Vermerk gegen Atomkraft unterschiedlich bewertet
Zeit:
Donnerstag, 28. November 2024,
10.30 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E.800
Die Auswirkungen des Weiterbetriebs der letzten drei deutschen Kernkraftwerke bis Mitte April 2023 auf Strompreise und Versorgungssicherheit sind nach Auffassung mehrerer Sachverständiger als eher gering zu bezeichnen. Dies wurde in einer Anhörung des 2. Untersuchungsausschusses „Atomausstieg“ unter Leitung des Vorsitzenden Dr. Stefan Heck (CDU/CSU) am Donnerstag, 28. November 2024, deutlich. Andere Sachverständige kritisierten einen gemeinsamen Prüfvermerk von Umwelt- und Wirtschaftsministerium gegen den Weiterbetrieb der Atomanlagen, weil dieser unwahre Behauptungen enthalte.
„Eher geringe Effekte des Streckbetriebs“
Prof. Dr. Marc Oliver Bettzüge (Universität zu Köln) sagte, die Analyse der Wirkungen des Streckbetriebs der drei verbliebenen deutschen Kernkraftwerke zeige insgesamt eher geringe Effekte. Die preisdämpfende Wirkung sei schon vorher als gering eingeschätzt worden und sei tatsächlich noch geringer gewesen. Die Versorgungssicherheit hätte von Januar bis April 2023 auch ohne den Streckbetrieb der Kernkraftwerke gewährleistet werden können. Auch ohne Streckbetrieb wäre man weit von einer kritischen Situation entfernt gewesen. Das sei auch Folge des verhältnismäßig milden Winters gewesen.
Prof. Dr. Veronika Grimm (Technische Universität Nürnberg) sagte, die Situation sei damals sehr günstig gewesen: Der Winter sei nicht so kalt, die Gasspeicher seien gefüllt gewesen. Trotzdem hätte durch mehr Erzeugungskapazität in Deutschland ein Preiseffekt erzielt werden können.
„Geringe Auswirkung auf die Strompreise“
Von einer nur geringen Auswirkung auf die Strompreise durch den Streckbetrieb sprach Diplom-Ingenieur Dr. rer. pol. Felix Christian Matthes (Öko-Institut). In den Monaten Januar bis April 2023 habe der Weiterbetrieb insgesamt zu einer Senkung des Großhandelspreises von insgesamt rund 1,1 Prozent geführt. Die Effekte auf den Gasverbrauch und für die Versorgungssicherheit durch den Weiterbetrieb seien gering gewesen.
Auch Prof. Dr. Claudia Kemfert (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) erklärte, es seien keine signifikanten Auswirkungen auf das Stromsystem durch den Atomausstieg beobachtet worden. Die Kapazitäten in Deutschland seien ausreichend gewesen. Instabilitäten im Stromnetz habe es nicht gegeben. Kemfert zog in ihrer Stellungnahme das Fazit: „Die Abschaltung der Kernkraftwerke war gerechtfertigt, die Versorgungssicherheit war jederzeit gewährleistet, weder Strompreise noch Emissionen sind gestiegen.“ Ein Weiterbetrieb über das Frühjahr 2023 hinaus sei nicht notwendig gewesen.
„Weiterbetrieb sicherheitstechnisch nicht vertretbar“
Der ehemalige Universitätsprofessor und Ministerialdirektor Wolfgang Renneberg ging insbesondere auf die in allen drei Anlagen wegen der vorgesehenen Abschaltung zum Jahresende 2022 nicht mehr durchgeführten Periodischen Sicherheitsüberprüfungen (PSÜ) ein. Ohne die Ergebnisse der Sicherheitsüberprüfungen hätten Aussagen über die Sicherheit der Anlagen nicht abschließend getroffen werden können, erläuterte Renneberg. Eine weitere gesetzliche Suspendierung der zehnjährigen Sicherheitsüberprüfung hätte somit ein Loch in das geltende Sicherheitskonzept gerissen.
„Wenn wir auf dieses Verfahren verzichten, reduzieren wir die Sicherheit selbst“, sagte Renneberg. Die in Frankreich im Oktober 2021 festgestellte Spannungsrisskorrosion an Schweißnähten in den Sicherheits-Einspeisungsleitungen einiger neuerer Kernkraftwerke zeige beispielhaft, welche Bedeutung ein Verzicht auf die umfassenden Sicherheitsüberprüfungen haben könne. Renneberg bezeichnete die Bewertungen im gemeinsamen Vermerk der Ministerien vom 7. März 2022, in dem ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke als sicherheitstechnisch nicht vertretbar eingestuft worden war, als in jedem Falle richtig.
„Irreführende Behauptungen“
Der Diplom-Physiker Ulrich Waas, ehemaliges Mitglied der Reaktor-Sicherheitskommission, zeigte sich dagegen von dem Vermerk, der in einer „Hauruck-Aktion“ entstanden sei, enttäuscht. Informationen von den wesentlichen Sachkennern hinsichtlich technischer, sicherheitstechnischer und energiewirtschaftlicher Aspekte seien nicht oder nur bruchstückhaft eingeholt worden. Es würden massive Zweifel bestehen, „ob eine umfassende und ergebnisoffene Prüfung überhaupt gewollt war“.
Das von den beiden Ministerien projizierte „Drohszenario“ („unüberschaubare Verfahren und Kosten“) baue wesentlich auf unzutreffenden oder bewusst „irreführenden Behauptungen“ auf. Es sei vielmehr zu erwarten gewesen, dass bei einem Weiterbetrieb nach damaligem Kenntnisstand keine Probleme auftauchen würden.
„Vertretbar und durchführbar“
Privatdozentin Dr. Anna Veronika Wendland (Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft) bezeichnete in ihrer Stellungnahme eine Laufzeitverlängerung als eine sehr bedeutende und auch zu relativ günstigen Kosten zu erzielende Einzelmaßnahme auf dem Gebiet des Klimaschutzes. Der Preissenkungseffekt für den deutschen Strommarkt wäre hingegen moderat gewesen. Sicherheitstechnisch und nach Rechtslage wäre eine Laufzeitverlängerung „vertretbar und durchführbar“ gewesen.
Die beteiligten Akteure im Umwelt- und im Wirtschaftsministerium hätten 2022 in offiziellen Dokumenten und öffentlichen Äußerungen „nachweislich und systematisch unwahre Aussagen über den Sicherheitszustand und die Laufzeitverlängerungs-Optionen der deutschen Kernkraftwerke“ gemacht. Dabei hätten die deutschen Kernkraftwerke international den Ruf gehabt, „Benchmark“ zu sein, und seien standardbildend gewesen.
Dissonanzen unter den Atomkraftwerksbetreibern
Auf der Tagesordnung des Untersuchungsausschusses stand zudem die Vernehmung mehrerer Zeugen. Dabei wurde deutlich, dass unter den deutschen Atomkraftbetreibern offenbar unterschiedliche Auffassungen über die Möglichkeiten des Weiterbetriebs der letzten drei deutschen Atomkraftwerke herrschte, die aufgrund der Gesetzeslage Ende 2022 abgeschaltet werden sollten, wegen der durch den Ukraine-Krieg erwarteten Energieprobleme aber dann doch bis zum 15. April 2023 in Betrieb blieben.
Während PreussenElektra bereit war, sein Kraftwerk Isar 2 auch über den mehrmonatigen Streckbetrieb hinaus weiter zu betreiben, war der RWE-Konzern weniger geneigt, sein Kraftwerk Emsland noch länger zu betreiben.
RWE: Waren auf Betriebsende eingerichtet
Dr. Markus Krebber (Vorstandsvorsitzender von RWE) schilderte, dass sein Unternehmen erstmals am 24. Februar 2022 bei einem Termin mit Wirtschaftsminister Dr. Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) gefragt worden sei, ob ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke angesichts der durch den Beginn des Ukraine-Krieges entstandenen neuen Lage helfen könnte. Grundsätzlich gelte: Technisch sei fast alles machbar. Aber RWE sei bereits auf ein Ende des Betriebs seines Kernkraftwerks Emsland Ende 2022 eingerichtet gewesen.
Eine große Rolle bei der Vernehmung spielte daher eine von RWE abgegebene Einschätzung über einen Weiterbetrieb, die man an die Regierung geschickt hatte. Darin war von einer langwierigen Beschaffung neuer Brennelemente ebenso die Rede gewesen wie von der Notwendigkeit einer neuen Periodischen Sicherheitsüberprüfung (PSÜ). Außerdem hätten hohe Investitionskosten bei einer Verlängerung des Betriebs angestanden. Auf die Frage, ob es richtig sei, dass RWE kein Interesse an einer Verlängerung gehabt habe, sagte Krebber, das wirtschaftliche Risiko für einen längeren Weiterbetrieb über wenige Monate hinaus habe man angesichts der wechselhaften Geschichte der Kernenergie und der Erfahrungen seines Unternehmens nicht übernehmen wollen. Für einen Streckbetrieb über einen kürzeren Zeitraum gelte das aber nicht.
Man habe in einem gemeinsamen Gespräch von Energiekonzernen mit der Regierung am 5. März 2022 erklärt, dass man einer politischen Entscheidung nicht im Wege stehen werde. Die Hürden für einen Weiterbetrieb seien hoch, aber nicht unüberwindbar gewesen.
Preussen-Elektra: Weiterbetrieb war vorstellbar
Wesentlich optimistischer über einen längeren Weiterbetrieb äußerte sich Preussen-Elektra. „RWE hat die Hürden eines Weiterbetriebs wesentlich höher eingeschätzt als wir das tun“, sagte Guido Knott (Vorsitzender der Geschäftsführung der PreussenElektra). Sein Unternehmen sei bereit gewesen, aus Versorgungssicherheitsgründen für Deutschland seine Anlage Isar 2 weiter zu betreiben, aber nicht um Geld zu verdienen. Man hätte sich einen weiteren Betrieb vorstellen können – sowohl Streckbetrieb als auch weiteren Betrieb, solange die Krise anhalte.
Das Kraftwerk sei zum Zeitpunkt der Abschaltung in einem Top-Zustand gewesen. Selbst im Streckbetrieb habe man noch eine Meisterleistung hingelegt. Isar 2 sei eine der besten Anlagen der Welt gewesen. „Es stand nie außer Frage, dass die Anlage hätte weiterbetrieben werden können“, sagte Knott. Aus seiner Sicht wäre eine betriebsbegleitende Sicherheitsüberprüfung leistbar gewesen.
Sicherheitstechnischen Bedenken zurückgewiesen
Die im Vermerk von Wirtschafts- und Umweltministerium vom 7. März 2022 dargestellten sicherheitstechnischen Bedenken habe man unmittelbar zurückgewiesen. Eine Kaltreserve, die Habeck vorgeschwebt habe, wäre keine gute Idee gewesen, sagte Knott. Technisch sei die Kaltreserve nicht realisierbar gewesen. Ein Kernkraftwerk sei kein Notstromaggregat. Sein Unternehmen stehe für solche Experimente nicht zur Verfügung, habe er erklärt. Man habe nicht gewusst, ob das funktionieren würde.
Mehrfach angesprochen auf das Protokoll einer Telefonkonferenz mit Vertretern der Bundesregierung, in dem der Vertreter des PreussenElektra-Mutterkonzerns E.On den Streckbetrieb abgelehnt habe, sagte Knott, das sei „Spekulation“. Man sei gemeinsam für einen Weiterbetrieb eingetreten.
Frank Mastiaux, bis Ende 2022 Vorstandsvorsitzender der ENBW Baden-Württemberg, sagte, die Anlagen seien sicherheitstechnisch voll in Ordnung gewesen. Technisch und theoretisch sei der Weiterbetrieb möglich gewesen, wenn man bestimmte Dinge beachten würde wie die Lieferzeiten für Brennstäbe. Die Entscheidung für einen Weiterbetrieb habe politisch getroffen werden müssen.
Kritik an Äußerung zur fehlenden Sicherheitsüberprüfung
Zuvor hatte ein Mitarbeiter des TÜV SÜD ebenfalls zu dem Vermerk von Umwelt- und Wirtschaftsministerium Stellung genommen und sich besonders kritisch mit den in dem Vermerk gemachten Äußerungen zur fehlenden Sicherheitsüberprüfung auseinandergesetzt. Bei der PSÜ handele sich um eine betriebsbegleitende Ergänzung des Aufsichtsverfahrens. Wenn es in einer Anlage Änderungsbedarf gebe, würde das über andere Kanäle ermittelt. Bei einer PSÜ sei nie herausgekommen, dass eine Anlage nicht sicher sei, sondern es gebe nur Erkenntnisse, wie die Sicherheit weiter erhöht werden könne. Ihm sei nicht bekannt, dass eine Anlage wegen einer PSÜ heruntergefahren werden musste. Eine derartige Überprüfung sei nicht geeignet, um aktuelle Probleme in einer Anlage zu erkennen. Dazu gebe es die ständige Aufsicht.
Angesprochen auf eine Äußerung von Minister Habeck, der gesagt hätte, die Anlagen seien nicht geprüft, äußerte der Zeuge, das sei nicht richtig. Die Anlagen seien „auf Herz und Nieren“ und ganz engmaschig geprüft worden. Der Zeuge sagte, er persönlich habe auch nicht den Eindruck gehabt, dass Habeck an der „ergebnisoffenen Prüfung“, die der Minister angekündigt hatte, interessiert gewesen sei.
Auftrag des Untersuchungsausschusses
Das Gremium wurde am 4. Juli 2024 vom Bundestag eingesetzt und befasst sich mit den staatlichen Entscheidungsprozessen zur Anpassung der nationalen Energieversorgung an die durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine veränderte Versorgungslage.
Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild von den Entscheidungsprozessen sowie deren Kommunikation an den Bundestag und an die Öffentlichkeit zu verschaffen. Dies gilt vor allem für die Entscheidungen über einen möglichen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke. Es soll untersucht werden, welche Informationen den Entscheidungen zugrunde gelegt wurden, welche nationalen und internationalen Stellen in die Entscheidungsprozesse einbezogen wurden und ob die Einbeziehung weiterer Informationen oder Stellen sachgerecht gewesen wäre. (hle/02.12.2024)