Enquete-Kommission Afghanistan

Experten bemängeln umfassende Ambitionen ohne Exitstrategie

Erfolge und Fortschritte: Sie gab es durchaus beim Aufbau einer zivilen Polizei, rechtsstaatlicher Strukturen und bei Projekten der Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan, unterstrichen die Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ am Montag, 24. April 2023. Doch allzu umfassende Ambitionen ohne Exitstrategie, die anhaltend schwache Staatlichkeit Afghanistans gepaart mit Korruption und die sich immer weiter verschlechternde Sicherheitslage ließen die am internationalen Engagement beteiligten deutschen Akteure schließlich scheitern. Das Ziel, die internationale Hilfe und Unterstützung in alleinige afghanische Zuständigkeit und Verantwortlichkeit zu überführen, sei in den in der Sitzung betrachteten Jahren 2009 bis 2014 in immer weitere Ferne gerückt, so die Experten.

Polizeiakademie Kabul

Von dem Bemühungen, „buchstäblich“ aus Ruinen „eine dem demokratischen Rechtsstaat verpflichtete Polizei aufzubauen, die gut ausgebildet zivilpolizeilich agieren würde“  - „Dieses Ziel ist nie erreicht worden“ - , berichtete Peter Jördening vom Bundespolizeipräsidium Potsdam, 2020 bis 2021 Leiter des Deutschen Polizeiprojektteams Afghanistan (GPPT) sowie in den Jahren 2003/04 Stellvertreter und Leiter des Deutschen Polizeiprojektbüros (GPPO) in Kabul.

Man habe die Polizeiakademie in Kabul als zentrale Ausbildungsstätte renoviert. Die anfängliche Personalstärke des GPPO konnte im Lauf der Jahre von 14 auf über 30 deutsche Polizeikräfte erhöht werden. Ergänzt worden seien diese Stammkräfte durch Polizisten neun anderer kooperierender Staaten, beispielsweise aus Australien, Kanada, Indien, Norwegen und Niederlanden, aber auch dem Iran. Schließlich habe die Akademie eine Kapazität von mehr als 2.000 Auszubildenden gehabt.

Unkoordinierter des Polizeiaufbau

Dieser nachhaltige Kapazitätsaufbau habe sich jedoch aufgrund der Ausdehnung auf die Provinzen nicht durchhalten lassen. Außerdem hätten die Vereinigten Staaten schon bald damit begonnen, mit massivem Mitteleinsatz eine „Highwaypolice“ in einem schnelleren Ausbildungsverfahren zur kurzfristigen Stabilisierung des Landes auszubilden. Damit habe man sich abgekehrt von der Schaffung einer einheitlich qualifizierten Zivilpolizei. Die Koordinierung des Polizeiaufbaus sei somit durch die territoriale Ausdehnung und durch die Aufsplitterung in unterschiedliche Polizeiarbeit verloren gegangen. Zur Verbesserung der Sicherheit hätte man besser mehr Soldaten oder Gendarmerie ausbilden sollen, sagte Jördening.

Deutschland aber hätte seine Aufbauunterstützung „mit einer realistischeren, operationalisierbareren Zielsetzung“ und einem klaren Ausstiegsszenario angehen sollen. Stattdessen habe man Afghanistan 2002 mit einer „sehr weit gefassten Verantwortungsübernahme als lead nation“ für den Aufbau einer funktionierenden Zivilpolizei eine „carte blanche“ ausgestellt. Das mit dem deutschen Engagement verbundene Angebot an die afghanische Seite, den Polizeiaufbau personell und materiell mit Fachexpertise zu begleiten, habe über den gesamten Einsatzzeitraum bestanden. „Ein so breites Versprechen ist nicht haltbar.“ Es unterliege zu vielen Faktoren, auf die man keinen Einfluss habe. Deutschland habe sich für die Afghanen dennoch als verlässlicher Partner erwiesen, bilanzierte Jördening.

Fortschritte in der Gesundheitsversorgung

Was für Erfolge in einigen Bereichen der Entwicklungszusammenarbeit vorzuweisen seien, betonte auch Stefan Recker, Leiter des Caritas-Büros in Afghanistan. So habe man deutliche Fortschritte in der Gesundheitsversorgung, bei der Reduzierung der Kindersterblichkeit, bei Grundbildung, Elektrifizierung und dem Zugang zu sauberem Trinkwasser erreicht. Dabei habe Caritas International zu keinem Zeitpunkt an dem Ansatz der „Vernetzten Sicherheit“ oder dem Finanztopf des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für Nichtregierungsorganisationen (NROs) teilgenommen.

Seine Organisation setzte grundsätzlich auf kleine und mittlere Projekte, sei es im Gesundheitsbereich oder bei Infrastrukturvorhaben, und realisiere diese „eingebettet“ mit lokalen Partnern und den örtlichen Behörden. Das so gewachsene Vertrauen, die so entstandene Akzeptanz: „Das ist für uns Sicherheit.“ Es habe in Afghanistan im Untersuchungszeitraum stets eine gute Kooperation zwischen den deutschen Hilfsorganisationen gegeben, darunter auch die staatliche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Sehr hinderlich sei die in Afghanistan verbreitete Korruption gewesen.

Verschlechterung der Sicherheitslage

Bereits ab 2004 habe sich zudem die Sicherheitslage kontinuierlich verschlechtert. „Anschläge und Entführungen nahmen deutlich zu und schränkten die Freiräume für NROs, nationale und internationale Fachkräfte erheblich ein.“ Die Sicherheitsmaßnahmen für das Landesbüro in Kabul und die eigenen Mitarbeitenden hätten stetig erhöht werden müssen. 2018 habe man dann beschlossen, die Unterkünfte der internationalen Fachkräfte mit den Büros zusammenzulegen, um diese besser bewachen zu können. Der Zugang zu Projektregionen sei für die NROs immer schwieriger geworden. Nur aufgrund der Vernetzung mit ihren langjährigen lokalen Partnern habe Caritas an vielen Orten danach noch weiter arbeiten können.

Gegenüber den örtlichen Kooperationspartnern habe sich Caritas stets als Hilfsorganisation positioniert, ohne ihren katholischen Hintergrund zu betonen. Die lokalen religiösen Kräfte seien selbstverständlich einbezogen worden, um den Projekten bei der betroffenen Bevölkerung durch den Segen der örtlichen Geistlichen die nötige Legitimation zu verleihen. Auf militärische Sicherheit sei man als Hilfsorganisation dagegen nicht angewiesen. „Die Durchführung kleinerer Projekte geht ohne Militär.“ „Eine militärische Präsenz habe noch keiner Hilfsorganisation geholfen, kleine oder mittlere Projekte durchzuführen“, betonte Recker, der das Konzept der vernetzen Sicherheit kritisch beurteilte.

„Eine Vernetzung alleine schafft keine zusätzliche Sicherheit und erhöht auch nicht zwangsläufig die Wirksamkeit der Maßnahmen. Sicherheitskonzepte von NROs beruhen in erster Linie auf Akzeptanz und Vertrauen der lokalen Bevölkerung.“ Die Themen Entwicklungshilfe und Sicherheit sollten vor Ort sichtbar voneinander getrennt agieren. NROs liefen durch eine enge Kooperation mit militärischen Kräften sogar Gefahr, selber als Konfliktpartei identifiziert und zum Ziel von Angriffen zu werden. Dennoch sollten Sicherheitskräfte und Hilfsorganisationen in einen Austausch etwa über die Sicherheitslage treten.

Problem der Korruption

Dr. Tilmann J. Röder von der JustPeace gGmbH rief in Erinnerung, dass die ständigen und zunehmenden gewaltsamen Konflikte in Afghanistan gewaltige finanzielle Ressourcen des Staates gebunden hätten, die dann nicht für zukunftsgerichtete Investitionen zur Verfügung standen. So seien im Betrachtungszeitraum „22 bis 26 Prozent des Staatshaushaltes dem Sicherheitssektor zugeflossen“. Die staatlichen Strukturen seien aber auch noch durch andere Faktoren geschwächt worden, die der Regierung die Kontrolle immer weiter hätten entgleiten lassen.

So habe die hohe Zahl an Binnenvertriebenen „dramatische humanitäre Folgen“ gehabt. Andererseits sei staatliches Handeln durch die Korruption - dem „größten Problem in den staatlichen Strukturen“ - ausgebremst worden. Und nicht nur das: „30 Prozent der internationalen Finanzhilfen sind durch Korruption verloren gegangen“. Auch die seitens der internationalen Gemeinschaft aufgebauten parallelen Hilfsstrukturen seien in diesem Zusammenhang ein Problem geworden. Zudem sei Afghanistan von einem dichten Netz historisch gewachsener informeller Strukturen überzogen und diese seien mit dem Staat „zu einem Gesamtkonstrukt verschmolzen“. Nicht ohne Grund bezeichne man Afghanistan als ein „Stammesland“.

Bedeutung der Stämme und religiöser Autoritäten

Die Bedeutung der Stämme sei zwar nicht mehr so groß wie noch vor etwa einhundert Jahren. Aber der erste unter der internationalen Verwaltung gewählte Präsident Hamid Karsai hätte dieses Amt wohl nicht erlangen können ohne seine Zugehörigkeit zur Ethnie der Paschtunen. Als zweite Gruppe mit erheblicher Macht, die wesentliche staatliche Positionen und Ort besetzten, nannte Röder die „war lords“, Militärführer aus der Sowjetzeit. 2007 hätten diese für ein Amnestiegesetz zu ihren Gunsten gesorgt.

Einen weiteren Machtfaktor stellten die religiösen Autoritäten dar, die Positionen des radikalen Islamismus in die staatliche Sphäre transferierten. Es komme zu „hochproblematischen Verbindungen“ zwischen Islam, Politik und Staat. Während der internationalen Präsenz seien im afghanischen Staatswesen an zahlreichen führenden Stellen Kräfte vertreten gewesen, die nicht wirklich andere Positionen vertreten hätten als die Taliban früher und jetzt erneut. Und schließlich gebe es da noch die Drogennetzwerke als vierte informelle Struktur, durch die Politik und Verwaltung immer weiter korrumpiert würden.

Begrenzte Machtfülle

Präsident und Parlament hätten demgegenüber nur eine begrenzte Machtfülle gehabt, die auch noch wegen Millionen gefälschter Wahlstimmen an Legitimität eingebüßt habe. Beide Institutionen hätten sich auch noch gegenseitig blockiert und so wichtige Entscheidung für das Land verhindert. Dennoch seien „beeindruckend viele Afghanen immer wieder zur Wahl gegangen“ und hätten sich auf diese Weise zu dem neuen Staat bekannt. Künftig solle man mehr noch die Menschen und ihre Interessen beim Staatsaufbau in den Blick nehmen und der internationalen Aufbauhilfe einen „Friedensprozess vorschalten“, sagte Röder.

Eine neue Rechtskultur in einem Land wie Afghanistan einzuführen bedeute eine Generationenaufgabe. Vom Ausbildungslehrgang bis zur Rechtsdurchsetzung tue sich eine Spannung auf zwischen Strafrecht und Scharia. Entsprechend hätte man 30, 35 Jahre dafür einplanen müssen. Demgegenüber stünden jedoch, dem deutschen Haushaltsrecht geschuldet, Projektlaufzeiten von ein, zwei Jahren, die in der Regel nicht verlängert würden.

Deutsches Engagement in Afghanistan

Das Gremium aus zwölf Abgeordneten und zwölf Sachverständigen untersucht den gesamten Zeitraum des deutschen Engagements in Afghanistan von 2001 bis 2021. Auf dieser Basis sollen Ansätze zur Optimierung des vernetzten Ansatzes als Grundprinzip deutscher Außenpolitik entwickelt werden. 

Der vernetzte Ansatz in der Sicherheitspolitik beschreibt die Verzahnung militärischer, polizeilicher, diplomatischer, entwicklungspolitischer und humanitärer Instrumente bei Einsätzen im Rahmen internationaler Friedensmissionen. Ob dieser Ansatz der richtige war und wie das Zusammenspiel von militärischen und zivilen Maßnahmen im internationalen Krisenmanagement aussehen müsste, um erfolgreich zu sein – dazu soll die Enquete-Kommission dem Bundestag Vorschläge für die Zukunft machen. (ll/24.04.2023)

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