Bibliothek (Bebelplatz)
`Mir persönlich fällt die Abwesenheit nicht auf. Wenn ich jetzt vorbeigehe, sehe ich gar nichts mehr. Ich glaube, es war eine Tafel aus einfachem Kupfer, wo drauf stand, dass Karl Marx oder Lenin, einer von beiden, hier drin studiert hat.'
`Also besonders schön fand ich sie nicht, aber sie war auch nicht geschmacklos. Das war rein formell der Hinweis, dass hier Lenin mal war. Da war kein Datum und kein Jahr. Keine Bilder drauf. Jetzt ist sie weg, und mir ist das egal.'
`Ich erinnere mich nur noch sehr schwach. Ich stelle mir vor, dass da so eine Art Reliefkopf war, mit so einer Schrift untendrunter. Die war aus Messing oder Bronze. Vom Inhalt her, ging es darum, dass hier Lenin mal studiert hat, dass er sich mal hier aufgehalten hat am Ende des vorigen Jahrhunderts. Das war alles. Vermutlich hat die jemand geklaut'
`Ich glaube, ein Bronzekopf war als Relief mit drin, eine Seitenansicht. Sie war völlig schmucklos, der Informationsgehalt kam durch die Reliefbuchstaben. Der Text war historisch, nicht übertrieben, aber pathetisch. Da stand nach meiner Erinnerung dran, dass Lenin während seiner Zeit in Berlin, Neunzehnhundertsowieso, hier in dieser Königlichen Bibliothek studiert hat. Eines Nachts, ungefähr vor einem Jahr, als niemand mehr hier war, ist das offensichtlich weggemacht worden. Es waren ja nur vier Schräubchen, mit denen es befestigt war, das ist im Handumdrehen weg gewesen.'
`Ich habe das nie angefasst, aber ich schätze, das war Schmiedeeisen, und die Buchstaben waren sozusagen erhaben. Ungefähr 45 x 70 Zentimeter groß. Da stand drauf: „Hier arbeitete Lenin im Jahr 1895.“ Also da stand nichts dran, was nicht hätte bleiben können. Es gehört zur Geschichte des Hauses, und es gibt so wenig Möglichkeiten der Erinnerung. Jetzt, wo sie weg ist, fehlt sie mir.
`Das war ein Schild, vielleicht Bronzeimitat, jedenfalls ziemlich verwittert, und da stand drauf, dass Lenin in dieser Bibliothek studiert hat. Ich habe diese Tafel immer als etwas Lächerliches empfunden. Es hat mich immer gestört, warum gleich eine Tafel außen an das Gebäude angebracht wird, wenn irgendjemand — noch dazu Lenin — dort mal ein Buch gelesen hat. Ich gehörte mit zu denen, die den Antrag gestellt hatten, die Tafel zu entfernen.'
`Die wurde nicht entfernt, die wurde gestohlen. Das war 1993 oder 1994. Die war aus grauem gemeißeltem Stein. Ich weiß nicht mehr hundertprozentig, was darauf stand. Wenn man jahrelang vorbeigegangen ist, hat man das nicht mehr gesehen. Ich glaube, es war ein Schild, das besagte, dass Lenin hier mal gelebt hat. Besonders schön war es nicht, aber es war ein Hinweis, der in Ordnung war.'
`Da war irgendeine Gedenktafel. Die war so braun, aus Metall, schlicht, ordinär fast. Kann sein, dass da Lenin dran stand, aber weil das nicht stimmte, wurde das dann entfernt. Weil dieser Bereich der Bibliothek noch gar nicht gebaut war, zu der Zeit, als Lenin sich hier in Berlin aufgehalten hat.'
`Sie sollte auch noch offiziell entfernt werden, aber davor ist sie geklaut worden. Was heißt gefallen oder nicht? Es ist ein historisches Gebäude, und Lenin war ja nicht irgendwer, warum soll man das wegmachen, aus irgendwelchen politischen Gründen? Es hätte dem Gebäude nicht geschadet, und dass die Tafel weg ist, ändert ja nichts an dem Fakt, dass er dort studiert hat.'
Aus: Calle, Sophie: Die Entfernung, Dresden 1996 (vergriffen).