Welche Möglichkeiten zur Stärkung der Tarifbindung der Unternehmen in Deutschland geeignet sind, ist unter Sachverständigen umstritten. Das wurde während einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Montag, 7. Juni 2021, deutlich. Grundlage waren Anträge der Fraktion Die Linke (19/28772, 19/28775) und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (19/27444) in denen unter anderem die Erleichterung der Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, die Untersagung einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung in einem Arbeitgeberverband und die Vergabe öffentlicher Aufträge nur an tarifgebundene Unternehmen gefordert werden.
Rückgang der Tarifbindung
Dass die Tarifbindung zurückgegangen ist bestätigte Susanne Kohaut vom Institut für Arbeits- und Berufsforschung (IAB). Strukturelle Faktoren, wie die Veränderung der Branchenstruktur hin zu Dienstleistungen und die Gründung neuer Betriebe, seien aber nur zu einem Teil für die Erosion der Branchentarifbindung verantwortlich. Für einen nicht unbeträchtlichen Teil des Rückgangs könnten ihrer Aussage nach veränderte Einstellungen und Verhaltensweisen betrieblicher Akteure – von Eigentümern oder Management – verantwortlich sein.
Aus Sicht von Roland Wolf von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sind die Ursachen vielfältig, hätten aber nichts mit einer sogenannten „Tarifflucht“ zu tun. Gerade jungen Unternehmen müsse die Attraktivität der Tarifbindung erklärt werden. Um diese Attraktivität zu steigern seien Öffnungsklauseln sinnvoll.
Diese Forderung unterstützte auch Jan Dannenbring vom Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Oftmals seien es restriktive und überkommene Arbeitszeitregelungen, die zum einen nicht mehr der Lebenswirklichkeit der Arbeitnehmer entsprächen und andererseits auch die Betriebe davon abhielten, einem Flächentarifvertrag beizutreten. Das Handwerk sei an einer Tarifbindung interessiert, betonte er. Die in den Anträgen zu findenden Forderungen lehne der ZDH aber ab.
Bedarf nach Bundesgesetz zur Tariftreue
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) indes unterstützte die Vorschläge von Grünen und Linken. Es sei zu begrüßen, wenn öffentliche Aufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen vergeben werden, sagte DGB-Vertreter Stefan Körzell. Es gehe dabei um Aufträge im Umfang von 400 bis 500 Milliarden Euro jährlich. Dieses Geld sollte nicht an Unternehmen gehen, die durch Dumpinglöhne den Auftragszuschlag bekommen.
Der Einzelsachverständige Prof. Dr. Franz Josef Düwell sieht ebenfalls den Bedarf eines Bundesgesetzes zur Tariftreue. Öffentliche Aufträge des Bundes, der Länder sowie der Kommunen für Bau- und Dienstleistungen dürften nur vergeben werden, wenn die Auftragsfirmen ihren Belegschaften tarifvertraglichen Entlohnungsbedingungen gewähren, sagte er. Gleichzeitig forderte er, die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tariferträgen zu erleichtern, in dem das in der entsprechenden gesetzlichen Regelung geforderte „öffentliche Interesse“ weiter gefasst wird.
Ähnlich sah dies Prof. Dr. Wolfgang Däubler. Die Allgemeinverbindlicherklärung sei das wohl wichtigste Mittel, um die Tarifwirkung auch auf solche Unternehmen zu erstrecken, deren Inhaber keinem Arbeitgeberverband angehört. Würde sie zu einem häufig benutzten Mittel, wäre überdies für viele Unternehmen eine Rückkehr in die Arbeitgeberverbände von erheblichem Interesse, befand Däubler. Wenn die Unternehmen damit rechnen müssten, dem Branchentarifvertrag unterworfen zu werden, „ist es vorzuziehen, durch Mitgliedschaft im tarifschließenden Verband wenigstens ansatzweise auf den Inhalt der künftigen Regeln Einfluss nehmen zu können“.
Voraussetzung Allgemeinverbindlichkeitserklärung
Die bisherigen Hürden für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung hinsichtlich der Zahl tarifgebundener Betriebe mit der Anforderung einer Mindestzahl von Beschäftigten müsse künftig flexibler gehandhabt werden, forderte der Einzelsachverständige Kurt Schreck. Das Tarifvertragsgesetz und entsprechende Richtlinien seien dahingehend zu ändern, wonach die Bewertung eines öffentlichen Interesses zur Anwendbarkeit von Tarifverträgen an erster Stelle im Fokus möglicher Entscheidungen zur Allgemeinverbindlichkeit stehen muss.
Gegen eine „weitere Erosion“ der Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung, wandte sich Jens Dirk Wohlfeil vom Gesamtverband der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie. Das Tarifvertragsgesetz sehe für den Einsatz von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen Hürden vor, die dem Missbrauch dieses Instruments Grenzen setzen können. Diese Hürden dürften in ihrer Substanz nicht erneut weiter angetastet werden, forderte er. Je „schwammiger“ der Begriff des öffentlichen Interesses ausgestaltet werde, desto größer sei die Gefahr eines Grundrechtseingriffes.
Rolle von Unternehmen ohne Tarifbindung
Der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke kam zu der Feststellung, dass generell die Bereitschaft von Arbeitgeberverbänden, Tarifverträge als allgemeinverbindlich zu erklären, gesunken sei. Das habe damit zu tun, dass der Einfluss der OT-Mitglieder (Unternehmen ohne Tarifbindung) in den Verbänden in den vergangenen Jahren deutlich angewachsen sei, „und die OT-Mitglieder zunehmend das tarifpolitische Geschehen in den Arbeitsgeberverbänden beherrschen“.
Mehr Gestaltungsspielräume für Arbeitgeber und Arbeitnehmer forderte der Einzelsachverständige Prof. Dr. Gregor Thüsing. Ein „tarifdispositives Gesetzesrecht“ stelle einen Beitrag zur Dezentralisierung dar und zolle somit dem Subsidiaritätsprinzip Tribut, befand er. Außerdem nutze es die größere Sachnähe der Tarifvertragsparteien.
Erster Antrag der Linken
Die Linke fordert in ihrem ersten Antrag, (19/28772), die Tarifbindung in Betrieben wieder zu stärken und die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen zu erleichtern. Tarifverträge sorgten für gute Arbeitsbedingungen und höhere Löhne, Beschäftigte mit einem tariflich geregelten Arbeitsverhältnis stünden allgemein besser da als Beschäftigte in Betrieben ohne Tarifbindung, schreiben die Abgeordneten zur Begründung. Die Zahl der tarifgebundenen Unternehmen sinke jedoch seit Jahren kontinuierlich, kritisieren sie.
Von der Bundesregierung verlangen sie unter anderem, die Rahmenbedingungen für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen durch Änderungen im Tarifvertragsgesetz deutlich zu verbessern. So solle zum Beispiel das Erfordernis einer gemeinsamen Antragstellung durch die Tarifvertragsparteien aufgegeben werden. Außerdem sollen durch eine veränderte Zusammensetzung und Beschlussfassung des Tarifausschusses einseitige Blockaden verhindert werden, fordern die Abgeordneten.
Zweiter Antrag der Linken
In ihrem zweiten Antrag (19/28775) fordert Die Linke, die Tarifflucht von Betrieben deutlich zu erschweren. Unternehmen würden sich auf „teilweise tollkühne Weise“ aus den Tarifverträgen verabschieden, nur um zulasten ihrer Beschäftigten ihre Profite zu steigern. Aktuell sei zum Beispiel die Buchhandelskette Thalia in den Schlagzeilen, die im Zuge unternehmerischer Umstrukturierungen aus den Tarifverträgen aussteige, heißt es in dem Antrag.
Die Linke fordert, dass im Falle der Umwandlung eines Unternehmens – insbesondere der Verschmelzung mit einem oder mehreren Unternehmen und der Spaltung eines Unternehmens – und des Übergangs eines Betriebes oder Betriebsteils auf einen anderen Inhaber der jeweils einschlägige Tarifvertrag kollektiv fortgelten soll. Die Nachbindung eines Tarifvertrages solle nicht bereits bei redaktionellen und klarstellenden Änderungen des Tarifvertrages enden. Sie solle auch bei Teiländerungen erhalten bleiben, wenn die restlichen Bestandteile allein sinnvoll erhalten bleiben können. Es sollen außerdem Mindestaustrittsfristen sowie eine gesetzliche Offenlegungspflicht der Arbeitgeber bezüglich der Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband eingeführt werden und OT-Mitgliedschaften (Mitgliedschaft ohne Tarifbindung) in einem Arbeitgeberverband untersagt werden.
Antrag der Grünen
Die Grünen fordern in ihrem Antrag (19/27444) eine Stärkung der Tarifbindung. Die Vorteile der tarifvertraglichen Gestaltung von Löhnen und Arbeitsbedingungen seien zahlreich und gut dokumentiert. Sie beträfen unter anderem eine bessere Lohnentwicklung, eine höhere Arbeitsplatzzufriedenheit, bessere Weiterbildungschancen und Aufstiegsmöglichkeiten, mehr Gleichheit bei der Bezahlung von Frauen und Männern, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und mehr Gleichberechtigung für ausländische Beschäftigte. Hinzu komme, dass Tarifverträge einen Wettbewerb nach unten bei Löhnen und Arbeitsbedingungen begrenzten und einen einheitlichen und fairen Wettbewerbsrahmen schaffen würden, schreiben die Grünen und nennen es besorgniserregend, dass der Anteil von tarifgebundenen Unternehmen seit Jahren bröckele und nur noch rund die Hälfte der Beschäftigten davon profitierten.
Die Fraktion fordert deshalb von der Bundesregierung, die Regelungen zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen zu vereinfachen und weiterzuentwickeln. Die Fortgeltung von Tarifverträgen bei Betriebsübergängen solle verbessert und es solle geprüft werden, inwiefern das bestehende Tarifvertragsrecht für arbeitnehmerähnliche Personen attraktiver ausgestaltet werden kann. Ferner solle gesetzlich geregelt werden, dass die Gewerkschaften in einer zunehmend digitalen Arbeitswelt auch ein digitales Zugangsrecht zu Unternehmen erhalten. Betriebe sollen transparent öffentlich machen, ob sie tarifgebunden und Mitglied eines Arbeitgeberverbands sind, heißt es in dem Antrag. Der Bund solle außerdem seine Möglichkeiten nutzen, die Tarifbindung durch öffentliche Vergabe zu stärken, indem er umgehend ein Bundesvergabe- und Tariftreuegesetz einführt. Bei der öffentlichen Vergabe sollen im Einklang mit europäischem Recht nur Unternehmen zum Zug kommen, die tarifgebunden sind oder mindestens Tariflöhne zahlen. (che/28.05.2021)