Geschichte

Erste frei gewählte DDR-Volkskammer

Berlin-Mitte, Palast der Republik (enthält den Plenarsaal der Volkskammer). Teilansicht der Fassade mit DDR Staatswappen (Hammer und Zirkel). Foto, 1990.

Fassade des Palastes der Republik in Ost-Berlin, in dem die Volkskammer tagte, mit DDR-Staatswappen im Jahr 1990 (picture alliance/akg-images)

Mit den freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 änderte sich der Charakter des Parlamentes der Deutschen Demokratischen Republik grundlegend: War die Volkskammer unter der SED-Diktatur ein Scheinparlament gewesen, das bis zur friedlichen Revolution im Herbst 1989 mit nur einer einzigen Ausnahme einstimmig die Entscheidungen der Partei- und Staatsführung nachvollzogen hatte, so wandelte sie sich nun zu einem demokratischen Parlament, dessen Mitglieder mit einem enormen Arbeitspensum den Weg zur deutschen Einheit gestalteten.

Umbruch des Parteiensystems

Bis zur friedlichen Revolution hatten neben den Abgeordneten der DDR-Staatspartei, der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED), und mehrerer von ihr dominierter Massenorganisationen auch Vertreter der vier sogenannten Blockparteien „Christlich-Demokratische Union“ (CDU), „Demokratische Bauernpartei Deutschlands“ (DBD), „Liberal-Demokratische Partei Deutschlands“ (LDPD) sowie „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NDPD) der Volkskammer angehört.

Mit dem politischen Umbruch veränderte sich nun auch das Parteiensystem in der DDR grundlegend. Zahlreiche neue Gruppierungen und Parteien - deren Wurzeln häufig in der Oppositionsbewegung der Vorwendezeit lagen - gründeten sich. Die bisherigen Blockparteien lösten sich aus der Abhängigkeit der SED. Auch die SED machte einen Veränderungsprozess durch. Seit Anfang 1990 führte sie den Namen „Partei des Demokratischen Sozialismus“ (PDS).

Wahlrecht

Die 400 Abgeordneten der Volkskammer wurden nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts gewählt. Das Wahlgebiet wurde in 15 Wahlkreise eingeteilt. Jeder Wähler verfügte über eine Stimme, die er für eine Liste abgeben konnte. Zur Wahl zugelassen waren sowohl Parteien als auch politische Vereinigungen. Eine Sperrklausel gab es nicht. Die Wahlbeteiligung betrug 93,4%. Klarer Wahlsieger wurden mit rund 48% die Parteien der „Allianz für Deutschland“, in der sich CDU (Ost), Demokratischer Aufbruch (DA) und Deutsche Soziale Union (DSU) zusammengeschlossen hatten. Sie hatten sich im Wahlkampf für eine zügige Währungsunion und die schnellstmögliche Verwirklichung der Deutschen Einheit ausgesprochen.

Zweitstärkste Kraft wurde die lange Zeit in den Umfragen führende SPD (Ost) mit 21,8%, gefolgt von der PDS mit 16,3% und dem „Bund Freier Demokraten“ mit 5,3%. Vertreter der Bürgerbewegung wie „Bündnis 90“ und „Grüne Partei + Unabhängiger Frauenverband (UFV)“, die maßgeblich an der politischen Wende mitgewirkt hatten, erzielten nur 2,9% bzw. 2,0%. Am 12. April 1990 wurde der Spitzenkandidat der CDU, Lothar de Maizière, von der Volkskammer zum Ministerpräsidenten gewählt. Er stand einer Koalitionsregierung aus den Parteien der „Allianz für Deutschland“, dem „Bund Freier Demokraten“ und der SPD vor.

Parlament der Umbruchszeit

Der ersten frei gewählten DDR-Volkskammer gehörten insgesamt 409 Abgeordnete an: 400 bei den Wahlen vom 18. März 1990 gewählte Mitglieder sowie neun weitere Parlamentarier, die für ausgeschiedene Abgeordnete nachgerückten. Nicht zuletzt mit Blick auf die soziale und demographische Zusammensetzung ihrer Mitglieder lässt sich die 10. Volkskammer als „Parlament der Umbruchszeit“ charakterisieren. Im Vergleich zu anderen demokratischen Parlamenten war die Volkskammer ein „junges“ Parlament. Das Durchschnittsalter lag zu Beginn bei 41,8 Jahren. Nur 3% der im März 1990 gewählten Abgeordneten hatten bereits der vorherigen 9. Volkskammer angehört.

Inwieweit die Mitglieder der Volkskammer über anderweitige politische Vorerfahrung verfügten, ist schwer einzuschätzen. Einschlägigen Studien zufolge scheinen wesentlich mehr Abgeordnete schon vor 1989 kommunal- und parteipolitisch aktiv gewesen zu sein als angenommen. Gesichert ist jedoch, dass sich im Gegensatz zur DDR-Bevölkerung, die 1990 zu rund 70% ohne Kirchenbindung lebte, nicht einmal jeder sechste Volkskammerabgeordnete (15,6%) als atheistisch bezeichnete. Knapp zwei Drittel (64,2%) bekannten sich zu einer der beiden christlichen Konfessionen.

Parlamentarische Leistungsbilanz

Als sich die 10. Volkskammer am 5. April 1990 im „Palast der Republik“ konstituierte und die CDU-Abgeordnete Sabine Bergmann-Pohl zu ihrer Präsidentin wählte, fand sie eine parlamentarische Infrastruktur vor, die gemessen an ihrer neuen Funktion als zentrales Organ der Legislative vollkommen unzureichend war. Bis zur friedlichen Revolution hatten sich die Volkskammerabgeordneten, die ihr Mandat unter der SED-Diktatur ehrenamtlich ausübten, nur zwei- bis dreimal im Jahr zu Plenartagungen zusammengefunden. Eine Parlamentsverwaltung, die die Abgeordneten bei ihrer Arbeit unterstützte, war deshalb entbehrlich gewesen und nur für die Bereiche eingerichtet worden, in denen die Volkskammer repräsentative Pflichten zu erfüllen hatte.

Darüber hinaus stand im „Palast der Republik“ den Volkskammerabgeordneten nur eine sehr geringe Anzahl von Funktionsräumen zur Verfügung. Eigene Büros waren für sie unter der SED-Diktatur nicht eingerichtet worden. Um der Raumnot abzuhelfen, übernahm die frei gewählte Volkskammer große Teile des Hauses des SED-Zentralkomitees. Dorthin sollte sie auch ausweichen, als am 19. September 1990 der „Palast der Republik“ wegen zu hoher Asbestbelastung geschlossen werden musste.

150 Gesetze verabschiedet, 100 Beschlüsse gefasst

Trotz der widrigen Arbeitsbedingungen haben die Abgeordneten der 10. Volkskammer ein enormes Arbeitspensum absolviert. Insgesamt kam die frei gewählte Volkskammer zu 38 Sitzungen zusammen, die nahezu vollständig durch das Fernsehen und den Hörfunk übertragen wurden. In ihrer nur sechsmonatigen Legislaturperiode verabschiedete die 10. Volkskammer mehr als 150 Gesetze und fasste rund 100 Beschlüsse. Zu ihnen gehörten am 17. Juni 1990 die neuen Verfassungsgrundsätze der DDR, mit denen die sozialistischen Elemente der alten Verfassung außer Kraft gesetzt wurden; am 21. Juni 1990 das Gesetz zum Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland und am 20. September 1990 das Gesetz zum Vertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland über die Herstellung der Einheit Deutschlands, der auf rund 1000 Seiten die Modalitäten des Beitritts der DDR regelte.

In einer Sondersitzung in der Nacht vom 22. auf den 23. August 1990 beschloss die Volkskammer mit 294 Stimmen bei 62 Nein-Stimmen und sieben Enthaltungen den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 GG zum 3. Oktober 1990.

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