1. Untersuchungsausschuss

Zeuge: Rechtlicher Rahmen für Ortskräfte-Evakuierung fehlte

Afghanen besuchen einen Kabuler Markt im September 2021.

Afghanen besuchen einen Kabuler Markt im September 2021. (picture alliance / AA | Wali Sabawoon)

Laut Aussage eines Zeugen vor dem 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) war die Bundesregierung auf die Evakuierung von Ortskräften nicht ausreichend vorbereitet, weil der dafür nötige rechtliche Rahmen fehlte. Er hatte im Untersuchungszeitraum das Referat „Optimierung des Visaverfahrens und Organisationsberatung der Visastellen im Auswärtigen Amt (AA)“ geleitet. In der Sitzung am Donnerstag, 12. Oktober 2023, räumte er ein, er habe sich gewünscht, dass der rechtliche Rahmen für eine schnelle Evakuierung der Ortskräfte in Afghanistan früher geschaffen worden wäre. „Wenn wir Personal als Ortskräfte in Krisenregionen anstellen, müssen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass es [die Evakuierung] sehr schnell geht“, sagte er.

Der Beamte erklärte, sein Referat habe drei Aufgaben: die Visastellen beraten, das Personal schulen und Verträge mit externen Dienstleistern abschließen, um die Auslandsvertretungen zu entlasten. 

Zeuge: Visavergabe war schon vor Doha schwer

Er betonte, es sei für ihn immer ein realistisches Szenario gewesen, dass der Truppenabzug zu einer erhöhten Zahl von Anträgen und sogar zu chaotischen Szenen führen könne. Die Visumbearbeitung erfordere unter solchen Umständen mehr Personal. „Ich bin alt genug, um mich an Vietnam zu erinnern“, unterstrich er. „Wenn man Lehren aus der Geschichte zieht, muss man sich darauf vorbereiten.“ Da bereits vor dem Abschluss des Doha-Abkommens im Frühjahr 2020 die Visavergabe für afghanische Staatsbürger sehr schwer gewesen sei und vor allem die gefährdeten Ortskräfte deutscher Institutionen in Afghanistan davon betroffen gewesen seien, habe sein Referat früh überlegt, bei der Antragsannahme mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Kabul zu kooperieren. 

Bevor die Zusammenarbeit 2021 aufgenommen werden konnte, habe jedoch das Bundesinnenministerium (BMI) überzeugt werden müssen, erklärte der Zeuge. Dort sei befürchtet worden, die lokalen Mitarbeiter der IOM könnten ein Sicherheitsrisiko darstellen. Auch den Vorschlag, Visaanträge von Afghanen alternativ in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad von einem externen Dienstleister entgegennehmen zu lassen, habe das BMI mit derselben Begründung abgelehnt. Als die IOM schließlich doch ihre Arbeit aufgenommen habe, sei es zu spät gewesen, so der Zeuge. Die Taliban hätten kurz darauf Kabul überrannt.

Die Sicherheitsbedenken des BMI

Man hätte sich vorbereiten müssen, betonte der AA-Mitarbeiter immer wieder, erklärte jedoch auch: „Man kam immer an eine Grenze, was man aus Sicherheitsgründen nicht überschreiten kann.“ Kurzzeitig habe man erwogen, die deutsche Botschaft in Teheran zu ertüchtigen. Aber diese Idee sei aus politischen Gründen verworfen worden. 

Laut Aussage des Zeugen mussten im Rahmen des Ortskräfteverfahrens (OKV) die Dokumente der Antragsteller und ihrer Familienangehörigen von lokalen Vertrauensanwälten geprüft werden. Außerdem sei gesetzlich eine Sicherheitsprüfung im Vorfeld vorgesehen gewesen, die den Prozess zusätzlich verlängert habe. Um das OKV zu verkürzen, habe sein Referat überlegt, beide Prüfungen abzuschaffen: „Ich ging davon aus, dass die Ortskräfte, die von der Bundeswehr und anderen angestellt worden sind, vorher geprüft worden waren. Das waren keine Unbekannte.“ Aber auch dieser Vorschlag habe im BMI kein Zuspruch gefunden.

Die Sicherheitsbedenken des BMI waren laut Aussage des Zeugen nicht das einzige Hindernis bei der Antragsannahme. Der AA-Beamte machte auch auf technische Schwierigkeiten aufmerksam. So habe zum Beispiel die Ausfuhr der Geräte, die bei der Annahme von Visaanträgen eingesetzt werden, vorher genehmigt werden müssen. Grund dafür sei eingebauter Chip aus den USA.

Konflikte zwischen Ressorts

Die zweite Zeugin, die im Untersuchungsausschuss auftrat, leitete im Untersuchungszeitraum das Referat im Bundeskanzleramt (BKAmt), das für innenpolitische Angelegenheiten zuständig ist. Sie berichtete, es habe erst ab Ende April 2021 an den regelmäßigen Ressortbesprechungen teilgenommen. „Wir wurden auf Initiative des BMI eingeladen und versuchten, uns einzuarbeiten“ sagte sie und fügte hinzu: „Aber auch wenn wir früher dabei gewesen wären, hätte sich nichts geändert.“ Die Referatsleiterin erklärte den Abgeordneten die generelle Arbeitsweise des Kanzleramts. Konflikte zwischen Ressorts sollten danach erst auf Arbeitsebene versucht werden zu lösen.

Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel habe sich einmal entscheidend eingebracht, erinnerte sich die Zeugin. Als die damalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer im Juni 2021 gefordert hatte, den Kreis der OKV-Berechtigten auszuweiten, habe die Kanzlerin eine Woche darauf in einer Ministerbesprechung entschieden, dieser Forderung nachzukommen.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/13.10.2023)

Marginalspalte