Ex-Generalinspekteur Zorn: Mangelnde Führung und späte Entscheidungen
Zeit:
Donnerstag, 26. September 2024,
12 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal Europasaal (4.900)
Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Eberhard Zorn hat auf die Rolle mangelnder Führung und später Entscheidungen hingewiesen. Zorn wurde am Donnerstag, 26. September 2024, bei der 85. Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses Afghanistan angehört. Der Ausschuss untersucht die Ereignisse zwischen dem Doha-Abkommen, mit dem die USA und die Taliban den Rückzug internationaler Truppen aus Afghanistan vereinbarten, und der chaotischen Evakuierung vom Flughafen Kabul im August 2021.
„Abzug vorbildlich ausgeführt“
Gleich zu Beginn seiner Ausführungen sagte Zorn, der im Untersuchungszeitraum der ranghöchste General der Bundeswehr war, das generelle Dilemma sei, dass man immer sehr lange versuche, diplomatische Lösungen ohne Militäreinsatz zu finden. „Sobald das scheitert, sollen wir hin, aber das braucht Vorlauf“, sagte er.
Bezüglich der Rückführung des deutschen Kontingents habe man immer darauf gewartet, dass eine Entscheidung kommt, erklärte der Zeuge. „Wir haben uns durchgehangelt“, sagte er: „Das führt zu viel Planungsarbeit.“ Dennoch sei der Abzug „mit den sich immer verändernden Rahmenbedingungen vorbildlich ausgeführt worden“.
Komplizierte Evakuierungsmission
Komplizierter sei es in Bezug auf die Evakuierungsmission gewesen. Die Bundeswehr habe zwar auch für dieses Szenario eine Eventualplanung gemacht, führte Zorn aus. Dabei sei aber zunächst von 300 deutschen Staatsangehörigen ausgegangen worden, die nach Deutschland ausgeflogen werden müssten.
Bei der Evakuierung der Ortskräften seien viele Entscheidungen zu spät getroffen worden, sagte Zorn. „Wir“ – und damit meinte er die deutsche Regierung – „haben uns monatelang damit beschäftigt, weil wir nicht in der Lage waren, Visa auszustellen. Und wenn wir das nicht wuppen können, dann ist das Verfahren zu kompliziert“, so sein Resümee. Auch Charterflüge für die Evakuierung von Ortskräften seien zu spät erwogen worden. Als das irgendwann im Juni 2021 ins Gespräch gebracht worden sei, „war der Zug abgefahren“.
„Eine der besten Bundeswehr-Operationen“
Die Amerikaner und die Briten hätten vier oder fünf Tage vor den Deutschen begonnen zu evakuieren, berichtete der ehemalige Generalinspekteur. Sie hätten jedoch andere Strukturen. Bei den US-Streitkräften gebe es eine Division, die dem Präsidenten unterstehe, und wenn der sage „es geht los“, dann würden sie auch sofort einfliegen. Eigene Analysen hätten gezeigt, dass es in Deutschland keine Kräfte gebe, die nur für Evakuierung zuständig seien.
Das Ergebnis der Bilanz, die auf Anweisung der damaligen Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) erstellt wurde, habe dennoch gezeigt, dass die Evakuierung – rein militärisch – eine der besten Operationen gewesen sei, die die Bundeswehr je gemacht habe.
Drei Punkte für künftige Evakuierungsoperationen
Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr gab auch über die Unterrichtung des Bundestages Auskunft. Vor allem, weil viele Informationen „eingestuft“ seien, versuche man, die Lage mehr im Gespräch zu erklären als sie aufs Papier zu bringen. In den Ausschüssen würde alles erzählt, denn dort werde das Eingestufte respektiert. Es könne aber sein, dass der schriftliche Bericht für das Parlament eingeschränkt gewesen sei, weil es dort eher öffentlich werde.
Zorn unterstrich während seiner Befragung drei Punkte, die zu beachten seien für eventuelle zukünftige Evakuierungsoperationen. Erstens müssten Einsatzkräfte zu ihrem eigenen Schutz dafür explizit ausgebildet werden. Zweitens müsse die technische Ausrüstung vorgehalten werden. Und drittens sollten Verträge für logistische Unterstützung mit verschiedenen Ländern und Nato-Mitgliedern in den Einsatzregionen abgeschlossen werden. Deutschland verfüge heute über keine eigenen Stützpunkte.
Hoofe: Keine Ad-hoc-Evakuierung
Nach der Vernehmung des ehemaligen Generalinspekteurs der Bundeswehr befragte der Untersuchungsausschuss den ehemaligen Staatssekretär Gerd Hoofe und Staatssekretär Benedikt Zimmer aus dem Bundesministerium der Verteidigung (BMVg). Beide Staatssekretäre, die sich im Untersuchungszeitraum gegenseitig vertreten hatten, gaben detaillierte Auskunft über operative und politische Aspekte der Evakuierungsoperation.
Hoofe unterstrich, dass die militärische Evakuierung nicht ad hoc geschehen sei, sondern es bereits Planungen für eine schnelle und robuste Evakuierung gegeben habe. Bereits im April 2021 seien die „Szenarien verdichtet worden.“ Das BMVg habe die Erweiterung des Berechtigtenkreises für das Ortskräfteverfahren durchgesetzt. Die damalige Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer habe immer wieder auf die besondere Verantwortung gegenüber den afghanischen Ortskräften und ihren Familien hingewiesen, sagte Hoofe: „Für sie war das die höchste Priorität.“
Ministerien mit unterschiedlichen Interessen
Sein Ministerium habe sich außerdem für die Vereinfachung des Ortskräfteverfahrens (OKV) eingesetzt und eine schnelle und unbürokratische Aufnahme befürwortet, berichtete der ehemalige Staatssekretär. Die anderen Ressorts hätten andere Interessen gehabt. So habe das Bundesinnenministerium vor allem Sicherheitsaspekte im Blick gehabt. Das Auswärtige Amt und das Entwicklungsministerium hätten darüber hinaus darauf Wert gelegt, dass nicht durch eine frühzeitige Evakuierung von Ortskräften „Pull-Effekte“ verursacht werden.
Die Unterscheidung im OKV zwischen direkten Mitarbeitern deutscher Institutionen und Mitarbeitern von Subunternehmern sei seiner Meinung nach nicht sinnvoll, antwortete Hoofe auf entsprechende Nachfrage. Für das BMVg sei das einzig entscheidende Kriterium gewesen, ob die Tätigkeit der Ortskraft, die mit der Bundeswehr zu tun gehabt hatte, zu einer eigenen Bedrohung geführt habe. Das sei beispielsweise bei den Mitarbeitern des Mediencenters der Fall gewesen, die formal für ein Subunternehmen arbeiteten.
„Löschmoratorium erlassen“
In der Nacht vom 12. auf den 13. August sei die Nachricht gekommen, dass die USA Truppen zum Flughafen Kabul verlegten. Da sei klar gewesen, dass die eigenen Evakuierungspläne so schnell wie möglich umgesetzt werden müssten. Dabei sei jedem klar gewesen, dass es in erster Linie um die deutschen Staatsangehörigen, aber auch um Personen von Partnernationen und so weit wie möglich um die Ortskräfte und Repräsentanten der Zivilgesellschaft ging.
Hoofe lobte die Vorbereitung und Ausführung der Operation. Die deutschen Kräfte seien neben den US-Amerikanern und den Briten die ersten in Kabul gewesen. In der Rückschau glaube er jedoch, dass man es noch besser hätte machen können. Aufgrund der öffentlichen und politischen Debatte darüber, was in einer derartigen Operation geschehen müsse, habe er es für notwendig gehalten, diesen Prozess aufzuarbeiten. Daher habe er, um alle Dokumente über die gesetzlichen Vorschriften hinaus zu sichern, ein Löschmoratorium erlassen, teilte Hoofe mit.
Zimmer: Differenzen in der Frage der Ortskräfte
Staatssekretär Benedikt Zimmer hob die Differenzen zwischen den verschiedenen Ressorts in der Frage der Ortskräfte hervor. „Das BMVg war daran interessiert, das OKV so zu gestalten, dass wir unseren Ortskräften die Ausreise ermöglichten“, sagte er und fügte hinzu: Das Auswärtige Amt sei jedoch nicht daran interessiert gewesen, dass Ortskräfte in großer Zahl nach Deutschland kommen: „Denn sie wollten Afghanistan auch nach dem Abzug der deutschen Truppen weiterhin unterstützen.“ Auch das Entwicklungsministerium habe darauf gedrungen, nach dem Abzug die Fortführung der Entwicklungszusammenarbeit sicherzustellen.
Nachdem die Unterzeichner im Februar 2020 im Doha-Abkommen beschlossen hatten, dass die internationalen Truppen bis zum 1. Mai 2021 das Land verlassen würden, hätten die Taliban die Zusage gemacht, nicht gezielt gegen die internationalen Truppen vorzugehen. Andererseits seien die innerafghanischen Friedensgespräche intensiv gewesen, machte Zimmer deutlich.
Untersuchungsauftrag
Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.
Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der elfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/30.09.2024)