Ein Plädoyer für die Freiheit
„Ich werde, solange ich lebe, zu jeder freien Wahl gehen!“ Mit diesen Worten schloss Dr. Lothar de Maizière unter großem Beifall seine Rede zum 20. Jahrestag der ersten freien Volkskammerwahl der DDR. Der letzte Ministerpräsident der DDR war Hauptredner in der Feierstunde des Bundestages am Donnerstag, 18. März 2010, im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes. Zuvor hatte Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert an die Bedeutung dieser Wahl erinnert: „Man musste damals 79 Jahre alt gewesen sein, um bereits einmal in seinem Leben frei gewählt zu haben - 1932 mit damals 21 Jahren bei den letzten Reichstagswahlen, die diesen Namen verdient hatten.“
Lothar die Maizière, der die als Ehrengäste geladenen Mitglieder der damaligen zehnten Volkskammer der DDR, darunter die Präsidentin Dr. Sabine Bergmann-Pohl, als „liebe Freunde und Mitstreiter“ ansprach, sagte: „Die Freiheit war es, die ohne Zweifel im Zentrum der Ereignisse jener beiden Jahre stand, deren Jubiläen wir gefeiert haben und noch begehen werden.“
„Ein Volk wurde sich seiner selbst bewusst“
Der kürzlich 70 Jahre alt gewordene letzte DDR-Ministerpräsident skizzierte die Monate des Umbruchs so: „Ein Volk wurde sich seiner selbst bewusst, und es hat sich selbst befreit. Mit dem Fall der Mauer stand fest, dass nichts wieder so sein würde, wie es war.“
De Maizière nannte seine Rede ein „Plädoyer für die Freiheit“, weil - mit den Worten der Schriftstellerin Christa Wolf - „die Möglichkeit zu selbstbestimmtem verantwortlichen Handeln höchste Freiheit ist“.
„Wahl hat die Menschen elektrisiert“
Die Wahl am 18. März 1990 habe die Menschen elektrisiert, sagte de Maizière: „Ich kenne niemanden, der in diesen Tagen nicht als Wahlkämpfer, als Kandidat, als Demonstrant oder in irgendeiner anderen Weise in das Geschehen eingegriffen oder doch zumindest in höchster Spannung verfolgt hätte.“ Mit der Wahlbeteiligung von 93,4 Prozent dürfte man „wohl noch lange einen einsamen Rekord halten“.
Am 5. April 1990 habe sich mit der zehnten Volkskammer ein Parlament konstituiert, in dessen Mehrheitsverhältnissen bereits ein „unmissverständliches Plebiszit zur deutschen Einheit“ ausgesprochen worden sei.
„Authentisch und ehrlich“
Die DDR ist nach den Worten de Maizières nicht zuletzt darum zusammengebrochen, weil „eine immer größer werdende Zahl von Menschen es vorgezogen hat, ihr gesamtes bisheriges Leben, ihren gesamten Besitz, ihre Freunde, ihre Arbeit, die vermeintliche soziale Sicherheit aufzugeben, um woanders in Freiheit ganz neu anzufangen“.
Der gemeinsame Freiheitswille der Menschen habe die Entwicklungen 1989 ausgelöst und in der Folge für ihren „immer stürmischeren Verlauf“ gesorgt. Manchmal sei die Volkskammer ein wenig herablassend als „Laienspieltruppe“ verspottet worden. Manches habe nicht professionell gewirkt, aber „es war authentisch und ehrlich“.
„Teilnahme als Fundament unserer Freiheit“
De Maizière würdige die Rolle von Bundeskanzler Helmut Kohl und des US-Präsidenten George Bush. Kohl habe die Wiedererlangung der Einheit mit einer beispiellosen Anstrengung zu seiner Sache gemacht, und Bush habe keinen Zweifel aufkommen lassen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf für die Deutschen gelte.
Mit „wachsender Sorge“ beobachte er eine zunehmende Gerichtschätzung der Rechte der Teilnahme, die das „Fundament unserer Freiheit“ seien. Demokratie gewinne ihre Authentizität und ihre Kraft allein in der Haltung der Bürgerinnen und Bürger: „Im Umbruch der Jahre 1989/1990 sind die Menschen in der DDR sichtbar und stolz zu Bürgern geworden.“
„Elementares Recht auf freie Wahlen“
Bundestagspräsident Norbert Lammert hatte eingangs im Rückblick auf die gefälschten Kommunalwahlen in der DDR vom Mai 1989 erklärt: „Wer einem Volk sein elementares Recht auf freie Wahlen vorenthält, den jagt am Ende das Volk davon.“ Ein politisches System werde durch die Existenz und gefestigte Rolle eines frei gewählten Parlamentes im Verfassungsgefüge wie in der politischen Realität als Demokratie qualifiziert.
Die demokratische Reife eines politischen Systems zeige sich vor allem am Vorhandensein einer Opposition in ihren politischen Wirkungsmöglichkeiten: „Sie erst macht das Parlament zur Vertretung des ganzen Volkes.“
„Stille Helden der Revolution“
Der Präsident erinnerte an „viele heute vergessene, stille Helden der Revolution“, die die politische Bühne längst wieder verlassen hätten. Die allermeisten von ihnen hätten über Nacht eine Aufgabe angetreten, „von der sie selber nur begrenzte Vorstellungen haben konnten.“
Ohne die damaligen Mitglieder der Volkskammer könnte der Deutsche Bundestag heute weder in Berlin tagen noch das ganze deutsche Volk vertreten„, sagte Lammert unter Beifall. Die Volkskammer sei eines der wirkungsmächtigsten Parlament der deutschen Parlamentsgeschichte gewesen. Manches, was damals naiv erschienen sei, lasse sich durchaus auch aus vorbildlich begreifen, betonte der Präsident unter Hinweis auf das in der letzten Volkskammer nicht ungewöhnliche Abstimmungsverhalten, das sich nicht an Fraktionsgrenzen hielt.
Kritik an öffentlich-rechtlichen Sendern
Kritik übte Lammert unter großem Beifall an der Weigerung der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten - mit Ausnahme des Spartenkanals Phoenix - ihr Programm für die Übertragung dieser Feierstunde zu unterbrechen. In der “Drehscheibe Deutschland„ im ZDF würden zur gleichen Zeit Berichte wie “Angst vor der Gen-Kartoffel„, “Geprellte Bauherren„ oder über einen “Melkwettbewerb in Niedersachsen„ gesendet.
Zwischen den Reden Lammerts und de Maizières sahen die Abgeordneten und die Gäste einen achtminütigen Film mit Ausschnitten aus den damaligen Volkskammersitzungen.