[Es gilt das gesprochene Wort]
Sehr geehrter Herr Hahn (Hausherr als Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing),
Lieber Dr. Wolfgang Thierse (Bundestagspräsident a.D., Leiter des Politischen Clubs der Akademie)
- Ggf. anwesend: Sehr geehrter Herr Prof. Harbarth,
Sehr geehrter Herr Prof. Heuss, (Vorsitzender der Theodor Heuss Stiftung - Kooperationspartner)
Sehr geehrte Damen und Herren,
75 Jahre wird die Evangelische Akademie in Tutzing in diesem Jahr alt. Sie ist älter als die Bundesrepublik Deutschland.
Und Sie war von Anfang eine engagierte Begleiterin unserer Demokratie.
Ich gratuliere herzlich zu diesem Jubiläum!
Hier in Tutzing wurde Demokratiegeschichte geschrieben. Und in ihrer Geschichte hatte die Demokratie – nicht nur unsere! – einen beständigen Begleiter: Den Zweifel.
Zweifel an ihrer Leistungsfähigkeit.
Zweifel an ihrer Wandlungsfähigkeit.
Zweifel an ihrer Zukunft.
Das ist erstmal nichts Schlechtes.
Demokratie zeichnet aus, dass sie Zweifel zulässt. Dass es möglich ist, Kritik und Sorgen frei zu äußern. Dass sie die Rechte von Mehrheiten und Minderheiten wahrt.
Darin liegt unsere Freiheit. Das macht sie so schützenswert.
Umso wichtiger ist, dass wir die Zukunft der Demokratie im Blick haben, ohne die Vergangenheit aus dem Auge zu verlieren.
In der Geschichte der Demokratie gab es zahlreiche Abgesänge auf diese Staatsform.
Es gab Fehlentwicklungen und Rückschläge.
Gerade in Deutschland hat es lange gedauert, bis wir von einer „geglückten Demokratie“ sprechen konnten.
Aber die Demokratie lebt.
Sie hat sich immer wieder neu erfunden, weiterentwickelt und modernisiert.
Sie hat die Gewaltenteilung und die Herrschaft des Rechts verinnerlicht.
Sie schützt die Menschenrechte und sorgt für sozialen Ausgleich und Mitbestimmung.
Sie lebt.
In Deutschland als wehrhafte Demokratie, mit einer starken Verfassung als Basis.
Einem Grundgesetz, das wichtige Lehren gezogen hat aus der wechselvollen Geschichte unseres Landes.
Ja – unsere Demokratie lebt und hat sich als robust erwiesen.
Trotzdem könnte sie noch lebendiger sein.
Ich glaube: Sie muss noch vitaler werden, um unserer Zeit gewachsen zu sein.
Global betrachtet durchlebt die Demokratie eine Schwächephase. Laut dem Demokratie-Index der Economist-Gruppe lebten 2021 nur noch knapp 46 Prozent der Weltbevölkerung in einer Demokratie.
Ein ähnliches Bild zeichnet der Bertelsmann Transformations-Index. In diesem Jahr verzeichnet er erstmals mehr Autokratien – nämlich 70 gegenüber 67 demokratisch legitimierten Regierungen.
Diese Entwicklung muss uns Sorgen machen. Selbstverständlich ist die Demokratie trotzdem zukunftsfähig.
Um an Paul Noack, den früheren Leiter des politischen Clubs der Evangelischen Akademie, anzuknüpfen: „Demokratie ist das, was Demokraten daraus machen.“
Als Noack diese Worte Ende der 1970er Jahre formulierte, wirkte der neue demokratische Aufbruch noch kräftig nach.
Die 68er-Bewegung konfrontierte die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft mit ihren Lebenslügen,
stellte Konventionen in Frage, stritt für Freiräume und Mitsprache. Mit der Losung „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ hatte Willy Brandt das Leitmotiv des Wandels gesetzt.
Knapp zehn Jahre später stand das Land aber unter dem Eindruck von Ölpreisschock und Wirtschaftskrise. Der gesellschaftliche Protest hatte sich radikalisiert – und zu den Terrortaten des Deutschen Herbstes geführt. Diese Zeit war eine schwierige Bewährungsprobe für unser Land und seine demokratischen Institutionen.
Die Demokratie in Deutschland hat seither weiter ihren Weg gemacht. Der Freiheitswille der Menschen siegte in der friedlichen Revolution über die Diktatur - und führte zur Deutschen Einheit. Aus der Bonner wurde die Berliner Republik.
Im Wettbewerb steht unsere Demokratie trotzdem noch immer. Und dieser Wettbewerb ist hart. Die Demokratie muss ihre Leistungsfähigkeit beweisen - heute dringender denn je. Im innerdemokratischen Vergleich, vor allem aber gegenüber autoritären Systemen auf der ganzen Welt.
Es ist noch nicht lange her, da haben viele voller Bewunderung nach China geblickt. Wegen seiner wirtschaftlichen Dynamik und seiner Fähigkeit, erfolgreiche Großprojekte umzusetzen. Um den Preis einer Politik, die Wohlstand verspricht, um Freiheit zu unterdrücken.
Ja, in China schafft man es, in Rekordzeit hochmoderne Städte aus dem Boden zu stampfen. Doch es hat sich gezeigt: In Rekordzeit können sich diese Städte aber auch in regelrechte Gefängnisse verwandeln. Und das nur, weil das Regime in Peking mit seiner Corona-Politik gescheitert ist. Auch in diesem Fall wollte man angesichts blendender Wachstumsbilanzen vieles nicht sehen.
Wir haben wieder Krieg in Europa. Wir haben die Entwicklung dorthin unterschätzt. Haben zu lange weggesehen. Und Fehler im Umgang mit Russland gemacht.
Dazu gehört, dass wir in der demokratischen Debatte vielleicht zu viel Harmonie gesucht haben. Wir haben zu wenig Streit gewagt. In Deutschland haben wir zu lange über Russlands autoritäre Entwicklung im Innern wie im Äußeren diskutiert.
Rote Linien hat Russland seit Jahren überschritten– im Georgienkrieg 2008, bei der Besetzung der Krim 2014, bei Russlands Eingreifen in den Syrienkrieg 2015. Russland hat immer wieder gezeigt, dass es keine Demokratie und kein Partner ist.
Sehr geehrte Damen und Herren,
in der Ukraine kämpft aktuell ein Land ums Überleben, das sich für Freiheit und Demokratie in Europa entschieden hat. Der Kampf um die Zukunft der Ukraine ist auch ein Kampf um unsere Werte. Um unsere freiheitliche Art zu leben. Beide sind akut bedroht. Davor dürfen wir nicht die Augen verschließen.
Der russische Angriffskrieg hat viele von uns aufgerüttelt. Wir mussten vermeintliche Gewissheiten hinter uns lassen. Wir müssen neu nachdenken, wie wir wieder zu einer stabilen Sicherheitsordnung kommen. Für uns als Nation und gemeinsam mit unseren Partnern in Europa und der Welt.
Aber wir müssen nicht nur unsere Sicherheitspolitik neu denken. Neu nachzudenken gilt es auch über die Risiken globaler Lieferketten. Über die Nachhaltigkeit unseres Wirtschaftsmodells. Über unsere Verletzlichkeit – nicht nur ökonomisch.
Der jüngste Bericht des Stockholmer Instituts für internationale Friedensforschung (SIPRI) zeichnet ein düsteres Bild: Wir stehen vor einer Zwillingskrise, in der Sicherheits- und der Umweltpolitik: Unser Lebensstil hat dem ökologischen Gleichgewicht unseres Planeten massiv geschadet.
Immer schneller fallen die Auswirkungen dieses Raubbaus auf uns zurück. Klimawandel und Ernteschäden verschärfen Krisen und Konflikte – rund um den Globus. Armut, Hunger und Gewalt treiben die Menschen in die Flucht. Die ohnehin zerbrechliche Sicherheitslage unserer Welt bekommt weitere Risse.
Und ich zitiere: Die „[…]Institutionen mit der Macht, Lösungen zu finden, einschließlich Regierungen, wachen viel zu langsam auf.“ Diese Warnung aus Stockholm ist unmissverständlich.
Wir brauchen dringend Lösungen.
Die Demokratien dieser Welt sind gefordert. Krisenbewältigung im Notfallmodus ist wichtig.
Aber um die Probleme des Planeten in den Griff zu bekommen, braucht es langfristige Konzepte, schmerzhafte Anpassungen, grenzüberschreitenden Wandel. Eine „große Transformation“.
Wenn Demokratien nur als Getriebene erscheinen und sich auf das Reagieren beschränken, dann kann diese Transformation nicht gelingen.
Politik muss ihrem Anspruch gerecht werden, gestalten zu wollen und gestalten zu können.
Sie braucht Zeit.
Wir müssen die Menschen von einer Politik überzeugen, die über die aktuelle Krise hinausdenkt. Ihnen deutlich machen: Wenn wir heute Zumutungen auf uns nehmen, werden wir in der Zukunft umso stärker profitieren. Daran entscheidet sich, ob unsere Zivilisation bestehen kann. Um nicht weniger geht es.
Diese Überzeugungsarbeit ist Schwerstarbeit. Auch für die Politik in Deutschland.
In der Demokratie entscheiden die Menschen selbst über die Vergabe politischer Macht. Das verleiht Demokratien ihren „Legitimationsvorsprung“.
Demokratische Politik muss sich gegenüber der Öffentlichkeit rechtfertigen. Umso problematischer ist es, wenn in der Bevölkerung Vertrauen verloren geht.
In Westdeutschland findet beinahe ein Drittel (28%) der Befragten: Sie lebten in einer Scheindemokratie, in der die Bürger nichts zu sagen haben.
In Ostdeutschland ist es fast die Hälfte (45%). So das Ergebnis einer Befragung des Allensbach-Instituts im Auftrag des SWR. Durchgeführt im Februar 2022.
Natürlich sind solche Befragungen Momentaufnahmen, ihre Aussagekraft ist begrenzt. Aber das Ergebnis fügt sich in ein beunruhigendes Gesamtbild ein: Es ist etwas nicht in Ordnung zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und ihrem demokratischen System -- also seinen Institutionen und Repräsentanten.
Die Demokratie steht vor einer doppelten Entfremdung.
Das Bild der demokratischen Praxis entfremdet sich vom demokratischen Ideal.
Die Bürgerinnen und Bürger wenden sich von ihren demokratischen Institutionen ab.
Beides zusammen sehen Armin Schäfer und Michael Zürn als Ausgangspunkte einer „demokratischen Regression.“
Die Demokratie kämpft mit einem Leistungsproblem, einem Vermittlungs- bzw. Wahrnehmungsproblem und einem Beteiligungsproblem. Sie alle sind miteinander verflochten.
Was daraus folgt treibt uns seit Jahren um: Politikerverachtung, Parteienverdrossenheit, Wahlabstinenz.
Bei der vergangenen Landtagswahl in meiner Heimat Nordrhein-Westfalen haben gerade einmal 55,5 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Im Vergleich zu 2017 ein Rückgang um fast zehn Prozent. Das ist alarmierend.
Viele Menschen schätzen die Demokratie als Idee hoch. Doch in der konkreten Umsetzung scheint sie nicht zu halten, was sich viele von ihr versprechen.
Sie sehen die großen Fragen der Gegenwart und haben das Gefühl, dass nationale Entscheider nur begrenzt Antworten liefern können.
Sie haben hohe Erwartungen an den Staat. Sie sehen aber vor allem, was er nicht leistet.
Sie haben Lust, politisch mitzureden und sich einzubringen. Gleichzeitig finden Sie Parteien, Gewerkschaften und Verbände aber unattraktiv.
Sie halten Parlamente für gute Einrichtungen. Sie können aber nicht nachvollziehen, wie im Deutschen Bundestag diskutiert wird. Warum – in ihren Augen – die Demokratie viel ritualisierten Streit, aber wenige Lösungen hervorbringt. Zumindest keine, in denen sie sich wiederfinden.
Dabei sind auch Fehlwahrnehmungen im Spiel.
Nur die wenigsten Menschen erleben die Arbeit unserer Parlamente aus erster Hand. Politikbilder sind zumeist das Ergebnis von Politikvermittlung. Sie entstehen in den Köpfen der Menschen. Auf Grundlage dessen, was sie in den Medien präsentiert bekommen: In Funk- und Fernsehen, in Zeitungen und Magazinen, nicht zuletzt im Internet.
Einem Medium mit kaum zu überschätzender Dynamik und gewaltigem Einfluss – zum Guten wie zum Schlechten.
Nie zuvor war so viel Information,
nie zuvor war so viel Kommunikation,
nie zuvor war so viel Interaktion.
Aber auch Desinformation und Manipulation.
Die Diskursräume sind größer und vielfältiger geworden, das stimmt.
Politische Öffentlichkeit braucht aber auch geteilte Wahrnehmungen und gemeinsame Bezugspunkte – sonst gibt es keine sinnvolle Grundlage für den Austausch.
Unsere Verfassungsorgane zeigen im Internet massiv Präsenz, stellen gut zugänglich umfangreiche Informationen zur Verfügung.
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind auf diversen Online-Plattformen präsent und erreichbar.
Zivilgesellschaftliche Portale wie abgeordnetenwatch haben sich dem Ziel verschrieben, Transparenz und Dialog mit den Parlamentariern zu fördern.
Trotzdem bleibt ein relevanter Teil der Öffentlichkeit für den Austausch mit der Politik kaum erreichbar.
Diese Leerstelle füllen andere. Indem sie Lügen und Halbwahrheiten verbreiten. Über die Institutionen der Demokratie und diejenigen, die sich dort engagieren. Sie hetzen gegen Menschenrechte und Minderheiten. Sie machen Parteien und Parlamente verächtlich.
Sie rauben der parlamentarischen Demokratie Kraft und Rückhalt.
Der Populismus ist Gift für unser Gemeinwesen.
Es wirkt schleichend, betäubend, lähmend. Populismus gaukelt den Menschen vor, alles sei ganz einfach. Man müsse nur auf „das Volk“ hören.
Was das genau heißt, bleibt wolkig. Es geht vor allem um gefühlte Wahrheiten und geglaubte Mehrheiten.
Der Populist inszeniert sich als Gegenmodell: Vor allem als Gegen-Elite. Er lebt von der Behauptung: Politik, Wissenschaft, Medien, „die da oben“ – hätten kein Ohr für die Bevölkerung.
Eine Erzählung, die leider oft verfängt.
Obwohl sie grundfalsch ist.
Wir müssen gegenhalten.
Den Hetzern und Verleumdern widersprechen, unsere Grundordnung verteidigen, Misstrauen überwinden, Teilhabe fördern.
Aber wie?
Indem wir das machen, was Demokratien auszeichnet. Dazulernen, öffentlichen Dialog und Debattenkultur pflegen, unseren Parlamentarismus weiterentwickeln und modernisieren.
Ich möchte, dass der Deutsche Bundestag ein Parlament ist, das zuhört und dem zugehört wird.
Im Zusammenspiel der Verfassungsorgane, vor allem im Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern.
Wir müssen unsere Arbeit noch besser erklären. Gerade wenn es gilt, komplexe und abstrakte Sachfragen zu entscheiden.
Dabei geht es nicht zuletzt um unsere Sprache, wenn wir Politik verständlich machen. Auch da können wir noch dazulernen.
Wir müssen deutlich machen, dass Demokratie immer auch Streit ist.
Dass Streit sein muss, aber eben konstruktiver Streit – fair und respektvoll ausgetragen.
Streit, bei dem wirklich um Lösungen und Kompromisse gerungen wird.
Und wir müssen darauf bestehen, dass dieser Streit im Parlament geführt und entschieden wird.
Nicht zuletzt bei europäischen und internationalen Fragen. Gerade in krisenhaften Zeiten und kritischen Situationen.
Dazulernen heißt für mich auch, in der Substanz Neues zu wagen.
Wohin die Reise gehen kann, diskutiert die „Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit“. Wir haben diese Kommission im März eingesetzt. Bis zum 30. Juni des kommenden Jahres soll sie ihre Ergebnisse vorlegen.
Ohne den Ergebnissen vorzugreifen: Der Arbeitsauftrag zeigt: Es gibt viele Ansätze, unsere parlamentarische Demokratie zu vitalisieren.
Dahinter steht weit mehr als zu verhindern, dass das Parlament immer größer wird.
Die Arbeit des Deutschen Bundestages soll attraktiver, transparenter und – vor allem durch Digitalisierung – effektiver werden.
Um nur einige Punkte zu nennen: Wie schaffen wir es, dass Frauen und Männer gleichberechtigt aufgestellt und ins Parlament gewählt werden? Traurig, dass das nach über 100 Jahren Frauenwahlrecht noch immer ein Thema ist.
Es geht auch um die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre und die Teilhabe junger Menschen.
Um die Dauer der Legislaturperiode und die Beschränkung von Amts- und Mandatszeiten.
Auch darum, wie wir die digitalen Möglichkeiten als Parlament noch besser nutzen können. Darum wie seine Rechte gestärkt werden können, gerade wenn es um internationale Entscheidungsprozesse geht.
Und, das ist mir besonders wichtig: Wie können die Anregungen der Bürgerinnen und Bürger besser einfließen?
Verschiedene Instrumente bieten sich an. In direktdemokratischen Verfahren können Bürgerinnen und Bürger politische Fragen auf die Tagesordnung setzen und darüber entscheiden. Bürgerhaushalte können helfen, Verantwortung für die Investition öffentlicher Mittel in die Gesellschaft zu übertragen.
Besonderes Potential sehe ich aber in Formaten, die den politischen Diskurs durch gezielte Beteiligung der Bevölkerung beleben können.
Im Deutschen Bundestag haben wir mit dem Modell eines Bürgerrats gute Erfahrungen gemacht. Und gelernt, was wir besser machen müssen.
In der vergangenen Wahlperiode wurde ein Rat aus 160 Bürgerinnen und Bürgern zusammengestellt.
Wie im antiken Athen zunächst bestimmt durch das Los. (Aus den 341 Interessentinnen wurde dann eine Auswahl getroffen, die der Zusammensetzung der Bevölkerung entsprechen sollte.)
Der so zusammengestellte Bürgerrat hatte die Aufgabe, über das Thema „Deutschlands Rolle in der Welt“ zu beraten. Über Nachhaltige Entwicklung, Wirtschaft und Handel, Frieden und Sicherheit. Auch dazu, wie Deutschlands Rolle gegenüber der Europäischen Union aussehen sollte. Und über seinen Beitrag, was internationale Fragen von Demokratie und Rechtsstaat angeht.
Unterstützt von rund 60 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft sowie 80 Moderatorinnen und Moderatoren. Aufgrund der Corona-Pandemie vollständig digital. Ein aufwändiger Prozess.
Wir haben im Bund an das angeknüpft, was der „Bürgerrat Demokratie“ bereits 2019 in Gang gebracht hatte. Zuvor waren ähnliche Foren im In- und Ausland angestoßen und erprobt worden. In Land und Kommune – sowie mit der „Konferenz zur Zukunft Europas“ auch auf europäischer Ebene.
Bürgerräte sollen der Demokratie zu besseren Entscheidungen verhelfen.
Sie sollen dazu beitragen, parlamentarische Beratungen auf eine breite Grundlage zu stellen. Indem sie auch jene Menschen einbeziehen, die sonst wenig Berührungspunkte mit dem politischen System haben.
In deren Leben Politik einfach keinen Platz hat. Weil das Interesse fehlt, die Zeit oder die Möglichkeiten.
So bauen sie Brücken zwischen verschiedenen Teilen der Bürgergesellschaft und der Politik.
Wer an einem Bürgerrat teilnimmt, gewinnt Einblicke in die Komplexität politischer Entscheidungen.
Das Format vermittelt nicht nur Inhalte.
Es hilft den Teilnehmenden besser zu verstehen, wie Politik funktioniert. Wie Politikerinnen und Politiker arbeiten. Zum Beispiel wenn es um die Abwägung und Bewertung von Expertenwissen geht.
Dadurch können Bürgerräte helfen, strukturelle Verkrustungen des politischen Betriebs aufzubrechen. Sicherlich nicht alle. Denn egal, ob es um Wahlen, Volksabstimmungen oder erörternde Beteiligungsverfahren geht: Tendenziell beteiligen sich vor allem jene, die ohnehin besser gebildet und einkommensstärker sind. Die gesellschaftlich gut Integrierten, die Bessergestellten.
Auch hier gibt es also ein Gerechtigkeitsproblem. Wir müssen Mittel und Wege finden, mehr Menschen überhaupt die Teilhabe zu ermöglichen.
Wir müssen alle Hürden beseitigen, die etwa Müttern, Menschen mit Behinderungen oder Migrationsgeschichte im Weg stehen. Egal ob es um Parteien, Parlamente oder Plebiszite, um Bürgerinitiativen und Bürgerräte geht.
Diese Herausforderung verlangt zusätzliche Anstrengungen: Was die Sozial-, die Familien- und Integrationspolitik angeht. Auch in der Frage, wie wir unsere Arbeitswelt ausgestalten.
Die Herausforderung geht zugleich an alle, die politische Bildung vermitteln. Setzen wir da die richtigen Prioritäten? Erreichen wir mit unseren Angeboten alle, die wir erreichen müssten? Wie viele Talente lassen wir vor sich hin schlummern?
Selbst wenn es nicht gelingt, in den Bürgerräten ein Deutschland im Kleinen abzubilden: Die Bürgerräte binden gezielt Menschen ein, die im parlamentarischen Raum nur selten zu Wort kommen.
Der Deutsche Bundestag ist jünger und bunter geworden. Ähnlich wie bei der politischen Willensbildung über Verbände, Vereine, Parteien und Organisationen, kann aber auch der Bundestag ‑ zumindest kurzfristig ‑ kein Spiegelbild der Gesellschaft sein.
Wenn wir lernen, der höheren Stimmenvielfalt von Bürgerräten Gehör zu schenken, können auch andere Perspektiven in politische Beratungsprozesse einfließen.
Darin liegt eine große Chance. Bürgerräte diskutieren reflektierter und langfristiger als das, was Demoskopie und Meinungsumfragen widerspiegeln können.
Was in Bürgerräten diskutiert und erarbeitet wird, kann die etablierten Wege des Parlamentarismus ergänzen. Sogar ein Korrektiv zu Expertengremien und zur Anhörung von Sachverständigen werden.
Bürgerräte haben dieses Potential. Wenn wir die richtigen Fragen stellen. Diese Fragen sollten hinreichend konkret sein.
Von allgemeinem Interesse, nah an der Lebenswelt.
Gerne auch gesellschaftlich polarisierend. In Irland wurde das umstrittene Thema „Abtreibungsverbot“ in einem Bürgerrat aufgegriffen.
Wir finden sicher auch in Deutschland Ansätze, die relevante Diskussionen versprechen.
Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, einen Bürgerrat zum Thema „allgemeine Dienstpflicht“ einzuberufen. Damit meine ich ein Jahr, in dem Männer und Frauen einen gemeinnützigen Dienst leisten.
Das kann bei der Bundeswehr, in der sozialen Arbeit, im Umwelt- und Naturschutz oder im Pflege- oder Gesundheitsbereich sein.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat vergangenen Sonntag einen interessanten Vorschlag für einen Pflichtdienst zur Debatte gestellt. Dabei hat er den wichtigen Aspekt betont, dass die Menschen raus aus ihren Filterblasen kommen. Das würde in der Tat Vorurteile abbauen und den Gemeinsinn stärken.
Die einen finden so eine Dienstpflicht gut, die anderen nicht, auch werden rechtliche Bedenken angemeldet.
Ich könnte mir vorstellen, dass ein solcher Bürgerrat auf große Resonanz stößt. Und die Menschen zum Nachdenken und Streiten einlädt: Darüber, inwieweit Demokratie den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur Rechte verleiht, sondern ihnen auch Verantwortung überträgt und sie auf das Gemeinwesen verpflichtet.
Denn auch das ist ein Vorteil des Instruments Bürgerrat: Es zeigt, dass politische Entscheidungen mit Konsequenzen verbunden sind.
Mit Zugewinnen und Möglichkeiten für die einen, mit Kosten und Einschränkungen für die anderen.
Mit Be- und Entlastungen.
Die Mitarbeit im Bürgerrat zwingt dazu, Präferenzen abzuwägen und Position zu beziehen. Auch angesichts der Dilemmata und Ambivalenzen, die in vielen politischen Fragen stecken.
Wenn diese Abwägungsprozesse nicht nur in der Sphäre der Berufspolitik, sondern auch in der Bevölkerung stattfinden, ist das ein Fortschritt.
Die richtigen Fragen zu stellen ist das eine.
Das andere ist, aus den Antworten das Richtige zu machen.
Es braucht nicht unbedingt Volksentscheide und Volkbegehren – wie im Falle Irlands – um die Ergebnisse der Bürgerräte umzusetzen.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben vielleicht gar nicht den Anspruch, die besseren Gesetzgeber zu sein.
Was es aber braucht, ist Kontinuität in der Einbindung von Bürgerräten bei der Klärung wichtiger gesellschaftlicher Fragen.
Vor allem aber ein verbindliches, solide moderiertes und transparentes Vorgehen.
Und die aufrichtige Bereitschaft, die Ergebnisse aufzugreifen. Sie in den parlamentarischen Prozess einzubringen. Sie in Beschlüsse zu übersetzen. Und sie konkretes Regierungshandeln werden zu lassen.
Beispiele aus dem Ausland zeigen: Wer die Umsetzung der Vorschläge von Bürgerinnen und Bürger verspricht, muss Wort halten.
Passiert das nicht, schafft man neue Politikverdrossenheit. Statt genau diese Politikverdrossenheit zu bekämpfen. Und bietet den Feinden der Demokratie zusätzliche Angriffsfläche.
Deshalb etwas Wasser in den Wein: Ein Wundermittel für die Probleme unserer Demokratie sind Bürgerräte nicht. Sie können aber einen notwendigen Vitalisierungsschub in schwierigen Zeiten leisten.
Zentrale Debatten anstoßen und voranbringen.
Ich fände es großartig, auch aus der Diskussion mit Ihnen Ideen mitzunehmen, für welche Fragen und Debatten sich ein Bürgerrat anbietet.
Eine lebendige, gesellschaftlich breit verankerte Debatte tut unserem Gemeinwesen gut – gerade angesichts der vielen schwierigen Prüfungen, die unseren Zusammenhalt auf die Probe stellen. Jetzt – und in Zukunft umso mehr.
Ja, auch unsere parlamentarische Demokratie kennt Fehlentwicklungen. Sie hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Verzweifeln müssen wir deshalb nicht.
Die Demokratie hat die Kraft, die Kämpfe zu bestehen.
Sie kann ihr Leistungsversprechen halten.
Sie kann verlorenes Ansehen zurückgewinnen, Bürgerinnen und Bürger neu begeistern: Für ihre Idee, auch für ihre Umsetzung. Als offene, als transparente, als gewinnende Demokratie.
Wir sollten mutige, optimistische Demokraten bleiben: Ausnahmsweise – ohne jeden Zweifel.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie haben es gehört: Ich bin eine große Freundin von dialogischen Formaten – für unsere Demokratie und auch für meinen Part bei Ihrer Sommertagung. Deshalb lassen Sie uns jetzt ins Gespräch kommen.
Ich freue mich immer über Verbesserungsvorschläge für unseren Deutschen Bundestag. Und heute ganz besonders über Ihre Fragen, Anregungen und Ideen zu den Bürgerräten.