13.02.2022 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Begrüßung der 17. Bundesversammlung

[Stenografischer Bericht]

Präsidentin Bärbel Bas:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen allen einen schönen Sonntag. Bitte nehmen Sie Platz.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrte Frau Büdenbender! Verehrte Repräsentanten der Verfassungs-organe! Sehr geehrte Frau Präsidentin Süssmuth! Sehr geehrte Mitglieder der 17. Bundesversammlung! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich begrüße Sie zur 17. Bundesversammlung – an ungewöhnlichem Ort, zu schwierigen Zeiten.

Nichts ist in diesen Tagen normal. Umso mehr freue ich mich, Sie heute hier im Paul-Löbe-Haus zur Wahl unseres Staatsoberhauptes willkommen zu heißen. Wir haben strenge Vorkehrungen zu Ihrem Schutz getroffen. Denn das Virus breitet sich weiter aus. Die Pandemie bedroht vor allem ohnehin geschwächte und verletzliche Menschen. Befallen hat sie dieses Land im doppelten Sinn: Scheinbar unversöhnlich stehen sich Menschen gegenüber, die unterschiedliche Einstellungen haben. Die Stimmung im Land, in Familien, in Freundeskreisen leidet darunter. Dagegen hilft kein Impfstoff.

Polarisierung gab es in der Geschichte der Bundes-republik immer wieder. In dieser Krise scheint unserer Gesellschaft aber viel Verbindendes verloren zu gehen, auch das Vertrauen in unsere eigene Kraft. Viele bezweifeln, dass wir unsere Probleme in den Griff bekommen. Sie trauen der Politik und den staatlichen Institutionen wenig zu. Sie fühlen sich ohnmächtig.

Es gibt Gründe dafür: Im Kampf gegen das Virus haben wir immer wieder Rückschläge erlebt. Wir tun uns schwer mit der Einsicht, dass auch Fachleute noch immer nicht das eine Rezept der Wirksamkeit gegen die Pandemie kennen, dass die Politik Entscheidungen trifft und sie später korrigieren muss. Der notwendige, sachliche Dia-log über Lösungsansätze und politische Entscheidungen wird durch Hass und Hetze erschwert. Schlimmer noch sind Gewaltaufrufe oder sogar Gewaltausbrüche.

Und das ist wahrlich nicht alles: Wir alle machen uns große Sorgen um den Frieden mitten in Europa. Die Lage in der Ukraine nimmt eine Entwicklung, die wir uns alle noch vor Kurzem nicht hätten vorstellen können. Mehrere Staaten haben ihre Bürgerinnen und Bürger dazu aufgerufen, das Land zu verlassen, so gestern auch die Bundesregierung.

Nie wieder Krieg – das war für uns Europäer die Lehre aus zwei verheerenden Weltkriegen. Wir sind zum Frieden verpflichtet. Wir alle bleiben täglich dazu aufgerufen, ihn zu bewahren, Trennendes zu überwinden und Konflikte zivilisiert auszutragen. Nutzen wir alle Möglichkeiten der Diplomatie, um die Gefahr eines Krieges zu bannen. Jeder Krieg kennt nur Verlierer!

(Beifall bei der weit überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung)

Als ob dies nicht genug wäre, sorgen wir uns auch um die enormen Herausforderungen, die der Klimawandel mit sich bringt. Die Migrationsbewegungen stellen die Weltgemeinschaft vor eine Jahrhundertaufgabe. Und auch in ihrem Alltag blicken viele mit Sorge auf die Inflation und steigende Energiepreise. Nicht wenige fragen sich, wie sie diese zusätzlichen Belastungen schultern sollen. Und auch die Entwicklung innerhalb der Europäischen Union gibt einigen Anlass zur Sorge.

Aber: Sind wir den Problemen dieser Zeit wirklich ausgeliefert? Haben wir keine Möglichkeit, voranzukommen? – Natürlich kann auch ich nicht den Ausweg aus all diesen Krisen weisen. Sie alle dürfen aber erwarten, dass ich uns Mut mache, und das mache ich aus vollster Über-zeugung.

(Beifall bei der weit überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung)

„Die Tugend des Mutes ist unterbewertet, weil es uns seit Generationen sehr gut geht“, sagt der frühere Bundes-präsident Joachim Gauck. Schauen wir zurück: Hatten es andere Generationen leichter? – Wohl kaum. Jede Zeit stellt neue Aufgaben. Mit jedem Schritt vorwärts sind Risiken verbunden. Jede Entwicklung löst Nebenwirkungen aus, vorhersehbare und unvorhersehbare. Trauen wir uns dennoch Veränderung und Fortschritt zu! Machen wir uns klar, dass Furcht nicht weiterhilft! Stellen wir uns der Zukunft! Lassen wir uns nicht einreden, dass wir anstehende Probleme nicht lösen können!

(Beifall bei der weit überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung)

Im Gegenteil: Wir können und wir werden diese Herausforderungen meistern; denn Deutschland hat eine starke und bewährte Verfassung. Das Grundgesetz führt uns heute in dieser Bundesversammlung zusammen, gewählte Abgeordnete – die 736 Mitglieder des Deutschen Bundestages – und ebenso viele Vertreterinnen und Ver-treter der 16 Bundesländer. Das spiegelt die föderale Ordnung unseres Landes wider. Es ist auch gute Tradition: Neben den Parlamentsmitgliedern entsenden die Länder verdiente Bürgerinnen und Bürger, die kein Mandat in einem Parlament haben. Ich sehe zwei Sportlerinnen mit Behinderung, eine Verlegerin und einen Fußballprofi. Gleich mehrfach vertreten sind Branchen, denen die Pandemie besonders viel abverlangt: die Pflege, die Medizin, die Virologie, auch das Friseurhandwerk. Unter uns sind ein großer Pianist, eine erfolgreiche Impfstoffentwicklerin und eine verdiente vormalige Bundeskanzlerin. Liebe Frau Dr. Merkel, ich begrüße Sie stellvertretend für alle Anwesenden in dieser Bundesversammlung!

(Langanhaltender Beifall bei der weit über-wiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung – Dr. Angela Merkel erhebt sich)

Ich freue mich sehr, dass Sie alle angereist sind, um unser Staatsoberhaupt zu wählen.

Ich möchte allen, die diese besonders aufwendige Bundesversammlung mit viel Umsicht geplant und organisiert haben, herzlich danken: für den Aufbau hier im Paul-Löbe-Haus, für die Sicherheit im Haus, für die Begleitung der Delegierten, für die Unterstützung der Medien oder für die Arbeit in den Testzentren. Überall braucht es Helferinnen und Helfer, und ich glaube, ich kann im Namen von Ihnen allen sagen: Herzlichen Dank dafür!

(Beifall)

Diese Sitzung zeigt: Auch unter erschwerten Bedingungen erfüllen wir den Auftrag des Grundgesetzes. Unser Staat funktioniert, auch in schwieriger Zeit. Für die Wahl des Staatsoberhauptes haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes genau dieses Verfahren eingeführt. Anders als die Parlamente stimmt die Bundesversamm-lung ohne Aussprache, ohne vorausgehende Wahlkampf-reden ab. Das unterstreicht die herausgehobene, überparteiliche Rolle des Amtes.

Der parlamentarische Alltag dagegen braucht die Debatte und auch den Widerspruch. Bevor Entscheidungen fallen, müssen Argumente ausgetauscht, Alternativen diskutiert, Kompromisse ausgehandelt werden. Das ist anspruchsvoll; denn unsere Gesellschaft wird immer viel-fältiger. Und es kann nur gelingen, wenn sich alle an die Spielregeln halten und bereit sind, die mit Mehrheit getroffenen Entscheidungen zu akzeptieren.

Doch wir dürfen schon fragen, ob wir jeden Streit aus-halten müssen. Ich wünsche mir eine zivilisierte Auseinandersetzung und einen respektvollen Umgang mit-einander. Wir merken doch, dass Anschuldigungen nichts bringen – von gewaltsamen, strafbewehrten Über-griffen gar nicht zu reden. Jeder hat das Recht, politische Vorhaben zum Klimaschutz für zu schwach zu halten oder Coronamaßnahmen für zu streng. Wer sich an das Recht hält, darf demonstrieren und seine Meinung äußern. Aber wer sich selbst ein eigenes Recht schafft, das Recht auf die alleinige Wahrheit, der setzt sich ins Unrecht.

(Beifall bei der weit überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung)

Das gilt natürlich auch im Netz, wo zunehmend Hemmungen wegbrechen.

„Der andere kann auch recht haben.“ Rita Süssmuth hat diesen Satz oft wiederholt. Er sagt sich leicht. Schwer ist es, danach zu handeln, erst recht, wenn widerstreitende Positionen verhärtet sind, Weltbilder verfestigt und trennende Lebenserfahrungen prägend.

Die aktuelle Zuspitzung in den Debatten zeigt mir: Wir brauchen eine größere Offenheit. Die Mehrheit hat nicht automatisch recht – die Minderheit aber auch nicht. Alle müssen sich bewegen, aufeinander zugehen. Wer Gegen-positionen einfach abtut, macht es sich zu leicht. Niemand ist im Besitz der einzig richtigen Lösung.

(Beifall bei der weit überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung)

Wir sollten den Wettbewerb der Argumente zulassen und den Bürgerinnen und Bürgern noch mehr zuhören. Das kann die Debatte in der parlamentarischen Demokratie nur bereichern. Die Bürgerräte sind nur ein Beispiel dafür, wie ein konstruktiver und lebendiger Austausch zwischen der Politik und der Bevölkerung funktionieren kann und die gesellschaftliche Debatte an Breite gewinnt. Wichtig ist, die Meinungen und Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger auch ernst zu nehmen. Anderenfalls wachsen Unmut und Unzufriedenheit.

Die Demokratie lebt nicht aus sich heraus oder des-halb, weil sie auf dem Papier steht. Sie lebt von Gemeinsinn und Offenheit. Akzeptanz erfährt die Politik, wenn wir uns daran orientieren. Wir werden niemals die Wünsche aller erfüllen können. Aber wenn wir vorankommen wollen, müssen wir offen sein für neue Perspektiven – in den Kommunen, auf der Landes- und Bundesebene.

Auch Kritik ist notwendig und sinnvoll, wenn sie konstruktiv ist. Stellen wir, die politisch Verantwortlichen, uns ernsthaft genug die Frage, warum Zweifel an unse-rem Tun und an Institutionen des Staates wachsen? Sind wir in der Lage, ehrlich zu antworten, oder gehen wir gleich in eine Verteidigungshaltung?

Es gibt leider immer wieder Grund, das Fehlverhalten Einzelner anzuprangern, wenn zum eigenen Vorteil die Grenzen der Legalität bis ins Letzte ausgereizt oder sogar überschritten werden. Dennoch: Die allermeisten Vertreterinnen und Vertreter des Volkes sind aufrichtig und wollen ihrer Aufgabe gerecht werden, so wie die Bür-gerinnen und Bürger in ihrem Lebensumfeld auch.

(Beifall bei der weit überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung)

Zu Recht ärgern sie sich über Unzulänglichkeiten, wie sie jetzt in der Pandemie zutage treten: von der ungenügenden Ausstattung vieler Schulen bis zu unzumutbaren Bedingungen in der Pflege, unter denen das Pflegepersonal, die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen lei-den.

Doch trotz vieler Missstände sollten wir nicht gnaden-los im Urteil sein. Gnadenlosigkeit führt zu einer gefährlichen Haltung gegen alles und jedes. Sie vergiftet die gesellschaftliche Auseinandersetzung und lähmt die Suche nach Lösungen für vertrackte Probleme. Sie nimmt uns die notwendige Energie, um aus verfahrenen Situationen herauszufinden.

Besinnen wir uns darauf, dass wir in der Vergangenheit immer wieder Trennendes überwunden haben – zwischen einzelnen Menschen mit unterschiedlicher Weltanschauung und Herkunft, Misstrauen zwischen Generationen, sogar die Feindschaft zwischen Völkern.

Das zeigt auch die Geschichte dieses Tages: Am 13. Februar 1945 wurde das historische Dresden zerstört. Viele, viele Tausend Menschen verloren ihr Leben. Mit diesen Toten, mit dem verheerenden Bombardement, mit dem Leid der Davongekommenen wurde immer wieder Politik gemacht, bereits im Zweiten Weltkrieg und erst recht danach. Die Propaganda endete auch nicht mit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Weiter wurde versucht, die Millionen Opfer des verheerenden Weltkrieges, der von Deutschland ausgegangen war, gegeneinander aufzurechnen, revisionistische Gedanken zu verbreiten, deutsche Schuld kleinzureden – sogar im Verhältnis zu den Millionen Opfern der Shoah.

Wir leben seit fast 77 Jahren in Frieden. Die Euro-päische Union gründet auf Versöhnung. Daran zu er-innern, ist weit mehr als ein Ritual für feierliche Anlässe wie diesen. Aber auch in der Europäischen Union wird über Grundwerte, Fragen der Rechtsstaatlichkeit und das gestritten, was Solidarität konkret bedeutet.

Bei allem, was uns heute entzweit, sollte uns eines zusammenhalten: die Verpflichtung, Frieden und Demokratie zu bewahren und die Gemeinschaft in unserem europäischen Haus zu stärken.

(Beifall bei der weit überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung)

Wir haben gute Voraussetzungen dafür. Mit gleicher Tat-kraft und mit gleichem Mut müssen wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land fördern – wenn wir einander achten und aufeinander achten, wie der verstorbene Bundespräsident Johannes Rau es formuliert hat.

Rau wusste, dass darin die entscheidende Aufgabe der Bundespräsidenten liegt: im Zusammenführen. Ihre Machtbefugnisse sind beschränkt. Aber über die Macht des Wortes verfügen unsere obersten Repräsentanten uneingeschränkt. Begegnungen und Austausch sind ihre Formate. Sie können in ihrem Amt versöhnen.

Halten wir zusammen! Suchen wir das Verbindende! Setzen wir da an, wo wir etwas bewegen können, jede und jeder von uns – zusammen mit dem Staatsoberhaupt, das zu wählen jetzt die Aufgabe aller Anwesenden ist!

Herzlichen Dank.

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