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Winkelmeier-Becker: Wir erleben derzeit eine Krise des Völkerrechts

Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU)

Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) (© DBT/Marco Urban)

Von der handelspolitischen Achterbahnfahrt des US-Präsidenten über den Konflikt in Nahost bis zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: „Wir erleben derzeit eine Krise des Völkerrechts“, sagt die Bundestagsabgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU), Leiterin der deutschen Delegation zur Interparlamentarischen Union (IPU), die vom 4. bis 9. April 2025 zu ihrer Frühjahrstagung in Taschkent in Usbekistan zusammengekommen ist. 

Die internationale Ordnung zeige gerade viele Bruchstellen. Eine Reihe von Staaten trage die Polarisierung mit ihrer unreflektierten Israel-Kritik in die IPU, sagt Winkelmeier-Becker. Die Schamlosigkeit, mit der manche Staaten ihre Einzelinteressen verfolgten, habe die sachorientierte Zusammenarbeit schwieriger gemacht. Demgegenüber gelte es Organisationen wie die IPU zu stärken, um gemeinsam mit Verbündeten die internationale Ordnung zu schützen. Im Interview spricht Winkelmeier-Becker über den Umgang der IPU mit den aktuellen Krisenherden der Welt, die Herausforderung, auf globaler Ebene Mehrheiten zu finden, und die Möglichkeiten, die ein parlamentarischer Spirit dabei eröffnen kann. Das Interview im Wortlaut:

Frau Winkelmeier-Becker, seit Jahrzehnten geht die Weltgemeinschaft überwiegend den Weg engerer Zusammenarbeit und Verrechtlichung, um eine multilaterale, arbeitsteilige Weltordnung zu schaffen, die für mehr Sicherheit und größeren Wohlstand steht. Auf welchen Widerhall trafen bei der IPU-Tagung vor diesem Hintergrund die jüngsten Alleingänge des US-Präsidenten in der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik?

Was momentan mit der Handelsordnung und dem Freihandel passiert, wurde durchaus thematisiert, beispielsweise in einem Entwurf für eine Dringlichkeitsresolution, das sogenannte Emergency Item, den Argentinien und Chile eingebracht haben. Gerade auch aus der Perspektive ärmerer Länder sind eingespielte und gut funktionierende Handelsbeziehungen existenziell, um ihr Wohlstandsniveau zu halten oder zu verbessern. In dem Entwurf wurde die Kritik allerdings sehr diplomatisch geäußert, ohne die Zollpolitik der neuen US-Führung an den Pranger zu stellen. Der Antrag der Südamerikaner hat jedoch nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit erhalten. Anderenfalls hätte man die aktuellen Verwerfungen in der Welthandelsordnung in diesem Rahmen diskutieren und vielleicht mit einer geeigneten Erklärung auf Verbesserungen dringen können.

Die regelbasierte, multilaterale Weltordnung ist von vielen Seiten unter Druck geraten. In was für einem Zustand befinden wir uns momentan? Wie reagiert die Weltgemeinschaft der Parlamentarier? 

Man hat es an dem Dringlichkeitsantrag von Chile und Argentinien gesehen, in dem es um die Zerrüttung der Handelsbeziehungen ging. Aber über die jüngsten wirtschaftspolitischen Turbulenzen darf man auch das aggressive und revisionistische Vorgehen Russlands nicht vergessen. Die internationale Ordnung, auf die sich die Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg geeinigt haben, zeigt gerade viele Bruchstellen. Russland vertritt dabei in der IPU sehr offensichtlich seine Interessen, schart Verbündete um sich. Eine Resolution zur Rolle der Parlamente bei der Vermeidung von Schäden durch internationale Konflikte etwa schlägt neben anderen Maßnahmen vor, dass die Parlamente sich für die Anerkennung eines Ökozids als Verbrechen nach internationalem Recht einsetzen sollen; außerdem sollten die Urheber nach völkerrechtswidrigen Angriffen zu einer angemessenen Kompensation verpflichtet werden gegen beide Themen hat Russland seinen Widerspruch zu Protokoll gegeben. Wir erleben eine gewisse Schamlosigkeit, mit der eigene Interessen verfolgt werden.

Vertraglich vereinbarte, Jahrzehnte gültige politische Gewissheiten scheinen sich über Nacht zu pulverisieren…

Wir erleben insgesamt derzeit eine Krise des Völkerrechts. Das zeigt sich daran, wie Russland Gebietsansprüche gegenüber seinem souveränen Nachbarland Ukraine gewaltsam durchzusetzen versucht, bislang noch gegen die weitgehend geschlossene Gegenwehr der Staatengemeinschaft, die aber immer noch kein schlüssiges Konzept für ein Tribunal zur Verfolgung von Kriegsverbrechen einschließlich des Verbrechens der Aggression vorgelegt hat. Diese Krise wird auch deutlich, wenn die USA als die bisherige Führungsmacht der internationalen Ordnung in kürzester Zeit aus dem Pariser Klimavertrag oder der Weltgesundheitsorganisation aussteigen und vertragliche Verpflichtungen gegenüber langjährigen Verbündeten in Frage stellen. Kritisch sehe ich auch, wenn der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag mit Haftbefehlen die Terrororganisation Hamas und den israelischen Präsidenten Benjamin Netanjahu unreflektiert auf dieselbe Stufe zu stellen scheint. Wir dürfen aber nicht verzagen und uns enttäuscht abwenden, sondern müssen bestehende Organisationen wie die IPU dazu nutzen, für unsere Werte und Positionen zu werben und sie so stärker im Völkerrecht zu verankern. Die Lehre sollte sogar sein, die IPU weiter zu stärken und als Ort des Austauschs zu nutzen. Es ist die Weltgemeinschaft der Parlamentarier. Dort lassen sich auch Verbündete finden. Wir sollten unsere eigene Strategie weiter verbessern, um andere Länder und Ländergruppen für gemeinsame Anträge zu gewinnen. 

Keiner der Dringlichkeitsanträge hat es diesmal auf die Tagesordnung geschafft…

Dabei hätte es wichtige Themen gegeben, zu denen sich die Parlamentarier hätten äußern können! Längst überfällig wäre es, eine Resolution zu den gravierenden Konflikten in Afrika mit ihren unzähligen Opfern zu verabschieden. Es gab deshalb auch Überlegungen unserer geopolitischen Gruppe der „Zwölf Plus“, die Entwicklung auf unserem Nachbarkontinent gemeinsam mit den afrikanischen Ländern in einem Emergency Item aufzugreifen. Statt dessen hat die afrikanische Gruppe dann jedoch zusammen mit arabischen und pazifischen Ländern einen eigenen Entwurf eingebracht, der die Konflikte in Kongo und Sudan, entwicklungspolitische Ziele im Zusammenhang mit dem Klimawandel, aber auch den Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästina ansprach und vor allem zu dem letzten Thema sehr einseitige und für uns nicht zustimmungsfähige Aussagen enthielt. So hat am Ende leider niemand etwas Konstruktives erreicht. Keiner der Anträge erhielt im Plenum die notwenige Zweidrittelmehrheit und die Welt hat wieder nicht über Afrika gesprochen. Wir werden aber nicht aufgeben und bei den kommenden Versammlungen erneut versuchen, dieses wichtige Thema auf die Tagesordnung zu setzen.

Wo hat es Ihrer Meinung nach gehakt?

Wie leider schon bei früheren Versammlungen hat der Konflikt zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten beziehungsweise der Hamas erneut auf äußerst polarisierende Weise einen breiten, ja bestimmenden Raum eingenommen und so die Themensetzung beeinflusst. Es gibt, vor allem getragen von den arabischen und afrikanischen Ländern eine sehr einseitige Haltung gegenüber Israel, die sich etwa zeigt, wenn die Mehrheit nicht einmal die Hamas als Urheber des Massakers vom 7. Oktober 2023 benannt haben will. Die Protagonisten dieser Haltung haben in ihrem Entwurf Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Konfliktlösung in Afrika mit einem israelkritischen Punkt zur Lage im Nahen Osten zusammengeführt. Dies wurde für viele Delegationen zum entscheidenden Kriterium, für oder gegen die drei Vorschläge für Emergency Items zu stimmen. Ergebnis war, dass kein Entwurf die Hürde genommen hat und zu keinem der wichtigen Themen eine Dringlichkeitsresolution ergehen konnte: weder zum Welthandel, noch zur kritischen Lage der Menschen in Myanmar, die unter der Diktatur und nun zusätzlich unter dem Erdbeben leiden, noch zu den Konflikten in Afrika. 

Auch die Beratungen einer Resolution zur Zwei-Staaten-Lösung im Nahen Osten wurden entsprechend instrumentalisiert…

Ein Emergency Item zu Israel/Gaza wurde auch deshalb kritisch gesehen, weil ohnehin eine Resolution zur Zwei-Staaten-Lösung beraten und letztlich auch verabschiedet wurde. Als deutsche Delegation haben wir hiergegen einen umfassenden Widerspruch eingelegt, unter anderem weil Israel auch hier völlig einseitig kritisiert wurde, die Hamas nicht als Urheber des Massakers und Verantwortliche für den Krieg benannt, die Freilassung der Geiseln zwar erwähnt, aber nicht als klare Voraussetzung gefordert wurde. Wir befürworten eine Zwei-Staaten-Lösung als Ergebnis eines Verhandlungsprozesses, der noch aussteht. Die als Kompromiss zur Befriedung gedachte Verabschiedung der Resolution hielt den Leiter der Palästinensischen Delegation übrigens nicht davon ab, für die nächste IPU weitere Anträge gegen die in seinen Worten „zionistische Kriegsmaschinerie“ anzukündigen.

Ist es schwieriger geworden, Mehrheiten zu finden?

Die geopolitische Gruppe der „Zwölf Plus“ innerhalb der IPU, der Deutschland und die anderen EU-Länder sowie gleichgesinnte Staaten wie Großbritannien, Norwegen, Kanada, Australien und Neuseeland, weltweit insgesamt 47 Länder, angehören, hat es zunehmend schwer, sich gegenüber anderen geopolitischen Gruppen zu behaupten. In vielen Fragen, beispielsweise wenn es um die Menschenrechte geht, vertreten etwa die afrikanischen, arabischen und eurasischen Staaten andere Standpunkte, die mit unseren europäischen Werten nicht vereinbar sind. Man kann und konnte noch nie davon ausgehen, dass alle unsere Werte teilen und muss daher immer wieder, je nachdem wieviel einem an einem Thema liegt, bis zu einem gewissen Grad Kompromisse eingehen, um Mehrheiten zu finden. Das ist nicht ungewöhnlich in Parlamenten ebenso wie in jedem gut geführten Verein. Die IPU ist da ein Spiegel der Konflikte der Welt und des Umgangs der Menschen miteinander. Gerade bei Themen wie den Kriegen in Gaza oder in der Ukraine, aber auch bei Fragen wie Gleichberechtigung und Menschenrechten ist das aus unserer Sicht manchmal schwer erträglich.

Aber den Parlamentariern kommt schon eine gewisse Vorbildfunktion zu? 

Ja. Aber wir dürfen auch das Bild der Parlamentarier nicht idealisieren. Alle kommen zur IPU als Länder-Delegationen und vertreten zunächst einmal ihre Länder-Interessen. Nationale Interessen und Beziehungen zu Verbündeten stehen oft im Vordergrund des taktischen Handelns. Es treffen ja in der IPU Vertreter unterschiedlichster politischer Systeme aufeinander. Die meisten sind keine Demokratien wie Deutschland. Andererseits ist manchmal auch so etwas wie ein parlamentarischer Spirit zu spüren, trotz regionaler und nationaler Unterschiede. Wir kommen alle als Parlamentarier zusammen. Das bedeutet, die eigenen Probleme auch einmal aus einer globalen Perspektive zu betrachten. Das politische Spektrum der Delegationen ist außerdem breiter als bei der Zusammenarbeit von Regierungen. Zumeist ist auch die Opposition vertreten. Dieses parlamentarische Treffen bietet deshalb einen flexibleren politischen Rahmen, als offizielles Regierungshandeln. Auf Ebene der IPU, unter Parlamentariern, lassen sich schließlich auch leichter Kontakte knüpfen. Es ist einfacher, Dinge auszusprechen, aufeinander zuzugehen. Wir sollten deshalb nach vorne denken und die Möglichkeiten unterstreichen, die die IPU bietet statt die Schwierigkeiten zu betonen. 

Die internationale Vernetzung vorantreiben, neue Partner gewinnen, bestehende Partnerschaften pflegen, aber auch Meinungsverschiedenheiten klären: Unter diesem Motto kommt die deutsche Delegation am Rande der IPU-Tagung immer auch zu bilateralen Treffen mit einzelnen Delegationen anderer Länder zusammen. 

Der Austausch mit den Delegationen anderer Ländern im Rahmen der sogenannten „Bilaterals“ ist sehr wertvoll. Dieses Format sollte man ausbauen. Auch, um mit anderen Ländern Initiativen vorzubereiten, die dann in gemeinsame Anträge für das Plenum münden. Oft entstehen dort auch Ideen, die dann von den Regierungen aufgegriffen werden. Am Rande der Konferenz haben wir uns beispielsweise mit Kolleginnen und Kollegen aus Großbritannien getroffen und über die Folgen des Brexit gesprochen, über die Folgen für die Handelsbeziehungen, aber auch für Migration. Auch die Unterstützung der Ukraine und künftige militärische Zusammenarbeit waren Themen unseres Gesprächs.

Das Thema der Generaldebatte lautete: „Parlamentarisches Handeln für soziale Entwicklung und Gerechtigkeit“. Sie selbst haben in der Generaldebatte gesprochen. Was sind bei dem Thema für Sie die wichtigsten Punkte?

Wir haben in der Debatte sowohl die nationale als auch die internationale Dimension von sozialer Entwicklung und Gerechtigkeit diskutiert. So wurden bei der Generaldebatte die unterschiedlichen Interessen reicher und armer Länder bei Gerechtigkeitsfragen thematisiert. In meinem Beitrag bin ich vor allem auf die Verantwortung der einzelnen Staaten für die soziale Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger und einige essenzielle Voraussetzungen für mehr soziale Sicherheit und Gerechtigkeit eingegangen. Dazu gehört etwa der Zugang zu Bildung, unabhängig von Herkunft und individuellen Ressourcen, ein progressives Steuersystem, in dem Wohlhabende einen angemessenen Beitrag zum Gemeinwohl leisten, sowie ein funktionierendes Sozialversicherungssystem, mit dem die großen Lebensrisiken wie Altersarmut, Krankheit oder Arbeitslosigkeit abgesichert werden. Dass die Parlamentarier sich über Lösungswege zum Thema soziale Sicherheit und Gerechtigkeit austauschen ist ein wichtiger Ansatz. Ich hoffe, die Delegationen nehmen aus dieser Debatte auch Anregungen mit nach Hause, die sie im Parlament und gegenüber ihren Regierungen realisieren können. (ll/23.04.2025)