Geschichte

Vor 70 Jahren: Bundes­tag be­schließt erste ei­gene Geschäfts­ordnung

Druckausgabe der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages im Plenum

Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages regelt unter anderem Redezeiten im Plenum. (DBT/photothek)

Vor 70 Jahren, am Donnerstag, 6. Dezember 1951, gab sich der Deutsche Bundestag seine erste eigene Geschäftsordnung. In der Geschäftsordnung des Bundestages (GO) sind die Einzelheiten des parlamentarischen Verfahrens festgelegt.

Die Regelung des parlamentarischen Verfahrens

Dazu zählen die Wahl des Bundestagspräsidenten und des Bundeskanzlers, der Verlauf von Plenarsitzungen, die Behandlung von Vorlagen und Petitionen, Rechte und Pflichten der Abgeordneten und schließlich der Vollzug der Beschlüsse des Bundestages. Sie enthält Vorschriften zu Präsidium, Ältestenrat, Fraktionen und Abgeordneten, befasst sich mit Ausschüssen, äußert sich zum Wehrbeauftragten des Bundestages, zu Sitzungsprotokollen und zu Abweichungen von der Geschäftsordnung und deren Auslegung.

Ein Katalog listet präzise die Anzeigepflichten und Verbotstatbestände auf und enthält auch Sanktionen für den Fall der Nichtbeachtung. Das Regelwerk hat eine lange Geschichte und große Vorbilder: Einige Bestimmungen stammen noch aus der Zeit der Weimarer Republik oder des Kaiserreichs. Andere sind sogar noch älter.

Bestimmungen aus Weimarer Republik und Kaiserreich

Eine der ersten Amtshandlungen jedes neu gewählten Bundestages ist es, sich eine Geschäftsordnung zu geben, wie es Artikel 40 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes vorsieht. Zunächst hatte der erste Deutsche Bundestag seine Arbeit noch mit der Geschäftsordnung des Reichstages der Weimarer Republik von 1922 aufgenommen, die er bis auf wenige Änderungen im Wesentlichen übernommen hatte.

Formell beschlossen wurde sie in der fünften Sitzung am 20. September 1949. Sie hatte allerdings nur vorläufigen Charakter. Zwei Jahre später, am 6. Dezember 1951, gab sich der Bundestag eine eigene Geschäftsordnung – die immer noch viele Bestimmungen aus früheren Geschäftsordnungen enthielt. Sie trat am 1. Januar 1952 in Kraft.

„Der Bundestag verhandelt öffentlich“

Gegenüber der Geschäftsordnung des Reichstages enthielt sie nicht nur eine Reihe neuer Bestimmungen, sondern es wurden auch verfassungsrechtliche Regelungen in die Geschäftsordnung übernommen. Eine der Änderungen geht auf Artikel 42 des Grundgesetzes zurück, in dem es unter anderem heißt: „Der Bundestag verhandelt öffentlich“ (Paragraf 23 der Geschäftsordnung von 1951). Diese Vorgabe findet sich heute in Paragraf 19 der aktuellen Geschäftsordnung wieder: „Die Sitzungen des Bundestages sind öffentlich.“

Weitere Bestimmungen, die mit Rücksicht auf das Grundgesetz aufgenommen wurden, sind beispielsweise die Einsetzung eines Wahlprüfungsausschusses sowie von Untersuchungsausschüssen, die Behandlung von Ersuchen auf Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten, die Wahl des Bundeskanzlers, das konstruktive Misstrauensvotum oder der Vertrauensantrag des Bundeskanzlers sowie der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat.

Einführung der Fragestunde

Unabhängig vom Grundgesetz wurden weitere wesentliche Bestimmungen in die Geschäftsordnung aufgenommen. So brachte Paragraf 111 die Einführung der Fragestunde. In Paragraf 10 GO wurden die Voraussetzungen für die Bildung der Fraktionen und einer Gruppe festgelegt, in Paragraf 39 die Rededauer.

Für die Bezweiflung der Beschlussfähigkeit in Paragraf 50 GO wurde geregelt, dass die Beschlussfähigkeit nur im Zusammenhang mit einer Sachabstimmung festgestellt wird.

Debatte um namentliche Abstimmungen

In Paragraf 57 GO „Namentliche Abstimmung“ wurde ein Minderheitenrecht geschaffen. Danach konnte eine namentliche Abstimmung von mindestens 50 anwesenden Mitgliedern des Bundestages verlangt werden. Zuvor konnte sie von einer gleichen Anzahl Abgeordneter zwar beantragt werden, danach musste über diesen Antrag allerdings der Bundestag mit Mehrheit beschließen. Eine Neuregelung, die der Alterspräsident des ersten Bundestages und frühere Reichstagspräsident Paul Löbe (SPD, 1875-1967) angeregt hatte. Unterstützt wurde er dabei vom CSU-Abgeordneten und Altpräsidenten des Bayerischen Landtages Dr. Michael Horlacher (1888-1957), der nur darauf gewartet hatte, „dem Parlament auch einmal meine Meinung über demokratische Zustände zu sagen“.

Gegen Kritiker aus der eigenen Regierungskoalition argumentierte er: „Wir dürfen bei der Beratung einer Geschäftsordnung – das war der Sinn der Ausführungen des Herrn Alterspräsidenten Löbe – nicht von dem jeweiligen Spiel zwischen Opposition und Regierung ausgehen, sondern wir müssen eine Geschäftsordnung schaffen, mit der unter der weiten Sicht der parlamentarischen Erfordernisse alles zufrieden ist.“ Und er fragte weiter: „Warum sollen wir unsere Ansichten vor der Öffentlichkeit verstecken?“ Von den Abgeordneten verlangte er bei wichtigen Abstimmungen ein klares Bekenntnis. „Wir müssen den Mut haben, das, wofür wir stimmen, auch zu bekennen.“

Öffentliches Bekenntnis zu wichtigen Abstimmungen

Deshalb appellierte er an die Abgeordneten, den Vorschlag Löbes anzunehmen: „Eine qualifizierte Minderheit muss es bewerkstelligen können, dass hier ein öffentliches Bekenntnis der Abgeordneten zu wichtigen Abstimmungen abgelegt wird.“ Ein Appell, der nach Ansicht des Bamberger Abgeordneten Dr. Hermann Etzel (Bayernpartei, 1882-1978) in ein goldenes Buch des Bundestages eingetragen zu werden verdiente und offenbar erfolgreich war.

Entgegen der sonst in der Beratung vorherrschenden Regierungsmehrheit wurde der Antrag Löbes schließlich mit knapper Mehrheit angenommen. Nach der Auszählung durch Hammelsprung stimmten 115 Abgeordnete dafür, 104 dagegen, zwei Abgeordnete enthielten sich der Stimme.

Umstrittene Regelungen zu Finanzvorlagen

Diese Einigung auf einen Antrag über Oppositions- und Regierungsgrenzen hinweg blieb in der Debatte die Ausnahme. Bereits in früheren Debatten hatte es erhebliche Meinungsverschiedenheiten gegeben. Auch in den Verhandlungen des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung sowie im Ältestenrat war bisher keine grundsätzliche Übereinstimmung erzielt worden.

Vor allem die Regelungen zu Finanzvorlagen nach Paragraf 96 GO hatten ausführliche Diskussionen ausgelöst. Die Sozialdemokraten sahen durch diese Vorschrift das Initiativrecht des Parlaments unzulässig beschränkt. Ihrer Ansicht nach war es verfassungswidrig, wenn eine Finanzvorlage von Mitgliedern des Bundestages, wie in Absatz 3 vorgesehen – anders als bei Vorlagen der Bundesregierung oder des Bundesrates – nur dann beraten wird, wenn sie gleichzeitig mit einem Ausgleichsantrag zu ihrer Deckung verbunden wird. Sie hatten deshalb Verfassungsklage eingereicht.

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Eine Ansicht, die die Regierungsparteien CDU, CSU, FDP und DP nicht teilten. Eine Änderung ihrer vorgeschlagenen Regelungen in Paragraf 96 GO lehnten sie ab. Eine erneute Debatte in dieser Frage erübrigte sich daher. In den Schlussberatungen schlug deshalb Karl Gengler (CDU, 1886-1974) vor, angesichts der ausstehenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts „ohne eine Wiederholung der Grundsatzdebatten“ in die Abstimmungen einzutreten. Ein Vorschlag, mit dem sich die Sozialdemokraten einverstanden zeigten. Der Geschäftsordnung konnten sie so allerdings nicht zustimmen. „Wir werden uns daher der Stimme enthalten“, formulierte es Erwin Schoettle (SPD, 1899-1976) für seine Partei.

Gegen wenige Stimmen bei zahlreichen Enthaltungen wurde die Geschäftsordnung des Bundestages angenommen und trat am 1. Januar 1952 in Kraft. Bereits drei Monate später erklärte das Bundesverfassungsgericht die Absätze 3 und 4 der umstrittenen Finanzvorlagen in seinem Urteil vom 6. März 1952 für verfassungswidrig. Die Neufassung des Paragrafen 96 erfolgte, neben einigen anderen Änderungen, drei Jahre später in der dann schon zweiten Wahlperiode (1953-1957).

Fassungen von 1951, 1970 und 1980

Auch in der Folge wurde diese Geschäftsordnung mehrfach geändert und gemäß Beschluss vom 6. Mai 1970 neu verkündet. Heute unterscheidet der Bundestag im Wesentlichen die Fassungen von 1951, 1970 und 1980, die aber selbst wieder mehreren Änderungen unterworfen waren.

Jeweils zu Beginn einer neuen Legislaturperiode muss die Geschäftsordnung vom Parlament neu beschlossen werden. Die erste Geschäftsordnung bestand aus 132 Paragrafen. Derzeit sind es 128.

Zahlreiche Änderungen der Geschäftsordnung

Im Laufe seiner Geschichte hat der Bundestag immer wieder über seine eigene Arbeitsweise beraten, Änderungen diskutiert und auf gesellschaftliche Veränderungen und neue Anforderungen durch Reformen reagiert. Die Geschäftsordnung hat inzwischen eine Reihe von großen, mittleren und kleinen Änderungen hinter sich.

Die Einführung des Wehrrechts in den fünfziger Jahren führte beispielsweise zu Regelungen über die Stellung eines Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages und des Verteidigungsausschusses.

Die kleine Parlamentsreform

Im Rahmen der ersten großen Novelle der sogenannten „Kleinen Parlamentsreform“ von 1969 kam es zu zahlreichen Neuerungen: So wurde die Möglichkeit geschaffen, Enquete-Kommissionen zur Beratung langfristiger Fragen einzuberufen und öffentliche Ausschusssitzungen abzuhalten. Der Ältestenrat wurde als Lenkungsorgan des Bundestages eingerichtet und die Fraktionsstärke wurde zum maßgeblichen Quorum bei einer Reihe von Minderheitenrechten sowie beim Beantragen namentlicher Abstimmungen. Hierfür reichte ab diesem Zeitpunkt eine Anzahl Abgeordneter in Fraktionsmindeststärke statt der vorher notwendigen 50 Abgeordneten.

Mit der Änderung der Geschäftsordnung wurde auch die Fraktionsgemeinschaft aus CDU und CSU möglich. Künftig war nicht länger ein Beschluss nötig, wenn Parteien mit gleichgerichteten politischen Zielen, die auf Landesebene nicht konkurrieren, eine Fraktion bilden wollten.

Grundlegende Überarbeitung der Geschäftsordnung

1980 ist die Geschäftsordnung des Bundestages grundlegend überarbeitet und neu gefasst worden. Dabei wurden auch einige Minderheitenrechte novelliert. Rechte, die bisher im Plenum des Bundestages einer kleineren Zahl als fünf vom Hundert der Abgeordneten, zum Beispiel fünf oder zehn, eingeräumt waren, konnten jetzt in der Regel nur noch von fünf vom Hundert der Abgeordneten oder von einer Fraktion geltend gemacht werden.

Auch danach ist die Geschäftsordnung mehrfach geändert worden. Um die Debatten lebendiger zu gestalten, wurde beispielsweise 1990 die sogenannte Kurzintervention zugelassen. 1995 wurden unter anderem „Erweiterte öffentliche Ausschusssitzungen“ sowie „Kernzeitdebatten“ im Plenum eingeführt. 2009 wurden Änderungen der Geschäftsordnung beschlossen, die Ordnungsmaßnahmen gegen Störenfriede umfassen. Wer die Ordnung „gröblich verletzt“, kann nun auch nachträglich von Plenarsitzungen ausgeschlossen werden. 2013 wurden unter anderem neue Regeln für die Veröffentlichung von Nebentätigkeiten der Abgeordneten verabschiedet.

Anpassung der Minderheitenrechte

2014 beschlossen die Parlamentarier aufgrund der nach der Regierungsbildung entstandenen Mehrheitsverhältnisse neue Regeln für die Wahrnehmung parlamentarischer Minderheitenrechte.

Konnten bisher verschiedene Minderheitsrechte nur wahrgenommen werden, wenn mindestens 25 Prozent der Abgeordneten entsprechende Anträge unterstützen, wie etwa das Recht auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, so war dies für die Dauer der Legislaturperiode bereits auf Antrag von 120 Abgeordneten möglich, was einem Anteil von etwa 20 Prozent entsprach.

Befragungen der Bundeskanzlerin

2019 wurden die Befragung der Bundesregierung und die Fragestunde zur Stärkung eines lebendigeren Austauschs neu ausgerichtet. Die Fragestunde wurde auf 90 Minuten halbiert, die Regierungsbefragung auf 60 Minuten verdoppelt und jährlich drei Befragungen der Bundeskanzlerin wurden festgelegt.

Zuletzt geändert wurde die Geschäftsordnung am 24. Juni 2021. Damals wurde beschlossen, einen Verhaltenskodex für Lobbyisten als Anlage in die Geschäftsordnung aufzunehmen. Die neue Anlage 2a mit dem Verhaltenskodex für Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter tritt am 1. Januar 2022 zusammen mit dem Lobbyregistergesetz in Kraft. (klz/29.11.2021)

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