Zwangsdoping in der DDR: Wir waren ideologische Waffen im kalten Krieg
Im Jahr 1984 lief Gesine Tettenborn unter ihrem Mädchennamen Gesine Walther mit der 4x400m-Staffel der DDR zum Weltrekord. Heute, am Donnerstag, 6. November 2025, saß sie bei einem von Evelyn Zupke, Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur, initiierten Fachgespräch im Europasaal des Paul-Löbe-Hauses in Berlin und schilderte eindrücklich, wie in der DDR mit Leistungssportlern umgegangen wurde. „Wir waren ideologische Waffen im kalten Krieg und das Doping war die Munition“, sagte Tettenborn. Gemeinsam mit weiteren dem Fachgespräch „Gold um jeden Preis – Das systematische Zwangsdoping in der DDR und seine Folgen für die Betroffenen“ beiwohnenden Dopingopfern forderte sie von der Politik bei der Frage der Entschädigung eine Gleichstellung mit den Opfern politischer Verfolgung.
Unterstützt wurde sie dabei vom Vorsitzenden des Doping-Opfer-Hilfevereins, Dr. Michael Lehner, dem Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Burkhard Bley, sowie dem Vorsitzenden der Ethik-Kommission des Landessportbundes Thüringen, Prof. Dr. Hubertus Gersdorf von der Universität Leipzig. Sie alle waren sich einig, dass die Regelungen der Dopingopferhilfegesetze nicht ausreichend seien.
Gersdorf empfiehlt Gang vor das Bundesverfassungsgericht
Staatsrechtler Gersdorf sagte, das DDR-Zwangsdopingsystem stelle einen Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie dar. Da der Gesetzgeber alle Formen von Verstößen gegen die Menschenwürde gleich zu behandeln habe, müsse er bei der Entschädigung die Opfer des DDR-Zwangsdopingsystems mit den politisch Verfolgten gleichstellen. Sollte das Parlament keine solche „verfassungsrechtlich gebotene Gleichstellung“ beschließen, empfahl Gersdorf den Gang vor das Bundesverfassungsgericht. Er zeigte sich überzeugt davon, dass dieser Weg von Erfolg gekrönt sein werde.
Das Problem dabei: Den Opfern rennt die Zeit davon. Eine als Gast bei dem Fachgespräch anwesende ehemalige DDR-Spitzenvolleyballerin, die nach eigener Aussage als Dopingopfer nach den ersten Dopingopferhilfegesetzt anerkannt ist, brachte es bei der Diskussion auf den Punkt. Sie sei jetzt 69 Jahre alt. „Ich habe keine Zeit mehr, auf ein verfassungsrechtliches Grundsatzurteil im Jahre XY zu warten“, sagte sie.
Ihr – wie auch Gesine Tettenborn – geht es in erster Linie darum, als Opfer eines totalitären Systems anerkannt zu werden. Tettenborn machte bei ihrer Schilderung deutlich, dass der Begriff „mündige Sportler“ auf DDR-Athleten bezogen „ein Paradoxon ist“. Als junge Sportlerin sei der Trainer ihre wichtigste Bezugsperson gewesen, sagte die ehemalige Leichtathletin. Dieser habe ihr Verhalten in jeder Hinsicht ständig überwacht. Als sie sich geweigert hat, der SED beizutreten, sei sie von ihm in einer Art behandelt worden, die man heute als Mobbing bezeichnen würde, „die aber in der DDR völlig normal war“.
„Spitzelnest“ informeller Stasimitarbeiter im Sportclub
Über dem Trainer standen aber noch die Sportfunktionäre, denen er ständig zur Rechenschaft verpflichtet gewesen sei. Und dann war da noch die Staatssicherheit: Ein hauptamtlicher Mitarbeiter sei für den Sportclub zuständig gewesen und habe ein „Spitzelnest“ informeller Stasimitarbeiter unterhalten, von denen er ständig aktuelle Berichte angefordert habe.
Als 17-Jährige – und damit Minderjährige – habe sie Dopingmittel erhalten, sagte Tettenborn. Der Trainer habe strenge Vertraulichkeit zu dem Thema von ihr eingefordert. Sie habe dafür unterschreiben müssen, mit niemanden darüber zu reden. „Er hat davon gesprochen, dass die gigantischen Erfolge der US-Athleten auf den Einsatz von Dopingmitteln im Training zurückzuführen waren“, sagte die ehemalige Spitzensportlerin. Daraufhin, so der Trainer, hätten Sportmediziner der DDR ein Mittel entwickelt, um den Athleten zu helfen, die gestiegenen Trainingsanforderungen besser zu verkraften. Welche Mittel sie genau erhalten hat, sei heute nicht mehr nachzuvollziehen, „weil die Erfurter Sportmedizin alle Unterlagen bei der Wende 1989 sofort vernichtet hat“.
Tettenborn sprach auch über die gesundheitlichen Folgen des Dopings. Sie sei traumatisiert, sagte sie. Traumafolgeerkrankungen seien bei ihr Depressionen, Psychosen und Panikattacken. Zudem leide sie an einem Erschöpfungssyndrom. „Wenn ich mich belaste, werde ich sofort depressiv. Nehme ich Antidepressiva drehe ich durch und bekomme Psychosen“, sagte Tettenborn.
Spitzer: Schon Fünfjährige haben Dopingmittel bekommen
Derartige Gesundheitsfolgen kennt auch der ehemalige Leiter des mittlerweile abgeschlossenen Verbundprojekts „Gesundheitliche Langzeitfolgen von SED-Unrecht“, Prof. Dr. Carsten Spitzer. 101 Betroffene seien für die Studie rekrutiert worden, erläuterte er während der Sitzung. Schon Fünfjährigen seien Dopingmittel gegeben worden. Im Durchschnitt habe der Dopingeinsatz mit 13 Jahren begonnen. „Sie können sich ausmalen, was das für Auswirkungen auf die Entwicklung der jungen Menschen hat“, sagte Spitzer.
Bei 98 Prozent der untersuchten Athleten sei mindestens eine psychische Störung in ihrem Leben diagnostiziert worden, sagte der Studienleiter. Das sei mehr als doppelt so viel wie in der Allgemeinbevölkerung. Mit einer „überzufälligen Häufigkeit“ seien auch spezifische Phobien in Bezug auf Spritzen und Verletzungen festgestellt worden. Die Posttraumatische Belastungsstörung wie auch chronische Schmerzen seien weitere Vielfach-Befunde. „Minderjährige zwangsgedopte DDR-Leistungssportlerinnen und Leistungssportler sind psychisch schwer, chronisch und bis heute belastet“, lautete sein Fazit.
Seppelt: Staatliche Strukturen des Dopings auch in Russland
Für den Journalist und Autor Hajo Seppelt, Experte der ARD für Doping und Sportpolitik, ist klar, dass es auch heute in autokratischen Strukturen ähnlich wie seinerzeit in der DDR läuft. Seppelt verwies auf Recherchen in China, wo schlichtweg nicht kontrolliert werde. Auch in Russland könne von staatlichen Strukturen des Dopings gesprochen werden, befand er. Das laufe „mit Wissen und mit Billigung von Waldimir Putin“, sagte Seppelt.
Sechs Jahre lang habe er intensiv zum Thema des weltweiten Kinderdopings im heutigen Sport recherchiert, sagte der Journalist. Ein entsprechender Beitrag werde im nächsten Jahr in der ARD laufen. „Ich kann dazu nur sagen. Es ist so schlimm, so gravierend.“ Dabei gehe es nicht nur um autokratische Systeme, fügte er hinzu.
Wie geht es nun weiter mit der Entschädigung von DDR-Dopingopfern? Helge Limburg (Bündnis 90/Die Grüne) sagte am Ende des Gespräches: „Ich kann Ihnen versichern, dass das Thema quer durch die demokratischen Fraktionen hohe Priorität hat.“
Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur
Evelyn Zupke ist seit Juni 2021 die Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur beim Deutschen Bundestag. Die SED-Opferbeauftragte hat die Aufgabe als Ombudsperson für die Anliegen der Opfer der SED-Diktatur zu wirken und zur Würdigung der Opfer des Kommunismus in Deutschland beizutragen.
Sie berät den Deutschen Bundestag und seine Ausschüsse, die Bundesregierung sowie andere öffentliche Einrichtungen in Fragen, die die Angelegenheiten der Opfer der SED-Diktatur und der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland und in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik betreffen. Die öffentlichen Stellen des Bundes und der Länder sollen die SED-Opferbeauftragte bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unterstützen. (hau/06.11.2025)