Kinderkommission

Sachverständige: Armut hat weitreichende Konsequenzen für den Bildungsverlauf

Ein kaputtes Paar Schuhe steht vor einem kleinen Kind.

„Kinderarmut und Bildung“ lautete der Titel eines öffentlichen Expertengesprächs der Kinderkommission. (picture alliance / photothek | Ute Grabowsky)

Kinder aus sozial schwachen Familien und Elternhäusern mit einem geringen Bildungsgrad brauchen mehr Aufmerksamkeit seitens Politik und Gesellschaft, sie benötigen qualitativ hochwertige Betreuung sowie zusätzliche Bildungsangebote und das möglichst bereits im Vorschulalter, forderten die Sachverständigen in einem Expertengespräch der Kinderkommission des Deutschen Bundestages (Kiko) zum Thema „Kinderarmut und Bildung“ am Mittwoch, 28. September 2022.

Erhöhtes Armutsrisiko für Kinder

Generell sei die Armutsgefährdung (gemessen am Median des Äquivalenzeinkommens der Bevölkerung) bei Kindern und Jugendlichen höher, sagte Dr. Susanne Patricia Lochner vom Deutschen Jugendinstitut. Mit 13 Prozent habe 2021 die Zahl der unter 18-jährigen Kinder, die in Bedarfsgemeinschaften leben, deutlich über dem Wert der Gesamtbevölkerung (8 Prozent) gelegen. Risiken für Kinder bestünden aber nicht nur durch ein geringes Haushaltseinkommen der Familie, verursacht etwa durch Arbeitslosigkeit der Eltern, sondern auch durch einen geringen Bildungsgrad der Erziehungsberechtigten. „Kinder mit formal gering gebildeten Eltern weisen ein deutlich höheres Armutsrisiko auf.“

Eltern mit geringerer Schulbildung läsen ihren Kindern weniger vor, die schulische Bildung der Kinder leide unter deren häuslicher Bildungssituation und der Bildungsstand der Eltern sei auch mitentscheidend dafür, was für Bildungsangebote Familien und ihre Kinder im außerschulischen Bereich nutzten. Das Risiko für Armut steige zudem in der Gruppe der Kinder mit einem alleinerziehenden Elternteil sowie bei Kindern mit Migrationshintergrund. Oft seien Kinder in armen und bildungsfernen Haushalten einer ganzen Reihe von Belastungen ausgesetzt, zu den materiellen kämen soziale Entbehrungen. Schließlich leide die Gesundheit der Kinder und es komme zu Entwicklungsverzögerungen. Besonders frustrierend sei, dass die chancenmindernden Lebensverhältnisse oft von Generation zu Generation weitergegeben würden.

Kita-Qualität und Spracherwerb entscheidend

Abhilfe könne ein früher Kita-Zugang für Kinder aus Familien mit niedrigem sozio- ökonomischem Status schaffen. Auch müsse weiter an der Verbesserung der Qualität des Kita-Angebots gearbeitet werden. Zudem solle der Besuch zusätzlicher Bildungsangebote in den Bereichen Musik, Sport, Spracherwerb gefördert werden. Die Familien in ihrer Gesamtheit müssten stärker frühzeitig, wenn die Kinder noch klein seien, durch Bildungsangebote unterstützt werden.

Auf Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache, immerhin 20 Prozent der Kita-Kinder, sei besonderes Augenmerk zu richten. Bei ihnen komme es auf einen frühzeitigen und umfassenden Spracherwerb an. „Die brauchen das 'Sprachbad' der Kita so früh wie möglich.“ Das Auslaufen der Förderung der Sprachkitas durch den Bund bezeichnete Lochner als Katastrophe. Je früher man in die Ausbildung der Kinder investiere, desto besser seien die aufgewendeten Mittel gesellschaftlich angelegt.

„Risiko für eine altersgemäße Entwicklung“

„Armut ist mehr als der Mangel an Geld, sondern eine prägende Lebensbedingung, die mit vielen Einschränkungen und Benachteiligungen einhergeht“, sagte Dr. Irina Volf vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, die Projekte und die Ergebnisse einer Langzeitstudie zur Unterstützung benachteiligter Kinder und Jugendlicher vorstellte.

„Kinderarmut ist vor allem Familienarmut“, die Kinder seien diesem Zustand ausgesetzt, ohne dass es bislang eine Hoffnung auf Besserung gebe, eine Dauerkrise. Armut „als Risiko für eine altersgemäße Entwicklung“ habe „weitreichende Konsequenzen für den gesamten Bildungsverlauf“, sie behindere die Betroffenen oft ihr Leben lang. Kinder aus armen Familien erreichten meist schlechtere Bildungsabschlüsse und litten unter gesundheitlichen Problemen.

Gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Es gelte, betroffene Kinder vor allem in den Übergangsphasen vom Kleinkindalter zur Schule sowie zwischen Schule und Erwachsenenleben zu begleiten, um den „Kreislauf der Armut zu durchbrechen“. Staat und Gesellschaft müssten ein hohes Interesse daran haben, dass Kindern und Jugendlichen ihr Lebenslauf gelinge. „Die Bekämpfung der Kinderarmut ist als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Die Berücksichtigung der Lebenslagen von Familien muss Standard werden“, forderte Volf.

Es bestehe ein akuter Bedarf an institutioneller Förderung von Kindern, die in armen Familien aufwachsen. Alarmierend sei, dass Vierjährige in armen Familien lediglich 50 Prozent der altersgemäßen Techniken beherrschten. In den evaluierten Projekten habe sich gezeigt, dass die Förderung vor allem bei sehr stark von Armut betroffenen Familien Wirkung gezeigt habe.

Individuelle, talentorientierte Förderung

Ein früher Zugang zur institutionellen Betreuung, längere Betreuungszeiten und Kleingruppen seien insbesondere für arme Kinder wichtig. Eine „individuelle, talentorientierte Förderung“ könne einen messbaren Beitrag zu größerer Chancengerechtigkeit am Übergang von der Kita zur Schule leisten. „Kinder können ihre Talente überhaupt erst entwickeln, wenn sie eine Chance dazu bekommen“, so die Sachverständige.

Vielen fehle es zudem an „Selbstwirksamkeitserfahrung“. Nur wenn Kinder aber die Erfahrung machten, dass sie aus eigener Kraft etwas schaffen und bewirken könnten, wüchsen sie auch zu mündigen Staatsbürgern heran, die Interesse an der Gestaltung des Gemeinwesens und an der Politik zeigten. Sowohl die in der Erziehung tätigen Fachkräfte als auch die Politik müssten stärker für das Thema Armut sensibilisiert werden und diesen Aspekt in Ihre Arbeit integrieren, Regierung und Parlament sollten sämtliche „Entscheidungen armutsbewusst treffen“, um die Zukunft armutsgefährdeter Kinder nicht zu verspielen.

„Ungünstige strukturelle Rahmenbedingung“

Kinderarmut treffe in Deutschland auf sehr ungünstige strukturelle Rahmenbedingung des öffentlichen Erziehungs- und Bildungswesens, sagte Prof. Dr. Birgit Herz vom Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover. Der gesamte Bereich sei chronisch unterfinanziert, ja „verarmt“. Das sei angesichts der individuellen Lage vieler Kinder sowie der gesellschaftlichen Bedeutung des Themas verantwortungslos. Die unzureichende personelle Ausstattung führe dazu, dass viele engagierte Erzieher und Lehrer unter den derzeitigen Bedingungen überfordert seien.

Sie riet, den Blick in der deutschen Debatte stärker auf Erfolge in anderen Ländern zu richten. Während das deutsche Schulsystem früh erfolgreiche von weniger erfolgreichen Kindern trenne und auf diese Weise Chancen auf bestimmte Gruppen verteile, habe man in Finnland mit einer stärkeren Betonung des „Community Verständnisses“ gute Erfahrungen gemacht. Von der Geburt an würden Kinder dort am Wohnort durch einen Paten und Ansprechpartner begleitet. Viel weniger Kinder würden dadurch Schwierigkeiten in der Schule haben oder diese ohne Abschluss verlassen.

„Illusion der Chancengleichheit“

In Frankreich wirke ein stark ausgebautes Privatschulsystem als gesellschaftlicher Stabilisator. In Deutschland müsse man weg kommen von dem Ansatz der Individualisierung junger Menschen und sich stärker einer gemeinschaftsorientierten Förderung verschreiben. Eine armutsorientierte Kinder- und Jugendpolitik müsse politikfeldübergreifend handeln, die Lebenssituation der Kinder von der Armut der Erwachsenen entkoppeln, in frühkindliche Bildung, Schulen und Stadtteilentwicklung investieren, die beteiligten Erwachsenen unterstützen sowie eine konstante Forschungsförderung zu dem Thema gewährleisten.

Herz mahnte, sich „von der Illusion der Chancengleichheit“ zu „verabschieden“. Daran habe sie noch als angehende Forscherin vor 50 Jahren geglaubt. Aber heute müsse es darum gehen, den jungen Menschen ihren Platz in der Arbeitswelt der Zukunft zu schaffen oder sie auf ein Leben in Nichterwerbstätigkeit vorzubereiten. Aber, dass „alle alles machen können“ sei „eine Illusion“. Dieser Inklusionsanspruch sei zudem überhaupt nicht mehr zu finanzieren. Es könne künftig lediglich darum gehen, bestimmte Härtelagen abzumildern. „Wir müssen die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft im Blick behalten. Inklusion und Integration können wir nicht völlig losgelöst von der weltwirtschaftlichen Entwicklung machen.“

Die Kinderkommission ist ein Unterausschuss des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Sie vertritt die Interessen von Kindern und Jugendlichen im Parlament. Alle ordentlichen Mitglieder der Kinderkommission sind Mitglieder des Familienausschusses. (ll/28.09.2022)

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