„London musste Massenüberwachung durch Geheimdienste zugeben“
Durch die Snowden-Affäre hat sich in Großbritannien die bis dahin völlig geschlossene Welt der Geheimdienste dem kritischen Blick Außenstehender geöffnet, wenn auch nur einen Spalt breit. Diese Einschätzung äußerte Caroline Wilson-Palow, Leiterin des juristischen Stabes der britischen Bürgerrechtsorganisation Privacy International, am Donnerstag, 15. Dezember 2016, vor dem 1. Untersuchungsauschuss (NSA) unter Vorsitz von Prof. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU). Immerhin sei aus diesem Anlass die Regierung in London erstmals gezwungen worden, Massenüberwachung sowie illegale Abhörpraktiken durch eigene Geheimdienste zuzugeben, hob Wilson-Palow hervor. Außer ihr hörte der Ausschuss als weiteren Sachverständigen den Direktor des britischen Bürgerrechtsbündnisses Don't Spy on Us, Eric King.
Klagewelle gegen die Bespitzelung britischer Bürger
Wilson-Palow betonte, dass die britische Regierung auf die Enthüllungen des US-Geheimdienstkritikers Edward Snowden weitaus zögerlicher und zurückhaltender reagiert habe als die amerikanische. Es habe kaum Verständnis für die Problematik gegeben und „erheblicher Anstrengungen“ bedurft, um überhaupt eine Debatte in Gang zu bringen. Dass etwa Snowdens Angaben über das Massenüberwachungsprogramm Prism und den damit zusammenhängenden Datenaustausch zwischen der amerikanischen National Security Agency (NSA) und den britischen Government Communcations Headquarters (GCHQ) zutrafen, sei in London zähneknirschend erst bestätigt worden, nachdem die US-Regierung es bereits zugegeben hatte.
In einem Prüfbericht des britischen Parlaments sei noch im Juli 2013 die Rede davon gewesen, dass die von Snowden beschriebenen gemeinsamen Aktivitäten von NSA und GCHQ rechtmäßig seien. Die von Snowden offengelegten Dokumente hätten dann aber in den Jahren 2013 bis 2015 die Grundlage für eine Klagewelle gegen die Bespitzelung britischer Bürger gebildet.
„Telefongespräche jahrelang illegal abgehört“
Dadurch habe sich die Regierung genötigt gesehen, vor Gericht wesentliche Eingeständnisse zu machen. So habe sie im Februar 2015 erstmals die Manipulation von Computern durch Geheimdienste zum Zweck der Ausspähung zugeben müssen. Zudem habe sie erstmals eingeräumt, dass in Großbritannien jahrelang Telefongespräche illegal abgehört worden seien.
Eine Folge der Snowden-Debatte sei schließlich auch die Novellierung des britischen Geheimdienstgesetzes, des Investigative Powers Act (IPA), in diesem Jahr gewesen. Dadurch sei mehr Transparenz in die Welt der Geheimdienste gekommen. Andererseits seien viele der umstrittenen Praktiken der Massenüberwachung jetzt gesetzlich geregelt.
Ausnahmen im „nationalen Interesse“ möglich
King berichtetete über den seit 1946 bestehenden Geheimdienstverbund der sogenannten „Five Eyes“, dem außer Großbritannien auch die USA, Kanada, Neuseeland und Australien angehören, insbesondere über die Frage, inwieweit zwischen den beteiligten Diensten eine Verabredung gilt, Bürger von Five-Eyes-Staaten nicht zu bespitzeln. Im Prinzip gebe es wohl eine „Präferenz, einander nicht abzuhören“, doch seien Ausnahmen immer möglich, wenn „nationale Interessen“ im Spiel seien. So habe Großbritannien 2007 die NSA ausdrücklich ermächtigt, auch Daten britischer Bürger auszuwerten.
King erwähnte auch die Praxis des „Ringtausches“, mit der befreundete Geheimdienste einander aushelfen, wenn es gilt, die eigene nationale Gesetzgebung zu umgehen. So habe die NSA bei einer ihrer Operationen vor dem Problem gestanden, Datenleitungen zwischen den großen US-Internetkonzernen zu überwachen. Sie habe das auf US-Gebiet aber nicht tun wollen und deswegen die GCHQ gebeten, ein Kabel in der Irischen See anzuzapfen.
„Alle auf die G10-Filterung fixiert“
Im Anschluss an die Anhörung legte ein weiterer Zeuge im Ausschuss dar, dass im Bundesnachrichtendienst (BND) bis ins Jahr 2013 hinein kein Bewusstsein für die politische Problematik der Ausspähung von Zielen mit EU- und Nato-Bezug bestand. Es habe über die Kriterien, nach denen entsprechende Suchmerkmale einzusetzen waren, auch keine Diskussionen gegeben, sagte der ehemalige Abteilungsleiter Hartmut Pauland in seiner Vernehmung. Der heute 61-jährige Brigadegeneral stand von Anfang 2012 bis Oktober 2015 an der Spitze der Abteilung Technische Aufklärung (TA), die im BND für die Organisation von Überwachungsmaßnahmen zuständig ist.
Schon bei seinem Dienstantritt beim BND sei ihm aufgefallen, berichtete Pauland, wie stark in seiner Abteilung „alle auf die G10-Filterung fixiert“ waren. Das G10-Gesetz regelt, unter welchen Umständen deutsche Staatsbürger, die im Prinzip den Schutz des grundgesetzlich verbürgten Fernmeldegeheimnisses genießen, abgehört werden dürfen.
„Augenmerk für sonstige politische Risiken etwas verkümmert“
Es habe also in der Abteilung TA ein in langjähriger Praxis geschärftes Bewusstsein dafür bestanden, dass deutsche „Grundrechtsträger“ im Allgemeinen von der Fernmeldeüberwachung auszunehmen waren. Dagegen sei das Augenmerk für sonstige politische Risiken, die mit dem Einsatz bestimmter Selektoren einhergehen konnten, wie Pauland einräumte, „ein bisschen verkümmert“ gewesen: „Ich habe gleich versucht, es anders zu machen.“
In den entscheidenden Monaten des Jahres 2013 sei er allerdings kaum handlungsfähig gewesen. Im Juni habe „die Snowden-Geschichte den Tagesablauf auf den Kopf gestellt. Man konnte nur noch Fragen beantworten, Stellungnahmen schreiben, in alten Unterlagen nachsuchen“.
„Am Ende der Prozedur stand mein Schlaganfall“
Pauland wurde Mitglied einer Arbeitsgruppe, die beim Bundesinnenminister angesiedelt war und die Reaktionen auf Edward Snowdens Enthüllungen zu koordinieren hatte. Er habe in dieser Zeit seinen Schreibtisch in der BND-Zentrale nur selten gesehen: „Am Ende der Prozedur stand mein Schlaganfall Ende August.“ Erst zwei Monate später sei er mit stark reduzierten Arbeitszeiten wieder im Dienst gewesen und habe im November 2013 noch einen einwöchigen Erholungsurlaub nehmen müssen.
In diese Wochen fiel die Entdeckung, dass auch der BND in der strategischen Fernmeldeaufklärung Selektoren einsetzte, die zur Ausspähung „befreundeter“ Ziele geeignet waren. Hauptsächlich mit dem Thema befasst war Paulands Unterabteilungsleiter D.B. Dieser nahm am 28. Oktober 2013 den Anruf des damaligen BND-Präsidenten Gerhard Schindler entgegen, der die Anweisung übermittelte, die brisanten Suchmerkmale unverzüglich abzuschalten. D.B. habe ihn vermutlich vor seinem Urlaub im November von dem Telefonat unterrichtet, meinte Pauland.
„Umbau und Einschnitt in der bisherigen Praxis“
Der Umgang mit der neuen Weisungslage sei allerdings schwierig gewesen. Sie habe schließlich einen „massiven Umbau und Einschnitt“ in der bisherigen Praxis bedeutet: „Man muss erst mal die Reaktionen abwarten, was kommt, wenn so viele Selektoren herausgenommen werden.“ Im Laufe der folgenden Wochen seien daher einige der zunächst abgeschalteten Selektoren reaktiviert worden.
Im Februar 2014, berichtete Pauland, habe er in einem Telefonat mit dem BND-Präsidenten Vorschläge unterbreitet, um Ordnung in das neue Verfahren zu bringen. Er habe es selbst übernommen, eine entsprechende schriftliche Weisung auszuarbeiten, die im März zunächst als Kurzfassung, im April in ausführlicher Form mit Fallbeispielen vorgelegen habe. (wid/15.12.2016)
Liste der geladenen Sachverständigen
- Eric King, “Don’t spy on us”
- Caroline Wilson-Palow, Privacy International
Liste der geladenen Zeugen
- Hartmut Pauland
- Gerhard Schindler