23.06.2021 | Parlament

Worte von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble vor Eintritt in die Tagesordnung: Begrüßung der Internationalen Jugendbegegnung,
Erinnerung an den 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion und Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan

[Es gilt das gesprochene Wort]

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

gestern vor 80 Jahren überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Mit dem Angriff weitete sich der im Polen- und im Balkanfeldzug begonnene Vernichtungskrieg aus. Nirgendwo in Europa schreckte die deutsche Besatzungsherrschaft vor Terror, Gewalt und Verbrechen gegen Menschlichkeit zurück; auf besonders grausame Art aber wütete sie im Osten und Südosten Europas. Getrieben von ihrer rassistischen Ideologie folgten die Nationalsozialisten dem Vorsatz, Menschen und Kulturen auszulöschen. In ihren Worten: Juden, Bolschewisten und Slawen zu vernichten.

Mehr als 27 Millionen Menschen verloren ihr Leben. Mehr als die Hälfte waren Zivilisten. Am Freitag hat der Bundespräsident ihrer gedacht.

In der letzten Sitzungswoche hat der Deutsche Bundestag in einer Vereinbarten Debatte an die Grausamkeit des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion erinnert. Wir haben bekräftigt, den Opfern dieses Krieges einen angemessenen Platz in unserer Erinnerungskultur einzuräumen. Dem dient auch unser Beschluss, hier in Berlin eine Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu errichten. 

Das Gedenken in Deutschland und in allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion verdeutlicht, wie wichtig der Respekt für die unterschiedlichen Erfahrungen und die damit verbundenen Gefühle ist – als Grundlage für den Austausch und für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit, ohne die sich der Friede und die Stabilität auf dem Kontinent nicht dauerhaft wird sichern lassen. Und um die wir uns deshalb immer wieder bemühen müssen. Hier waren wir allerdings, das zeigen nicht zuletzt die geschichtspolitischen Betrachtungen, mit denen der russische Staatspräsident auf die innenpolitische Debatte in unserem Land einzuwirken versucht, schon einmal viel weiter.

Erinnerung, so viel ist sicher, lebt nur fort, wenn nachfolgende Generationen sie pflegen. Auch dafür setzt sich der Bundestag ein: In diesem Jahr beschäftigt sich die Internationale Jugendbegegnung mit den Verbrechen, die das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg an der Zivilbevölkerung verübt hat. Die Jugendbegegnung, die traditionell zum Tag des Gedenkens am 27. Januar stattfindet, musste wiederholt verschoben werden. Umso mehr freue ich mich, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wenigstens heute bei uns zu begrüßen – im Namen aller Mitglieder dieses Hauses heiße ich Sie herzlich willkommen!

Wir Deutschen stehen in der Verantwortung, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und unsere freiheitlichen Werte zu verteidigen, die Menschenrechte und das Völkerrecht. Und die darauf gründende Sicherheitsarchitektur, die uns und unsere Verbündeten eint. Sie ist die Garantie für den Frieden – in Europa und der Welt.

Diesem Frieden dient die Bundeswehr. Insbesondere die Soldatinnen und Soldaten, die in unserem Auftrag in den Krisengebieten der Welt Dienst tun.

Ich begrüße auf der Tribüne einige Rückkehrer der Mission Resolute Support. In diesen Tagen endet dieses Mandat, das der Deutsche Bundestag vor sieben Jahre beschlossen und mehrfach verlängert hat. Damit findet ein internationaler militärischer Einsatz in Afghanistan seinen Abschluss, der nach den Terroranschlägen vom 11. September vor 20 Jahren begann.

Im Namen des Deutschen Bundestages danke ich Ihnen und allen Ihren Kameradinnen und Kameraden, die am Einsatz in Afghanistan beteiligt waren – für Ihre Einsatzbereitschaft. Dafür, Leib und Leben riskiert zu haben. Wir vergessen nicht die Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan ihr Leben verloren haben. Wir wissen um den schweren Verlust für ihre Familien. Und wir denken auch an alle Veteranen, die körperlich oder seelisch versehrt zurückgekehrt sind.

Die Bundeswehr hat in diesem Einsatz manches erreicht – für die Sicherheit in Deutschland. Und für die Menschen in Afghanistan. Aber wir müssen ehrlich Bilanz ziehen. Viele Hoffnungen, die sich mit dem internationalen Einsatz verbanden, sind nicht in Erfüllung gegangen. Und das liegt nicht an Ihnen, den Soldatinnen und Soldaten.

Die heutige aktuelle Stunde ist ein Anfang für eine umfassende Gesamtbilanz. Die Erfahrungen am Hindukusch lehren uns Demut. Zurückhaltender in unseren Erwartungen und in der Einschätzung unserer Möglichkeiten zu sein. Und sie mahnen uns, unsere Schutzverpflichtung gegenüber der Bundeswehr ernst zu nehmen – im Übrigen auch gegenüber den afghanischen Ortskräften, die für die Bundeswehr, die Bundespolizei und andere deutsche Organisationen tätig gewesen sind.

Von unserem Auftrag, den Frieden in der Welt zu sichern, aber rücken wir nicht ab.

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