Parlament

Bundestag erhebt sich in Gedenken an Antje Vollmer

Die Abgeordneten des Bundestages haben zu Beginn der Plenarsitzung am Freitag, 17. März 2023, der verstorbenen ehemaligen Parlamentsvizepräsidentin Antje Vollmer gedacht und sich zu einer Schweigeminute erhoben. Zuvor würdigte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die frühere Grünen-Politikerin als eine „herausragende Parlamentarierin“ und als eine Pionierin, die ihr Amt mit Leidenschaft und Würde ausgefüllt habe. Vollmer war am Mittwoch zuvor nach langer Krankheit gestorben.

Die erste grüne Vizepräsidentin des Bundestages

Antje Vollmer
Porträtaufnahme von Antje Vollmer

Antje Vollmer (Bündnis 90/Die Grünen) war elf Jahre lang, von 1994 bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, (DBT/Werner Schüring)

Als Vollmer 1983 auf der Liste der Grünen in den Bundestag einzog, war sie selbst noch kein Parteimitglied. Als sie jedoch 2005 aus dem Parlament ausschied, „war sie weit über die Grünen hinaus bekannt und anerkannt“, sagte Bas über die promovierte Theologin aus dem ostwestfälischen Lübbecke und nannte sie „eine der profiliertesten Frauen in der deutschen Politik“. Vollmer wurde 1994 die erste grüne Vizepräsidentin des Bundestages.

Sowohl ihre Partei als auch den Deutschen Bundestag habe Vollmer in diesen fünf Wahlperioden entscheidend geprägt. Und immer wieder habe sie zu den Ersten gehörte: „zu den ersten grünen Abgeordneten im Parlament. Und zu den ersten Frauen der Bonner Republik, die selbstbewusst ihren Platz in der Politik einforderten“.

Bas: Sie glaubte an die Kraft des Dialogs

Bas steht am Platz des Präsidiums vor einem Mikrofon und spricht, neben ihr sitzen die Schriftführer

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas würdigte zu Beginn der Plenarsitzung die ehemalige Parlamentsvizepräsidentin Antje Vollmer. (DBT/Sebastian Rau/photothek)

Bas erinnerte in diesem Zusammenhang auch an das „legendäre grüne Feminat“, den ersten rein weiblichen Fraktionsvorstand in der deutschen Parlamentsgeschichte, und zitierte Vollmer mit den Worten: „Ich habe viel mitgestaltet. Die vorderen Plätze sind mir nicht so wichtig wie die Autorenschaft an Ideen.“

Stets habe Vollmer über „Lager- und Milieugrenzen hinweg“ wirken wollen, sagte die Parlamentspräsidentin und erinnerte nicht zuletzt an die Verdienste, die sich die Grünenpolitikerin um die deutsch-tschechische Aussöhnung erworben habe. „Sie glaubte an die Kraft des Dialogs auch zwischen Staaten. Sie war eine überzeugte Pazifistin und blieb dies auch, über alle Zeitenwenden hinweg“, sagte Bas im Plenum.

Von Ostwestfalen nach Berlin und zurück

Der Weg in den Bundestag führte Vollmer vom Abitur 1962 zunächst nach Berlin, wo sie von 1969 bis 1971 als wissenschaftliche Assistentin an der Kirchlichen Hochschule und von 1971 bis 1974 als Vikarin im Bezirk Wedding tätig war. 1971 nahm sie ein Studium der Erwachsenenbildung auf, das sie 1975 abschloss. 1973 wurde sie zur Dr. phil. promoviert.

1976 zog es sie zurück nach Ostwestfalen, wo sie bis 1982 als Dozentin in der ländlichen Bildungsarbeit an der Evangelischen Heimvolkshochschule bei den Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld arbeitete. „Ich bin ja Ostwestfälin, und Ostwestfalen sind ein bisschen anarchistische Dickköpfe. Also die sind schwer umzustimmen, wenn sie von einer Sache sehr überzeugt sind, aber gleichzeitig sehr bodenständig“, sagte sie 2010 dem Deutschlandfunk in einem Zeitzeugengespräch.

Abgeordnete bis 1990

Als die Grünen nach der Bundestagswahl am 6. März 1983 erstmals in den Bundestag einzogen, war auch Antje Vollmer mit dabei, die den Einzug über die Landesliste Nordrhein-Westfalen ihrer Partei schaffte. Parteimitglied wurde sie jedoch erst 1985. Im April jenes Jahres schied sie aufgrund des Rotationsprinzips bei den Grünen aus dem Bundestag aus, um nach der Bundestagswahl vom 25. Januar 1987 erneut einzuziehen.

Bis zur ersten gesamtdeutschen Wahl am 2. Dezember 1990 war sie insgesamt drei Jahre lang Ko-Fraktionssprecherin. 1984 war der Fraktionsvorstand ausschließlich mit Frauen besetzt (sogenanntes „Feminat“). Dazu zählten neben Antje Vollmer Annemarie Borgmann, Waltraud Schoppe, Christa Nickels, Heidemarie Dann und Erika Hickel.

Initiativen bis 1998

Bei der gesamtdeutschen Wahl 1990 waren die west- und die ostdeutschen Grünen („Bündnis 90/Grüne“) mit getrennten Wahllisten angetreten, wobei die West-Grünen an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Die Ost-Grünen bildeten mit acht Abgeordneten eine Gruppe im Bundestag. In dieser Zeit betätigte sich Antje Vollmer als Publizistin, arbeitete in einer Epilepsieklinik in Bethel mit und war 1993/1994 Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin.

Als Abgeordnete hatte sich Antje Vollmer bereits seit 1984 für eine Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter, NS- und sogenannte Euthanasieopfer, Homosexuelle und Wehrdienstverweigerer eingesetzt. 1985 begann sie einen Dialog mit Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) bis zu deren Selbstauflösung im Jahr 1998. Bei der Bundestagswahl am 16. Oktober 1994 gelang ihr auf der hessischen Landesliste ihrer Partei der Wiedereinzug in den Bundestag.

Deutsch-Tschechische Versöhnungserklärung

Antje Vollmer war neben dem tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel treibende Kraft für die Deutsch-Tschechische Versöhnungserklärung. Nachdem die Regierungschefs und Außenminister beider Länder die Erklärung am 21. Januar 1997 im Palais Liechtenstein in Prag unterzeichnet hatten, verabschiedete der Bundestag neun Tage später mit breiter Mehrheit die „Deutsch-Tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung“ (13/6848, 13/6787).

In der Aussprache sagte Antje Vollmer: „Wer ein einheitliches, friedliches Europa will, ein Europa der großen und kleinen Demokratien, der muss zunächst Frieden in der Mitte Europas herstellen. Diesem Frieden, diesem Zur-Ruhe-Kommen in der Mitte des Kontinents, dient diese Erklärung.“

Initiativen nach 1998

Nach der Bundestagswahl 1998 und der Regierungsbildung von SPD und Bündnisgrünen machte sich Antje Vollmer dafür stark, dass der Bundestag einen eigenen Kulturausschuss einrichtet. Sie unterstützte das Projekt „Straßenfußball für Toleranz“, das im Jahr 2000 in Brandenburg zusammen mit der Sportjugend startete und viele Nachahmer fand. Für das Projekt konnte sie auch den ehemaligen Nationalspieler und späteren -trainer Jürgen Klinsmann gewinnen. 2001 war sie Mitinitiatorin des deutsch-chinesischen Rechtsstaatsdialogs. 2004 trat sie für eine Sendequote für deutschsprachige oder in Deutschland produzierte Musik ein.

Zur Bundestagswahl 2005 trat Antje Vollmer nicht mehr an. Sie war seither als Autorin und Publizistin sowie als Gastprofessorin für Politikmanagement der Stiftung Mercator an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen tätig. Am 19. Januar 2010 trat sie allerdings im Bundestag noch einmal in Erscheinung, als sie dem Bundestagspräsidenten Norbert Lammert den Abschlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung übergab.

Runder Tisch Heimerziehung

Der Runde Tisch war am 26. November 2008 einstimmig unter Vorsitz von Antje Vollmer eingerichtet worden, nachdem sich ehemalige Heimkinder an den Petitionsausschuss gewandt und menschenunwürdige Erziehungsmethoden, entwürdigende Bestrafungen, körperliche und sexuelle Gewalt, unentgeltliche Arbeit sowie religiösen Zwang in den westdeutschen Heimen zwischen 1949 und 1975 beklagt hatten. Der Runde Tisch empfahl, einen Entschädigungsfonds für ehemalige Heimkinder in Höhe von 120 Millionen Euro einzurichten, der zu jeweils einem Drittel durch den Bund, die Länder sowie die katholische und evangelische Kirche gespeist werden sollte.

Geehrt wurde Antje Vollmer unter anderem mit dem Masaryk-Orden der Tschechischen Republik für Verdienste um die deutsch-tschechische Aussöhnung und mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Sie hinterlässt ihren Sohn Johann. (ste/vom/17.03.2023)

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