25.08.2021 | Parlament

Worte von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble vor Eintritt in die Tagesordnung

[Es gilt das gesprochene Wort.]

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir hatten uns von diesem Sommer eine entspannte Situation erhofft. Mehr Normalität – Erholung. Stattdessen erleben wir Krisen, Konflikte und Katastrophen. 
Die Pandemie, das Hochwasser und die schrecklichen Bilder aus Afghanis-tan zeigen schonungslos, wie eng die Welt zusammengewachsen, die Entwicklungen miteinander verflochten sind. Globale Krisen treffen uns – mit weitreichenden Folgen für das Vertrauen der Menschen in die Hand-lungsfähigkeit nationaler Politik und in den Staat, der uns schützen soll.
Die Verzweiflung der Menschen am Flughafen in Kabul zerreißt einem das Herz. Ihr Schicksal erschüttert das Selbstverständnis des Westens. Unser Selbstverständnis. In wenigen Tagen brach zusammen, was wir im Bündnis über zwei Jahrzehnte mit aufgebaut haben. Es ist eine Tragödie für die Afghanen, die nun um ihr Leben fürchten – unter ihnen Frauen und Mädchen, die lernen durften, selbstbestimmt und selbstbewusst zu leben. 
Wenn wir dieser Tage an die Deutschen denken, die im Einsatz für und in Afghanistan ihr Leben verloren haben, sollten wir nicht vergessen: In den 20 Jahren wurde die Saat der Freiheit gesät. Daraus erwächst eine moralische Verpflichtung: Wir dürfen die Menschen nicht im Stich lassen!
Mit dem Anspruch, Afghanistan nach unseren Vorstellungen und Werten umzugestalten, sind wir gescheitert. Diesen Kampf konnten wir nicht gewinnen. Jetzt müssen wir mit unseren Verbündeten zeigen, dass wir immerhin der Niederlage gewachsen sind. Dass wir den Menschen in Afghanistan Schutz gewähren, die Hoffnungen in uns gesetzt und uns vor Ort unterstützt haben. Das ist eine Frage der Mitmenschlichkeit angesichts einer unmenschlichen Bedrohung. 
Nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz bedürfen bewaffnete Einsätze der Bundeswehr bei Gefahr im Verzug und bei geheimhaltungsbedürftigen Einsätzen zur Rettung von Menschen aus besonderen Gefahrenlagen keiner vorherigen Zustimmung durch den Bundestag. Allerdings besteht die Pflicht, das Parlament zu unterrichten und dessen Zustimmung nachträglich einzuholen. Dazu sind wir heute aufgerufen. Wir denken dabei besonders an unsere Soldatinnen und Soldaten, die in diesem Moment unter Einsatz ihres Lebens erfüllen, wozu uns die Humanität verpflichtet. Und ich freue mich, dass auch heute Soldaten der Teilstreitkräfte Heer und Luftwaffe, darunter Veteranen des Afghanistan-Einsatzes, anwesend sind und unsere Debatte auf der Tribüne verfolgen. Seien Sie uns besonders herzlich willkommen.
Die Ereignisse in Afghanistan werfen viele Fragen auf – die nach der Verantwortung ist eine, und sie wird auch parlamentarisch aufgearbeitet werden. Die Welt steht aber nicht still, es braucht jetzt strategische Weitsicht. Im globalen Wettbewerb der Systeme wird der Autoritätsverlust des Westens längst ausgenutzt. Deshalb müssen wir im Bündnis schnell überzeugende Antworten finden, wie wir künftig unseren universellen Werten Geltung in der Welt verschaffen wollen. Wie wir damit umgehen, bei der Rettung von Menschen, bei der Bewältigung der Migration oder dem Kampf gegen den Terror auf die Zusammenarbeit auch mit zweifelhaften Kräften und Regimen angewiesen zu sein.
Wir brauchen die multilaterale Zusammenarbeit. Wir brauchen sie gerade mit Blick auf den Klimawandel. Der Weltklimabericht und die extremen Wetterereignisse mit zerstörerischen Bränden in Europa und anderen Teilen der Welt zeigen den Ernst der Lage. In unserem eigenen Land brach im Juli ein verheerendes Hochwasser über Dutzende Ortschaften herein. Die Zahl der Menschen, die in den Fluten starben oder noch immer vermisst sind, ist erschütternd. Ihren Hinterbliebenen gilt unser Mitgefühl. 
Hunderte wurden verletzt. Familien verloren ihr Zuhause, Landwirte Vieh und Felder, Winzer und Obstbauern ihre Ernte, Betriebe ihre Produktionsanlagen. Von der Rückkehr zu einem geregelten Alltag sind die Menschen weit entfernt. Sie brauchen unbürokratische Überbrückungs- und Wiederaufbauhilfen. Auch deswegen kommen wir zu dieser Sondersitzung zusammen. 
Der Klimawandel verlangt von uns einschneidende Veränderungen und kluge Eingriffe in unsere Lebensweise. Wir müssen langfristig denken – aber: kurzfristig brauchen wir eine deutlich bessere Vorsorge, um auf Extremsituationen schneller reagieren zu können. Das ist eine Frage der Verantwortung für nachfolgende Generationen – und auch das ist Mitmenschlichkeit.
Dass wir dazu in der Lage sind, haben viele Flutopfer in der größten Not erfahren. Sie setzte die besten Kräfte in der Gesellschaft frei. Privatleute, Rettungskräfte und Angehörige der Bundeswehr arbeiteten in den überschwemmten Orten Hand in Hand. Der Zusammenhalt in der Gesellschaft ist offenbar größer, als wir oft wahrnehmen.
Für den spontan geleisteten Beistand gebührt den Hilfsorganisationen und den vielen Freiwilligen unser Dank! Sie haben ihre eigenen Interessen zurückgestellt und Verantwortung gezeigt. 
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie jetzt bitten, sich zum stillen Gedenken an die Opfer der Hochwasserkatastrophe von Ihren Plätzen zu erheben.

Ich bitte Sie, im Stehen weiter innezuhalten – zum Gedenken an Abgeordnete, von denen wir Abschied nehmen mussten.

Wir gedenken des verstorbenen Kollegen Martin Hebner. 
Wir haben ihn in dieser Legislaturperiode als Abgeordneten erlebt, der seine Überzeugungen und Ziele mit hohem Einsatz verfolgte. Schon länger wussten wir um die schwere Krankheit, gegen die der diplomierte Informatiker tapfer gekämpft hat. Im Juli ist Martin Hebner im Alter von 61 Jahren seiner Krankheit erlegen.

Wir gedenken der verstorbenen Kollegin Ingrid Remmers. 
In ihrer parlamentarischen Arbeit machte sich die überzeugte Gewerkschafterin für eine ökologisch vertretbare Verkehrspolitik stark. Ingrid Remmers persönliche Krankengeschichte nahm in der Debatte um Organspenden eine politische Dimension an: Trotz eigener Betroffenheit konnte sie die Widerspruchslösung nicht mit ihrem Menschenbild vereinbaren. Ingrid Remmers ist Anfang des Monats im Alter von nur 56 Jahren gestorben.

Unser Mitgefühl gilt den Familien der Verstorbenen – so wie auch den Hinterbliebenen zweier ehemaliger Kollegen. 
So ist am Wochenende nach schwerer Krankheit Johannes Gerster gestorben, dessen unbändige politische Leidenschaft als langjähriger Parlamentarier vielen von uns noch ebenso präsent ist wie sein herausragender Einsatz für die deutsch-israelische Freundschaft und dafür, Brücken zwischen Israelis und Palästinensern zu bauen.
Bereits am 12. August ist Kurt Biedenkopf gestorben. Die Zeit im Bundestag war zwar nur eine knappe Episode in seinem politisch reichen Leben. Seine gesellschaftspolitischen Anliegen, seine Ideen zur Neuordnung der Sozialsysteme, zur föderalen Finanzordnung oder zur paritätischen Mitbestimmung schlugen sich aber immer wieder in den Debatten hier im Hause nieder. Kurt Biedenkopf war ein Grenzgänger. Zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik – und zwischen Ost und West. Nach der Wiedervereinigung ist Kurt Biedenkopf als populärer Landesvater in die Geschichte des Freistaates Sachsen eingegangen. Seine Verdienste um die Deutsche Einheit werden bleiben. 
….
Vielen Dank, bitte nehmen Sie Platz.  

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
„Einsicht braucht die Not als Verbündeten“: Das hat Kurt Biedenkopf einmal gesagt. Es ist ein guter Leitgedanke, auch für heute. Wir sehen viel Not – lassen wir es an Einsicht nicht fehlen. Und vor allem: Führen wir die Debatte hier im Parlament mit dem Ernst, den die Bürgerinnen und Bürger zu Recht erwarten. Das ist die beste Werbung für die Wahlen. Das ist unser Beitrag dazu, das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen zu stärken.

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