Priorisierung unter den Ortskräften bei der Evakuierung

US-amerikanische Militärmaschinen stehen am 31. August 2021 auf dem Kabuler Flughafen. (© picture alliance / zumapress.com | U.S. Air Force)
Zeit:
Donnerstag, 10. Oktober 2024,
12 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal Europasaal (4.900)
Martin Jäger, der ehemalige Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), zeichnete ein differenziertes Bild bei der Aufnahme von Ortskräften aus Afghanistan. Die Ortskräfte der deutschen Institutionen in Afghanistan hätten den Erfolg des Aufbaus verkörpert und seien nach dem Vormarsch der Taliban im Sommer 2021 in großer Gefahr gewesen, sagte Jäger am Donnerstag, 10. Oktober 2024, bei der Anhörung im 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan).
Dennoch habe er eine pauschale Aufnahme abgelehnt, weil nicht alle gleichermaßen bedroht gewesen seien. Der Ausschuss untersucht die Ereignisse zwischen der Unterzeichnung des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban im Februar 2020, mit dem der Abzug internationaler Truppen geregelt wurde, und der chaotischen Evakuierungsoperation am Flughafen Kabul im August 2021.
Staatssekretärsrunde zu Ortskräfteverfahren
Der Diplomat betonte, im April 2021 mit der Ankündigung der Amerikaner im September des Jahres abzuziehen, sei jedem klar gewesen, was auf sie zukam. Daher sei in der Staatssekretärsrunde, in der sich Staatssekretäre aus allen Ressorts trafen, die sich mit dem Thema beschäftigten, darüber gesprochen worden, das Ortskräfteverfahren (OKV) praktikabel zu machen und zu beschleunigen. Dass immer neue Aspekte zu berücksichtigen gewesen seien, habe die Arbeit erschwert.
So habe man beispielsweise überlegen müssen, wie mit den Mitarbeitern der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder den Werkvertragsnehmern umgegangen werden sollte. Allerdings sei auch allen bewusst gewesen, dass es am Ende einen Punkt geben würde, nach dem das OKV mit Einzelanträgen nicht mehr funktionieren würde und ein pauschalisiertes Verfahren notwendig sei.
Pauschale Aufnahme der Ortskräfte
Seine Ablehnung einer pauschalen Aufnahme der Ortskräfte begründete der ehemalige Staatssekretär damit, dass alle Ortskräfte gleich behandelt werden müssten. Wenn, wie später geschehen, auch die Anträge der Ortskräfte der Bundeswehr oder der Bundespolizei rückwirkend Berücksichtigung fänden, die zwischen 2013 und 2019 gestellt worden sind, hätte es seiner Meinung nach schwierig werden können, den Ortskräften des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) oder des Auswärtigen Amtes (AA) zu erklären, warum diese Regelung nicht auch für sie gelte. Dann wären jedoch so viele Personen aufnahmeberechtigt gewesen, dass das OKV nicht mehr praktikabel gewesen wäre.
Bereits im April habe das BMZ zusammen mit der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) begonnen, die eigenen Ortskräfte auf eine eventuelle Evakuierung vorzubereiten. So seien sie zum Beispiel dazu aufgerufen worden, Reisepapiere zu beantragen, da viele Afghanen keine besessen hätten. Die GIZ habe bald begonnen, die Ortskräfte nach Kabul zu bringen. Besonders hervor hob Jäger die Rolle der Task Force, die im BMZ gegründet wurde. Diese sei am 9. August beschlossen und die Stellen seien sofort ausgeschrieben worden, sodass die Task Force während der Evakuierung sofort arbeitsfähig gewesen sei.
Erweiterung des Kreises der Aufnahmeberechtigten
Jäger berichtete, dass während der militärischen Evakuierung der Kreis der Aufnahmeberechtigten auch für das BMZ erweitert wurde und die Zahl der Anträge stark angestiegen sei. Es sei schwer gewesen, die berechtigten Personen in den Flughafen zu bekommen, und auch die Flugkapazitäten seien nicht ausreichend gewesen. Daher habe man bei der Evakuierung die Personen priorisiert, die nach alter Regelung aufnahmeberechtigt waren und bereits Anträge gestellt hatten. Alle weiteren Anträge seien zwar entgegengenommen, aber später bearbeitet worden. Den Übergang von der Individual- auf Pauschalaufnahme in dieser Zeit bezeichnete der ehemalige Staatssekretär als einen „Sprung“. Das sei „eine ganz andere Welt“, sagte er.
Der damalige Entwicklungsminister Dr. Gerd Müller (CSU) habe in der heißen Phase, also in den Tagen der militärischen Evakuierung aus dem Flughafen Kabul, „eine operative Rolle übernommen“, erinnerte sich Jäger. Er habe viel Zeit in Gesprächen mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs) investiert und sei auch im Austausch mit dem Bundestag gewesen.
Zusammenarbeit mit den Taliban
Abschließend führte der Zeuge nochmal zum Doha-Abkommen aus, dass ihn überrascht habe. Danach sei im BMZ diskutiert worden, was das für die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) in Afghanistan bedeute. Beim BMZ sei man von zwei Szenarien ausgegangen: eine Regierungsbeteiligung der Taliban oder deren Machtübernahme. Vieles sei dabei davon abhängig gewesen, „ob man den Konflikt einhegen“ könnte. Zeitweise habe es Hoffnungen gegeben, sagte der Zeuge. Auch er habe gedacht, es könne mehr als eine Taliban-Herrschaft herauskommen.
Jäger verglich die damalige Situation mit der in den 1980er Jahren, nachdem die sowjetischen Truppen abgezogen worden waren. Damals habe die Regierung weiterhin die Städte kontrollieren können, bis die UdSSR ihre Finanzhilfe endgültig einstellte. Auch im Jahr 2021 habe die Regierung der afghanischen Republik eine Chance gehabt, unterstrich der Ex-Staatssekretär, dies hätte jedoch entsprechende westliche Unterstützung vorausgesetzt. Das BMZ habe in Afghanistan immer mit Bedingungen gearbeitet, erläuterte Jäger. Im Verständnis des BMZ sei die Entwicklungszusammenarbeit kein Mittel der Außenpolitik, obwohl sie natürlich in die allgemeine Regierungspolitik eingebettet sei. Andererseits arbeite das BMZ immer mit Regierungen, führte er weiter aus. Auch im Falle einer Regierungsbeteiligung der Taliban hätte das Ressort nach Wegen gesucht, um diese Arbeit fortzusetzen, denn es gehe um die Unterstützung der Bevölkerung.
Vom individuellen zum vereinfachten Aufnahmeverfahren
Staatssekretär Hans-Georg Engelke, Amtschef beim Bundesinnenministerium (BMI), ist seit 2015 unter anderem für die Sicherheit der deutschen Auslandsvertretungen verantwortlich und zudem ehemaliger Leiter der Terrorismusabteilung. Er erklärte während seiner Befragung, dass es im Untersuchungszeitraum immer darum ging, wann im OKV vom klassischen individuellen zum vereinfachten Aufnahmeverfahren übergegangen werden sollte. Das sei eine komplexe Frage gewesen, und die Diskussionen zwischen den Ressorts seien manchmal zäh gewesen. Am Ende seien die Entscheidungen jedoch immer im Einvernehmen getroffen worden.
Die meisten Ortskräfte seien hochqualifizierte Personen, unterstrich der Beamte. Wenn sie wegen ihrer Arbeit bei deutschen Institutionen in Gefahr gerieten, hätten sie ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik. Doch die damalige afghanische Regierung habe darum gebeten, diese Menschen nicht abzuziehen, um keinen Braindrain zu verursachen. Außerdem hätten das AA und das BMZ immer wieder darauf hingewiesen, dass sie ihre Arbeit im Land fortsetzen wollten und dafür auf die Ortskräfte angewiesen seien.
„Visa-on-Arrival-Verfahren ein Sicherheitsverzicht“
Bei denjenigen Ortskräften, die dennoch eine Gefährdungsanzeige stellten, habe das BMI darauf bestanden, am normalen Visumverfahren festzuhalten, da dies auch eine Sicherheitsprüfung beinhalte. Hintergrund dafür sei kein Zweifel an den Ortskräften oder daran, dass diese Menschen aus einer bestimmten Weltgegend stammten, sondern das Erfordernis, ihre biometrischen Daten festzuhalten, um die Identität der Personen zu prüfen.
In dieser Hinsicht sei das vom AA geforderte Visa-on-Arrival-Verfahren (VoA-Verfahren) ein Sicherheitsverzicht gewesen. Denn dann würden die Personen ohne vorherige Sicherheitsprüfung nach Deutschland kommen, und die Prüfung würde erst auf deutschem Staatsgebiet stattfinden. Wenn sie jedoch einmal in Deutschland seien und einen Asylantrag stellten, könne man sie nicht mehr zurückführen.
Aus diesem Grund habe das BMI sehr lange und entschieden das VoA-Verfahren abgelehnt. Dabei habe das BMI jedoch immer betont, dass es sich in einer Notsituation auch das VoA-Verfahren vorstellen könne. Diese Situation sei, laut Engelke, eingetreten als die Amerikaner ihre Botschaft am 14. August 2021 verließen.
„Visumverfahren zu umständlich organisiert“
Wir sahen uns stets in der „Verantwortung für die Menschen, die hier leben“, sagte Engelke und wies darauf hin, dass im BMI immer „die Geschehnisse nach 2015“, also die Flüchtlingskrise, im Hinterkopf gewesen seien. Ein pauschales Aufnahmeverfahren hätte zudem ein falsches Signal gesendet und eine Fluchtbewegung auslösen können, erläuterte der Zeuge. Daran habe man kein Interesse gehabt.
Im Nachhinein bedauere er jedoch, dass das Visumverfahren zu umständlich organisiert gewesen sei. „Die Aufnahmezusage ist wie ein Gutschein“, sagte Engelke. „Den kannst du einlösen oder nicht, aber danach folgt trotzdem das Visumverfahren: “Das hätte das AA anders organisieren müssen„, fügte er hinzu.
“An Humanität und Ordnung orientiert„
Sein Kollege im gleichen Zeitraum, Ex-Staatssekretär Helmut Teichmann, betonte hingegen die Sorge um ein ordentliches Verfahren. “Als Horst Seehofer Minister wurde, haben wir einen Masterplan Migration vorgelegt, der unter der Prämisse von Humanität und Ordnung stand„, sagte er. Es habe eine klare Führungsansage gegeben, nach diesem Prinzip zu arbeiten.
Sie hätten sich in allen migrationspolitischen Fragen an Humanität und Ordnung orientiert. Demnach hätten Ordnung, Ordnungsverfahren und die Sicherheit der deutschen Bevölkerung im Vordergrund gestanden. Zwar hätten sie sich für eine erleichterte Aufnahme ausgesprochen, in jedem Fall sieht das Aufenthaltsgesetz aber ein Visumverfahren vor. .
Teichmann kritisierte das AA dafür, das es nicht geschafft habe, das Visumverfahren zu beschleunigen. Auch NGOs, die private Evakuierungsmissionen organisieren wollten, kritisierte Teichmann mit den Worten: “Das war ein Unding, das war nicht erwünscht.„
Kein Verständnis für besondere Schutzbedürftigkeit
Der Staatssekretär a. D. zeigte auch kein Verständnis dafür, dass Journalisten, Künstler oder Familienangehörige der damaligen afghanischen Minister zu besonders schutzbedürftigen Personen erklärt wurden, während 40 Millionen Afghanen keine Möglichkeit gehabt hätten, das Land zu verlassen.
Teichmann geriet jedoch in Erklärungsnot, als ein Abgeordneter ihn fragte, warum das BMI in einem gemeinsamen Brief mit der österreichischen Regierung die EU-Kommission gebeten hatte, Druck auf die damalige afghanische Regierung auszuüben, weitere Abschiebungen zu ermöglichen, ohne das AA darüber zu informieren. Daraufhin gab er an, nicht gewusst zu haben, dass das AA bewusst umgangen wurde. Hätte er das gewusst, hätte er die dafür verantwortlichen Mitarbeiter gerügt, meinte er.
Untersuchungsauftrag
Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.
Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der elfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/14.10.2024)