07.05.2020 | Parlament

Worte von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble vor Eintritt in die Tagesordnung zum Gedenken an Norbert Blüm

[Es gilt das gesprochene Wort]

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

der Deutsche Bundestag trauert um Norbert Blüm. Er ist am 23. April im Alter von 84 Jahren gestorben. Mit ihm verliert unser Land einen streitbaren Demokraten und einen seiner profiliertesten Sozialpolitiker.

Seine Devise lautete: „Einmischen ist Pflicht!“ In diesem Sinne beteiligte sich Norbert Blüm bis zuletzt an der gesellschaftlichen Debatte und erhob leidenschaftlich seine Stimme für die Schwächeren. Im Zentrum seines christlich geprägten Denkens und Handelns stand immer der Mensch. „Solidarität ist kein Luxus, sondern Existenzbedingung des menschlichen Lebens“, sie ist „die politische Form der Nächstenliebe“: So brachte Nobert Blüm die katholische Soziallehre für sich auf den Punkt.

Seiner Weitsicht und der politischen Hartnäckigkeit, mit der er seine Anliegen gegen alle Widerstände vertrat, verdankt unser Sozialsystem die Pflegeversicherung – und die Gesellschaft ein geschärftes Bewusstsein für die Generationengerechtigkeit. Früher als andere erkannte Norbert Blüm die gesellschaftspolitische Bedeutung des demographischen Faktors, um die Rente in einer alternden Gesellschaft zu sichern. Es wurde sein Lebensthema. Als ein großes Glück bezeichnete er rückblickend, an der sozialpolitischen Einigung Deutschlands vor dreißig Jahren mitgewirkt zu haben – einer historisch einmaligen Herausforderung.

Norbert Blüm passte in keine Schablone: Werkzeugmacher und studierter Philosoph, Spitzenpolitiker und Gelegenheits-Kabarettist, Hochschullehrer und Menschenrechtsaktivist – das alles war Norbert Blüm. Er behielt immer seinen eigenen Kopf, unbequem für den politischen Gegner wie im Übrigen auch für Parteifreunde und Kabinettskollegen. „Im Notfall gönne ich mir, gegen den Strom zu schwimmen“, pflegte er zu sagen. Gleichzeitig war er zeitlebens ein Mann des Ausgleichs mit klarer Haltung und Prinzipientreue, die er mit großer Glaubwürdigkeit vertrat.

Norbert Blüm wurde 1972 zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt, er gehörte diesem Hause fast drei Jahrzehnte an – mit einer Unterbrechung, als er in West-Berlin unter Richard von Weizsäcker Senator war. Auch wenn er in der Hauptstadtdebatte 1991 zu den Wortführern für Bonn zählte: mit der Entscheidung zum Umzug nach Berlin hat er sich sofort abgefunden. Dieses Maß an Gelassenheit schrieb er als große Begabung den Rheinländern zu – wobei in diesem Zusammenhang wohl eher sein unverwechselbarer Humor in Erinnerung bleiben wird. Als Minister und Abgeordneter zeigte er sich als Meister der „unverblümten Rede“, der sich gerne dem parlamentarischen Schlagabtausch stellte. Seine letzte Rede im Plenum des Deutschen Bundestages 2002 ist ein Glanzstück lebendiger Debattenkultur: mit fundierten Argumenten, Schlagfertigkeit, Witz und – was ihm immer wichtig war – mit Respekt vor dem politischen Gegner. Dafür wurde er über Fraktionsgrenzen hinweg hochgeschätzt und respektiert.

Norbert Blüm hat sich um unser Land, die Demokratie und den Zusammenhalt in der Gesellschaft große Verdienste erworben. Der Deutsche Bundestag wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Unsere Gedanken sind bei seinen Angehörigen und Freunden. Ihnen gilt unser tief empfundenes Mitgefühl.

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