1. Untersuchungsausschuss

Ausländerrecht: Experten monieren Vollzugsdefizite

Mit den Mitteln des geltenden Rechts hätten die Behörden in Deutschland bereits 2016 den späteren Attentäter Anis Amri frühzeitig stoppen können. Dieser Eindruck ergab sich am Donnerstag, 19. April 2018, aus einer Anhörung, mit der der 1. Untersuchungsausschuss, der die Hintergründe des Terroranschlags vom 19. Dezember 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz ausleuchten soll, seine öffentlichen Sitzungen aufnahm. 

Die zum Thema „Asyl- und Aufenthaltsrecht“ geladenen Experten sahen mehrheitlich keinen wesentlichen Nachbesserungsbedarf in der Gesetzgebung. Allerdings habe der Fall Amri Vollzugsdefizite offenbart. Insbesondere sei die Kooperation zwischen Bund und Ländern, aber auch der Länder untereinander, ausbaubedürftig. In Deutschland liegt die Entscheidung über Asylbegehren beim Bund, während die Länder für die Gesetzesanwendung einschließlich der Rückführung abgelehnter Asylbewerber zuständig sind.

Möglichkeit der Abschiebungsanordnung

Der Konstanzer Völkerrechtler Prof. Dr. Marcel Kau erinnerte an den Paragrafen 58a des Aufenthaltsgesetzes, der den „obersten Landesbehörden“ die Möglichkeit gibt, gegen als gefährlich eingeschätzte Ausländer eine „Abschiebungsanordnung“ zu erlassen. Sie können dazu auch durch eine „Einzelweisung“ des Bundesinnenministeriums angehalten werden. Im Fall Amris, der während seines Aufenthaltes in Deutschland zwischen Nordrhein-Westfalen und Berlin hin und her pendelte, hätten die zuständigen Landesbehörden allein möglicherweise nicht über hinreichende Informationen verfügt, um die Abschiebung anzuordnen. 

Doch hätte das Bundesinnenministerium die Erkenntnisse aus Nordrhein-Westfalen und Berlin zusammenfassen und eingreifen können. Dass dies nicht geschehen sei, habe möglicherweise auch damit zu tun, dass der 58a damals noch verfassungsrechtlich umstritten gewesen sei. Erst 2017 bestätigte das Bundesverfassungsgericht seine Unbedenklichkeit.

Kritik an Handlungsunfähigkeit der Behörden

Dr. Hans-Eckhard Sommer, Leiter des Sachgebiets Ausländer- und Asylrecht im bayerischen Innenministerium, äußerte Unverständnis dafür, dass trotz mehrfacher Straftaten Amris die zuständigen Staatsanwaltschaften alle Ermittlungsverfahren eingestellt hätten, statt von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, den Mann in Untersuchungshaft zu nehmen. 

Sommer warnte davor, aus dem Fall Amri den Schluss zu ziehen, dass der Bund mehr Kompetenzen erhalten müssen. Gerade im Umgang mit Amri sei für ein Großteil des Versagens das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) verantwortlich. Weil er dort erst nach neun Monaten einen Anhörungstermin bekommen habe, seien die Ausländerbehörden auf Landes- und Kommunalebene lange Zeit handlungsunfähig gewesen.

Experte mahnt einheitliche Verfahrensweisen an

Dagegen gab der emeritierte Völkerrechtler Prof. Dr. Dr. h. c. Kay Hailbronner zu bedenken, ob in Fällen, in denen die Abschiebung eines ausreisepflichtigen Ausländers sich besonders schwierig gestaltet, die Zuständigkeit nicht automatisch auf den Bund übergehen soll. 

Wesentlich seien über alle föderale Vielfalt hinweg „einheitliche Verfahrensweisen und Maßstäbe“. Dazu bedürfe es einer besseren Koordinierung auch zwischen den Ländern selbst. So wäre es hilfreich, in Fällen der Anwendung einer Ausweisungsanordnung nach Paragraph 58a das Vorgehen der Länder zu „standardisieren“ und etwa gemeinsame Maßstäbe für die Definition eines „erheblichen Risikos“, wie im Gesetz formuliert, zu entwickeln.

„Das Asylsystem ist ein Lügensystem“

Der ehemalige baden-württembergische Verwaltungsbeamte Dieter Amann, den die AfD kurz vor der Anhörung noch als Sachverständigen benannt hatte, beklagte die zunehmende Undurchschaubarkeit und Komplexität des Aufenthalts- und Asylrechts. Es sei für die Mitarbeiter der Ausländerbehörden kaum noch handhabbar, sagte Amann, der nach eigenen Angaben sein halbes Berufsleben in Ausländer- und Sozialbehörden verbracht hat. 
Schuld an dieser Entwicklung sei die Europäische Union mit einer Unzahl von Richtlinien und Verordnungen. So sei die Praxis des Asylrechts in Deutschland zu einer „monströsen EU-Bürokratie“ ausgeartet: „Das Asylsystem ist ein Lügensystem, das keinen Bestand haben sollte.“ Die einzige Lösung sei die Schließung der Grenzen, Abbau von Rechten und die „radikale Vereinfachung des Ausländerrechts durch Wiederherstellung der nationalen Souveränität“.

„Rechtsabbau nicht angezeigt“

Scharfer Widerspruch kam von den Asylanwälten Dr. Stephan Hocks, Thomas Oberhäuser und Rolf Stahmann. Selbstverständlich sei das Asylrecht kompliziert, sagte Hocks, das liege aber an seiner „enormen Grundrechtsbezogenheit“. Es diene dem Schutz von Rechten, daher sei ein Rechtsabbau nicht angezeigt. Übereinstimmend betonten die Anwälte dagegen, dass die in jüngster Zeit immer schneller wechselnde Rechtslage den Praktikern in den Ausländerbehörden, aber auch Betroffenen, das Leben schwer mache. 

So habe es seit 2011 nicht weniger als 30 zum Teil sehr wesentliche Änderungen im Aufenthaltsgesetz gegeben, sagte Oberhäuser. Stahmann, der Fortbildungen für Anwälte anbietet, sagte: „Was ich den letzten Kursteilnehmern erklärt habe, ist bei der nächsten Veranstaltung schon nicht mehr gültig.“ (wid/19.04.2018)

Liste der geladenen Sachverständigen

  • Prof. Dr. Dr. h. c. Kay Hailbronner, Universität Konstanz, Fachbereich Rechtswissenschaften
  • Dr. Stephan Hocks, Rechtsanwalt, Frankfurt am Main
  • Prof. Dr. Marcel Kau, Universität Konstanz, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht
  • Thomas Oberhäuser, Rechtsanwalt, Ulm
  • Dr. Hans-Eckhard Sommer, Bayerisches Staatsministerium des Innern, Leiter des Sachgebietes Ausländer- und Asylrecht
  • Rolf Stahmann, Fachanwalt für Migrationsrecht, Berlin
  • Dr. Philipp Wittmann, Richter am Verwaltungsgericht, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht (Erster Senat), Karlsruhe

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