Besuch

Relief und Kind

Wir sind da früher immer rodeln gegangen und da gab's diese sogenannte Teufelseisbahn. Da war eine Figur von einem Jungen, ein zehnjähriger Junge, dem Kampfgruppendenkmal auf der anderen Seite zugewandt In meiner Erinnerung hatte der Junge nur eine Hose an und ist am Oberkörper gar nicht bekleidet gewesen. Er wird so im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren gewesen sein. Er reichte den Soldaten auf einer Flachrelief-Wand einige nicht identifizierbare Blumen. Warum ein Kind in ihren scheußlichen Krieg verwickeln?'

'Das waren zwei Arbeiten, eigentlich. Einmal die Figur eines Jungen mit den Blumen, etwa ein Meter fünfzig groß, und dann noch eine Wand, zwei oder drei Meter hoch, die die Einordnung in die Geschichte vollzogen hat. Und dann war natürlich, wie immer, eine Taube in einer Ecke. Ich hatte eine Klassenkameradin, die dort wohnte, eine Jüdin, die dort im Krieg mit ihrer Mutter von einem Mann versteckt wurde. Und dieser Mann hat dann nach dem Krieg die Mutter umgebracht. Unter den Augen des Kindes. Das hat mich immer mehr als alles andere berührt.'

'Der Junge war eine freistehende Figur. Die Dargestellten auf dem Relief haben in eine Richtung geschaut, in die Marschrichtung, ohne ihm einen Blick zuzuwerfen. Nur ein Soldat hat den Jungen beachtet, er erwiderte seinen Blick nicht nur mit seinen Augen, sondern mit seinem ganzen Körper. Er war ein junger Pionier, der symbolisch seinen Dank an die Soldaten dafür ausdrückte, dass sie ihn schützten. Die Darstellung war sehr schematisch, eine Mischung aus Stilisierung und Naivität.'

'Da war eine Gruppe weiter unten angesiedelt, das war also treppenförmig. Vor dieser Reliefgruppe stand ein kleiner Junge mit einem Mädchen, acht oder neun Jahre alt, und Blumen in der Hand, mit freundlichem Gesichtsausdruck. Das war eine bunte Mischung von Leuten, Kampfgruppenmitgliedern, Werktätigen, auch Kindern, wie bei einer Ersten-Mai-Demonstration.'

'Es stellte uniformierte Männer dar, so zehn bis fünfzehn, fast menschengroß. Männer mit russischen Maschinengewehren. Die marschierten in einer Reihe. Sie haben das Kind schon beachtet, ihre Gesichter waren so ernst bis freundlich. Es gibt keine echten Männer mehr. Ich wohne gleich gegenüber, und dieses Denkmal hat mich immer träumen lassen.'

'Genau dreiundzwanzig Männer, dichtgedrängt, einer an dem anderen, ich wäre nicht gerne wie die Sardinen da hineingestopft. Davor war die Bushaltestelle. Ich habe meinem Sohn anhand der Helme das Zählen beigebracht, hoch bis dreiundzwanzig.'

'Das Bild, was mir immer am stärksten ins Auge fiel, war die Taube aus Bronze oben drauf, etwa fünfzig Zentimeter groß und so naiv. Wie meine Mutter eine aus Ton machen würde. Ich würde diese Gruppe ais lustig beschreiben. Ein Junge, ein paar Soldaten, die Geschichte und das Ganze führt zum Frieden. Eine sehr einfache Erklärung. Das war typisch für die DDR-Mentalität: Erst gab es die Geschichte und revolutionäre Bewegungen, dann kam die DDR und die Kampfgruppen, dann kam der Sozialismus, und der mündet in Frieden, so einfach ist das.'

'Das wurde öfter beschmiert, den Jungen hat man mehr als einmal umgeschmissen, aber er wurde immer wieder aufgerichtet. Irgendwann ist da jemand hingegangen und hat über die ganze Reliefwand Farbe drübergeschmiert, Gelb- und Grüntöne. Es wurde leuchtender, fast fröhlich. Die Farbe ist so lange draufgeblieben, bis das Denkmal abgebaut wurde, noch eine ganze Weile nach der Einheit.'

'Ich erinnere mich gar nicht mehr daran. Nicht mein Geschmack. Aber ich bin sicher, dass es irgendwo eine Taube gab. Es gibt immer eine Taube.'

 

Aus: Calle, Sophie: Die Entfernung, Dresden 1996 (vergriffen)