufgabe, die von allen Staaten gemeinsam bewältigt werden muss, insbesondere dann, wenn es sich neben nationalen Grenzen gleichzeitig um EU-Außengrenzen handelt. Wenn es wie im Falle von Griechenland bei der Grenzsicherung zu einem eklatanten Staatsversagen kommt, muss die EU für die Zukunft die Möglichkeit erhalten, eingreifen zu können.

Wurde dieses Thema vor allem mit Blick auf ein eventuelles Scheitern des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens diskutiert?

Trotz oftmals gegenteiliger Behauptungen hält sich die Türkei weitestgehend an das Flüchtlingsabkommen. Aber das Abkommen war stets nur die zweitbeste Lösung, solange die EU nicht in der Lage war, ihre Außengrenzen zu schützen. Das hat sich im letzten halben Jahr deutlich verändert und daher verfügt die Türkei heute über erheblich weniger Druckpotenzial. Ein weiterer Aspekt ist mir dabei jedoch wichtig: Das Abkommen beinhaltet nicht nur die Bekämpfung der Schleuserkriminalität in der Ägäis, sondern vor allem auch eine finanzielle Unterstützung der EU für die Versorgung in den Flüchtlingscamps. Wir vergessen viel zu oft, dass über drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei leben. Der Bau von Schulen, die bessere medizinische Versorgung und die Schaffung von Arbeitsplätzen geben den Menschen eine Bleibeperspektive und halten sie davon ab, die gefährliche Flucht nach Europa zu wagen. Daher sollten wir an dem Abkommen festhalten.

Wie beurteilen Sie die derzeitigen Entwicklungen in der Türkei vor allem mit Blick auf die von den Türken geforderte Visafreiheit und die Beitrittsverhandlungen zwischen EU und der Türkei?

Die Entwicklungen in der Türkei betrachte ich mit großer Sorge. Die Verhaftung von Parlamentariern ist völlig inakzeptabel und die Repression gegenüber Journalisten hat sich zuletzt massiv verschärft. Hier dürfen wir nicht schweigen, denn erst stirbt die Pressefreiheit, dann die Meinungsfreiheit und damit die Demokratie. Allerdings halte ich einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen derzeit nicht für sinnvoll. Dies würde die letzten Gesprächskanäle abschneiden, die wir benötigen, um den europäisch orientierten Menschen in der Türkei beizustehen. Die Verhandlungen müssten jedoch dann beendet werden, wenn die Türkei die Todesstrafe einführen sollte. Dies wäre ein elementarer Verstoß gegen unsere europäischen Werte. Ein weiteres Thema sind die Vor-Beitrittshilfen, die die Türkei im Rahmen des Beitrittsprozesses von der EU erhält. In der aktuellen Förderperiode 2014 bis 2020 sind das etwa 4,4 Milliarden Euro, von denen ein Drittel für die Stärkung von Rechtsstaat und Demokratie vorgesehen sind. Mit diesem Geld werden junge Richter und Staatsanwälte ausgebildet. Das sind genau jene, die Herr Erdoğan im Rahmen seiner Säuberungsaktion ihrer Ämter enthoben hat. Das ist eine politische Veruntreuung von EU-Geldern, weshalb diese Mittel eingefroren werden müssen.

Über TTIP haben Sie bei der Tagung auch diskutiert. Nach der Wahl Donald Trumps zum nächsten US-Präsident scheint das Abkommen aber keine Chance mehr zu haben. Oder sehen Sie das anders?

Donald Trump hatte im Wahlkampf vieles angekündigt, was sich inhaltlich widersprochen hat. Genau deshalb herrscht jetzt so viel Ungewissheit über seinen innen- und außenpolitischen Kurs. Nach seiner recht moderaten Dankesrede in der Wahlnacht hat er bereits einige seiner Wahlkampfforderungen relativiert. Daher ist auch die Zukunft von TTIP völlig unklar. Wir werden in den nächsten Monaten eine Zeit großer Ungewissheit über Amerikas Kurs erleben.

Wie ist die vorherrschende Stimmung bei Ihnen und Ihren europäischen Kollegen mit Blick auf das Wahlergebnis in den USA? Angst, Skepsis, Zuversicht, Gleichgültigkeit – was überwiegt?

Angst ist ein schlechter Ratgeber in der Politik. Aber ich denke, wir waren alle überrascht. Momentan ist eher eine Stimmung der Unklarheit vorherrschend. Für mich zeichnet sich ab, dass wir Europäer auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik mehr Verantwortung übernehmen und enger zusammenarbeiten müssen. Daher unterstütze ich es, dass jetzt sehr intensiv über eine stärkere militärische Zusammenarbeit diskutiert wird, möglichweise im Rahmen eines gemeinsamen Armeeprojekts.

Mit welchen Änderungen im deutsch-amerikanischen Verhältnis rechnen Sie persönlich?

Das deutsch-amerikanische Verhältnis ist sehr eng, freundschaftlich und basiert auf gemeinsamen Werten, wie Bundeskanzlerin Merkel bei ihrer Gratulation nach Trumps Wahl deutlich gemacht hat. Es gab auch in der Vergangenheit bereits schwierige Phasen zwischen unseren beiden Ländern, etwa während des Irakkriegs oder der NSA-Affäre. Das deutsch-amerikanische Verhältnis ist aber stark genug und wird auch unter einem Präsidenten Trump keinen Schaden nehmen. Durch Trumps Ankündigung, sich verstärkt auf die US-amerikanische Innenpolitik konzentrieren zu wollen, steigt natürlich auch die Rolle Deutschlands und damit der Bundeskanzlerin in der internationalen Staatengemeinschaft.

(hau/18.11.2016)