1. Untersuchungsausschuss

Ortskraft berichtet vom Chaos am Kabuler Flughafen

Bundeswehsoldaten betreten mit Gepäck das Heck eines Transportflugzeuges

Soldaten steigen in das Transportflugzeug A400M in Mazar-e Sharif/Afghanistan während der Rückverlegung und Ende der Mission Resolute Support im Jahr 2021. (Bundeswehr/Torsten Kraatz)

Bei der 13. Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses (Afghanistan) sagte am Donnerstag, 10. November 2022, zum ersten Mal ein Betroffener zu den chaotischen Bedingungen am Kabuler Flughafen im August 2021 aus, nachdem die Taliban die afghanische Hauptstadt unter ihre Kontrolle gebracht hatten.

Der ehemalige Ortskraft der Bundeswehr, der im Camp Marmal in Masar-e Scharif im Norden Afghanistans gearbeitet hatte, berichtete sowohl von Werkverträgen, die den afghanischen Mitarbeitern zum Schluss zum Verhängnis geworden waren, als auch von verzweifelten Versuchen sich und seine Familie in Sicherheit zu bringen.

Die Grausamkeit der Taliban

Er habe ab 2015 für die Bundeswehr TV-Sendungen produziert, berichtete der Zeuge. Er und sein Kameramann hätten oft Kampfhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Armee, aber auch der internationalen Truppen gefilmt. Diese seien später auf 14 Fernsehkanälen in verschiedenen Provinzen ausgestrahlt worden. Das Ziel sei gewesen, die afghanische Bevölkerung über die Grausamkeiten der Taliban zu informieren.

Zunächst habe er einen Vertrag direkt mit der Bundeswehr gehabt, sagte der Journalist. Doch einige Monate später habe man ihn und seine Kollegen informiert, dass sie nicht mehr für die Bundeswehr arbeiteten, sondern als freie Journalisten für ein Afghanisches Medienzentrum in Nordafghanistan. Ihnen seien neue Verträge vorgelegt worden. 

Ortskräfteverfahren der Bundeswehr

Die Mitarbeiter hätten anfänglich diese Änderung nicht akzeptieren wollen, weil ihre Arbeit sich inhaltlich nicht geändert hatte. Außerdem hätten weiterhin Berater der Bundeswehr an ihren Redaktionssitzungen teilgenommen. Man habe mit den Beratern sehr gut zusammengearbeitet. Auch das Geld, das sie ausgezahlt bekamen, sei von der Bundeswehr gekommen. Der Zeuge und seine Kollegen hätten schließlich jedoch nachgeben müssen, weil die afghanischen Vorgesetzten ihnen drohten, sie würden entlassen, wenn sie sich weigerten, die neuen Verträge zu unterschreiben.

Als im Jahr 2021 ein Provinz nach der anderen in die Hände der Taliban fielen, habe er versucht, vom Ortskräfteverfahren der Bundeswehr Gebrauch zu machen, um sich, seine Frau und seine Kinder in Sicherheit zu bringen. Doch man habe ihm erklärt, das sei nicht möglich, weil seine Mitarbeit mit der Bundeswehr länger als zwei Jahre zurückliege.

Gemeinsames Schriftstück an deutsche Behörden

28 afghanische Ortskräfte hätten daraufhin ein gemeinsames Schriftstück verfasst und den deutschen Behörden übermittelt. Doch ihre Bemühungen, sich bei deutschen Behörden in Afghanistan Gehör zu verschaffen, seien gescheitert. Sowohl die Botschaft in Kabul als auch das Konsulat in Masar-e Scharif hätten ihre Anträge abgewiesen. Hinzu sei gekommen, dass der Leiter des afghanischen Medienzentrums sie entlassen habe, mit der Begründung, sie hätten einen Asylantrag gestellt. Diese Entscheidung hätten auch die deutschen Behörden mitgetragen, berichtete der Zeuge.

Er habe weiterhin versucht, von deutschen Behörden eine Zusage zu bekommen, dass er und seine Familie nach Deutschland evakuiert werden würden. Obwohl viele Mittarbeiter der Bundeswehr ihn unterstützten, habe ihm die Bundeswehr mit einer Mail am 8. August mitgeteilt, dass er nicht im Rahmen des Ortskräfteverfahrens aus dem Land gebracht werden könne.

Vor den Toren Kabuls

Er und sechs seiner Kollegen hätten daraufhin ihre Situation in den afghanischen Medien bekanntgegeben. Einige von ihnen hätten ihre Berater der Bundeswehr kontaktiert. Als die Taliban vor den Toren Kabuls standen, sei er in Kabul gewesen. Seine Frau sei mit den Kindern einen Tag später hinzugekommen. Sie hätten Berichte darüber gehört, wie Angehörige der ethnischen Minderheit der Hasaras ermordet wurden. Auch er als Hasara sei in Gefahr gewesen.

Am 15. August, als die Taliban in Kabul einmarschierten, habe er eine Twitter-Nachricht von der Bundeswehr erhalten. Man habe ihn gefragt, wie man ihm helfen könne. Am 19. August habe er eine neue Nachricht bekommen. Er und seine Familie sollen sich zum Nordtor des Flughafens Kabul begeben, hieß es. Sie hätten mehrere Checkpoints der Taliban überwunden und seien schließlich am Nordtor angekommen. Dort hätten sich jedoch fürchterliche Szenen abgespielt. Die Menschenmenge habe versucht, das Tor zu stürmen, und um das abzuwehren, hätten die Sicherheitsbehörden die Menschen mit Gewehrkolben geschlagen, Warnschüsse abgegeben und Tränengas geworfen. Da es unmöglich gewesen wäre, in den Flughafen zu gelangen, sei er mit seiner Familie wieder zum Haus eines Freundes zurückgekehrt.

Dokumente per E-Mail

Wie der Zeuge weiter berichtete, habe sie die Bundeswehr dann erneut kontaktiert. Sie seien zu einem sicheren Haus umgezogen. In der Nacht kam eine E-Mail mit der Instruktion, zu einer konkreten Adresse zu gehen. In der Anlage der Mail sei noch ein Dokument gewesen. Mit diesem Dokument habe er sich am Flughafen bei der Bundeswehr melden sollen.

Von der genannten Adresse seien sie mit einem Bus wieder zum Flughafen gebracht worden, sagte der Zeuge aus. Auch die Taliban seien informiert gewesen und hätten sie durchgelassen. Nach einer Kontrolle durch US-Soldaten seien sie zu den Bundeswehr-Soldaten vor Ort weitergeschickt worden. Auch als er dort in der Schlange wartete, sei er von der Bundeswehr kontaktiert worden. Er habe berichtet, dass alles in Ordnung sei. Doch als er dran war, hätten die Soldaten, die seine Papiere kontrollieren sollten, nur flüchtig auf die Papiere geschaut, die er dabei hatte, und gesagt, er stehe nicht auf der Liste. Eine Soldatin habe ihn daraufhin angeschrien, er solle den Ort verlassen. Als er es noch einmal versuchen wollte, sei er diesmal direkt mit der Waffe bedroht worden. Daraufhin sei er wieder zurückgekehrt. Es sei eine schreckliche Erfahrung für ihn und seine Familie gewesen, sagte der Zeuge.

Nach Deutschland über Islamabad

Er habe sich an die Medien gewandt. Durch die Unterstützung seines Anwalts habe er schließlich beim Auswärtigen Amt in Berlin ein Asylantrag stellen können. Später habe er Afghanistan auf dem Landweg verlassen und sei in die pakistanische Hauptstadt Islamabad gefahren. Dort hätten die deutschen Behörden ihn sehr freundlich empfangen und circa zwei Wochen später nach Deutschland gebracht, schilderte der Zeuge.

Der Zeuge erzählte dem Ausschuss, dass er und seine Frau nun Deutschkurse besuchten und ihre Kinder im Kindergarten seien. Sie seien jedoch fest entschlossen, wieder nach Afghanistan zurückzukehren, sobald dort wieder Frieden herrsche. Die ehemalige Ortskraft der Bundeswehr bat zum Schluss seines Berichtes den Ausschuss darum, den Ortskräften zu helfen, die noch in Afghanistan sind. Ihr Leben sei weiterhin in Gefahr.

Stegner: Koordinierungsprobleme aufklären

Nach einer Pause konzentrierte sich der Ausschuss auf mögliche Koordinierungsprobleme zwischen deutschen Stellen bei der Evakuierung aus dem Kabuler Flughafen. Der Fall der zunächst angehörten ehemaligen Ortskraft warf dabei viele Fragen auf, die noch tiefer untersucht werden müssen. 

Der Vorsitzende des Ausschusses, Dr. Ralf Stegner (SPD), bat den Zeugen, alle Informationen, die er zu dem genannten Callcenter habe, das ihn mehrmals anrief, und die verschiedene Telefonnummern und E-Mail-Adressen, von denen er im Zuge seiner am Ende über den Landweg erfolgte Evakuierung kontaktiert wurde, mit dem Ausschuss zu teilen, um an anderer Stelle weitere Informationen zu diesem Vorgang einzuholen. Dabei geht es darum, mögliche Koordinierungsprobleme zwischen verschiedenen Behörden aufzuklären.

Zeuge arbeitete im Auftrag der Nato

Der zweite Zeuge, der zwischen 2005 und 2014 bei der Produktion von TV-Beiträgen als Cutter für die Nato gearbeitet hatte, sagte aus, dass er das Land verlassen musste, nachdem Unbekannte in sein Haus eingedrungen und seine Familie bedroht hatten. Er habe viel Geld zahlen müssen, um aus dem Land zu kommen und erst im Flughafen Frankfurt erfahren, wo er gelandet war. Später habe er seine Eltern und seine Schwester nach Deutschland bringen wollen, weil auch sie in Lebensgefahr gewesen seien. Seine Eltern hätten erst kürzlich nach Deutschland ausreisen dürfen. Seine Schwester verstecke sich weiterhin in Kabul. Ihr Antrag sei abgelehnt worden, obwohl sie die gleichen Dokumente und Nachweise bei den deutschen Behörden vorgelegt habe.

Der Ausschuss stellte im Zuge der Befragung fest, dass der Zeuge nicht für die Bundeswehr, sondern für die Nato gearbeitet hatte. So wurde, unter anderem auch durch Komplikationen bei der Übersetzung, erst nachträglich deutlich, dass der Fall des Zeugen nicht in den Untersuchungsauftrag des Ausschusses passt, sondern höchstens der Fall seiner Familie, die im Rahmen der Ortskräfteverfahren ausreisten. Daraufhin wurde die Befragung des Zeugen beendet. Aus Zeitgründen vertagte der Ausschuss die Befragung des letzten Zeugen, des Vorsitzenden des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte e.V.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/eis/11.11.2022)

Marginalspalte