Laudatio von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas auf Igor Levit anlässlich der Verleihung des Deutschen Nationalpreises in der Französischen Friedrichstadtkirche
[Es gilt das gesprochene Wort]
Sehr geehrter Herr Dr. Mirow,
sehr geehrter Herr Professor Voßkuhle,
sehr geehrter Herr Professor Grube,
lieber Herr Friedman,
sehr geehrter Herr Dr. Schuster
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag,
sehr geehrte Damen und Herren,
und vor allem: Lieber Igor Levit,
der 4. Dezember 1995 ist für Sie ein ganz besonderes Datum.
An diesem Tag kamen Sie mit Ihrer Familie nach Deutschland.
Sie waren damals acht Jahre alt.
In Interviews erzählen Sie oft davon. Und von Ihrer kindlichen Begeisterung für Deutschland.
Diese Begeisterung zeigte sich zum Beispiel bei ihrem Ehrgeiz, besser Deutsch zu sprechen als alle anderen in Ihrer Klasse.
Sie haben einmal erzählt, wie Sie als junger Erwachsener den ersten Riss in Ihrem Deutschlandbild erlebten.
Bei einem Abendessen nahm Sie ein älterer Herr beiseite. Und mahnte Sie, nie zu vergessen, dass Sie zu einer Bevölkerungsgruppe gehörten, die – ich zitiere: „in Deutschland zu leben nicht mehr vorgesehen war.“
Ein Satz, bei dem es mir – und sicher uns allen hier im Saal - kalt den Rücken herunterläuft…
Lieber Herr Levit,
in Ihrem Verhältnis zu Deutschland hat es seitdem immer wieder Risse gegeben.
Dennoch haben Sie sich in und für Deutschland engagiert.
Als Bürger. Als Europäer. Als Pianist.
Wie es auf Ihrer Website heißt.
Spätestens seit dem 7. Oktober auch:
Als Jude.
Der 7. Oktober war für Ihr Verhältnis zu Deutschland mehr als ein Riss.
Auf das größte Massaker an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust folgte viel zu viel Schweigen. Lautes Schweigen.
Ausgerechnet in Deutschland herrschte in großen Teilen der Gesellschaft Stille.
Lieber Herr Levit,
Sie sagten dazu: „Kein Ereignis hat mich so sehr zum Juden gemacht.“
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir alle haben schon früh nach dem 7. Oktober die „Aber“ hören müssen.
Nach dem Motto: Ja, aber Israel…
Punkt, Punkt, Punkt
Beim Antisemitismus in Deutschland nach dem 7. Oktober ging es und geht es nicht um Israel.
Es war eine Berliner Synagoge,
auf die ein Brandsatz geworfen wurde.
Es waren deutsche Kinder, die sich nicht mehr in Schulen trauten.
Es waren unsere Nachbarinnen und Nachbarn, deren Haustüren mit Davidsternen markiert wurden.
Es ging und es geht um Hass auf Menschen in unserer Mitte.
Weil sie jüdisch sind.
Kein Aber!
„Wo bleibt die Solidarität?“ fragten Sie, lieber Herr Levit.
Sie richteten diese Frage an die deutsche Gesellschaft. Auch an Ihre Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter. Und an Ihre politischen Verbündeten.
An die Verfechterinnen und Verfechter einer offenen und vielfältigen Gesellschaft.
Wo war die Solidarität der Anti-Rassisten, als es Juden traf?
Wo waren die Feministinnen, als sich die Gewalt gegen Jüdinnen richtete?
Wo war der Aufschrei der Kulturschaffenden, als der Pianist Alon Ohel verschleppt wurde?
Es ist beschämend, dass wir uns diese Fragen stellen müssen.
Ja, meine Damen und Herren,
ich sage es offen:
Ich habe mich geschämt für das,
was in unserem Land in den Wochen nach dem 7. Oktober passierte
– und was eben nicht passierte.
Ich habe in jenen Tagen mit vielen Jüdinnen und Juden gesprochen.
Wem auch immer ich begegnet bin:
Alle berichteten, dass sie sich alleingelassen fühlten.
Dass sie den Glauben an Deutschland verloren hätten.
Lieber Igor Levit,
eine ARD-Dokumentation zeigt Sie in den Wochen nach dem Anschlag.
Man sieht, wie nahe Ihnen die Ereignisse gegangen sind.
Wie einsam Sie sich fühlten,
wie verzweifelt Sie waren.
Doch Sie haben die Kraft gefunden,
ein Album aufzunehmen – mit Musik voll tiefer Trauer, aber mit dem Potenzial zu trösten: Felix Mendelssohn-Bartholdys „Lieder ohne Worte“.
Sie haben öffentlich das Wort ergriffen – auf der Bühne und in eindringlichen Interviews.
Gemeinsam mit Michel Friedman haben Sie am Berliner Ensemble mehrere Solidaritätskonzerte organisiert.
Ich selbst hatte für das Konzert im November schon eine Karte – und bin dann kurzfristig mit Bundespräsident Steinmeier nach Israel gereist.
Lieber Herr Levit,
auch Sie sind nach Israel geflogen und haben dort für Angehörige von Opfern und Geiseln gespielt, mit ihnen gefühlt, gebangt, gehofft.
Noch immer werden mehr als hundert Menschen in den Händen der Terrororganisation Hamas vermutet.
Wir hoffen jeden Tag, dass möglichst alle noch am Leben sind.
Sie müssen so schnell wie möglich freikommen.
Lieber Herr Levit,
Sie haben in Israel bei Veranstaltungen an die Menschlichkeit appelliert.
Ja, es ist ein Gebot der Menschlichkeit, auch das Leid der Zivilistinnen und Zivilisten in Gaza anzuerkennen.
Jeden Tag sterben dort Menschen,
die Bevölkerung lebt unter fürchterlichen Bedingungen und braucht dringend Hilfe.
Menschlichkeit gilt bedingungslos.
Nie wieder Menschenfeindlichkeit!
Nie wieder Judenhass!
Das gehört zu unserem Selbstverständnis.
Jüdinnen und Juden müssen in Deutschland sicher sein.
Im Vertrauen darauf kamen viele tausend jüdische Flüchtlinge nach Deutschland.
Darunter die Familie von Igor Levit.
Und heute?
Heute verstecken Juden ihre Kippa. Heute verbergen Jüdinnen und Juden ihren Davidstern.
Heute überlegen jüdische Menschen wieder, ob sie Deutschland den Rücken kehren sollen.
Herr Levit, bei einer anderen Preisverleihung haben Sie gesagt:
„Als Jude in Deutschland für seinen Kampf gegen Antisemitismus geehrt zu werden entbehrt nicht einer gewissen Ironie.“
Ans Publikum gewandt fügten Sie hinzu: Es sollte vor allem Ihr Kampf sein.
Sie haben Recht!
Meine Damen und Herren,
nehmen wir die heutige Preisverleihung zum Anlass für die deutliche Botschaft:
Antisemitismus ist nicht das Problem von Jüdinnen und Juden.
Antisemitismus ist unser aller Problem.
Lieber Herr Levit,
Sie haben sich die Frage gestellt, ob Ihr Platz noch in Deutschland ist. Und haben diese Frage bejaht.
Dafür bin ich Ihnen dankbar.
Ich denke, das gilt für uns alle hier.
Doch wir wissen, dass Dankbarkeit nicht ausreicht.
Was zählt, ist konkretes Handeln.
Jede antisemitische Straftat muss aufgeklärt, verfolgt, geahndet werden. Das ist eine Selbstverständlichkeit.
Mindestens ebenso wichtig ist,
dem antisemitischen Denken entgegenzutreten.
Wir brauchen Aufklärung, Bildungsarbeit, Begegnungsorte.
Es gibt zahlreiche bewährte Programme gegen Antisemitismus und Initiativen für kulturellen Dialog.
Das Drei-Religionen-Kita-Haus ist ein wunderbares Beispiel und bekommt heute den Förderpreis der Deutschen Nationalstiftung.
Darüber freue ich mich sehr.
Und ich gratuliere herzlich.
Aus den Einnahmen seines aktuellen Albums unterstützt Igor Levit eine Initiative, die Angebote für Schulen macht und Wissen vermittelt – über jüdisches Leben, die deutschen Verbrechen oder den Nahost-Konflikt.
Das Besondere: Den Schülerinnen und Schülern wird Raum für Ihre Gefühle gegeben.
Auch für Schmerz über Verletzungen, die sie hier in Deutschland erfahren.
Wegen ihres Aussehens oder ihres Namens.
So gelingt es, Respekt und Empathie für alle Menschen zu vermitteln.
Und den Jugendlichen hilft es, Judenhass und andere Formen von Menschenverachtung zu widerstehen.
Seit dem 7. Oktober werden solche Initiativen überrannt mit Anfragen.
Das zeigt: Es gibt einen enormen Aufholbedarf.
In selbstkritischen Worten:
Die Politik hätte viel früher hinschauen und Schulen besser vorbereiten müssen.
Der Erfolg solcher Bildungsinitiativen macht aber auch deutlich:
Wir können etwas tun gegen Antisemitismus – und für ein friedliches Miteinander in unserer vielfältigen Gesellschaft.
Wir als Politik sind jetzt in der Pflicht, diese Ansätze zu unterstützen und auszuweiten.
Wir brauchen Programme gegen Antisemitismus an möglichst vielen Schulen und Bildungseinrichtungen – und noch weit darüber hinaus.
Meine Damen und Herren,
die Politik kann den Kampf gegen Antisemitismus nicht allein führen.
Dieser Kampf wird nur erfolgreich sein, wenn es einen Schulterschluss von Politik, Wirtschaft, Medien, Kultur und Sport gibt.
Wir alle müssen dagegenhalten, wenn wir antisemitische Parolen hören.
Müssen Jüdinnen und Juden beistehen, wenn sie angefeindet werden.
Wer zu Antisemitismus schweigt,
nimmt hin, dass Hass und Gewalt in unserem Land um sich greifen.
Nimmt hin, dass die Grundlagen unserer Demokratie angegriffen werden.
Das „Nie wieder“ des Grundgesetzes ist ein konkreter Auftrag für uns alle.
Nie wieder ist jetzt!
Prüfen wir unser eigenes Denken:
Wo neigen wir zu Pauschalisierungen? Zu Vereinfachungen?
Zu Feindbildern?
Unter dem Vorwand des Kampfes gegen Antisemitismus wird etwa mit dem Finger auf Zugewanderte gezeigt und Muslimfeindlichkeit geschürt.
Ja, einige Zugewanderte haben Judenhass aus ihrer Heimat mitgebracht.
Das hat die deutsche Politik zu lange nicht gesehen.
Deutschland darf aber nicht so tun, als wäre Antisemitismus nur von außen zu uns gekommen.
Antisemitismus existiert weiterhin am rechten Rand.
Denken wir an den Anschlag auf die Synagoge in Halle.
Antisemitismus existiert am linken Rand. Denken wir an die unerträglichen Parolen, die derzeit an einigen Universitäten zu hören sind.
Antisemitismus existiert in der Mitte unserer Gesellschaft. Zum Beispiel in der verbreiteten Forderung nach einem Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit.
Nicht erst seit dem Skandal um die Documenta wissen wir: Auch im Kunst- und Kulturbetrieb findet sich Antisemitismus.
„Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“, so steht es im Grundgesetz.
Aber ist die Kunst auch frei von der Verantwortung für die Verfassung,
die die Kunstfreiheit garantiert?
Lieber Igor Levit,
Ihre Antwort lautet. Ich zitiere: „Ich bin davon überzeugt, dass mich mein Pianisten-Dasein nicht aus der Verantwortung befreit, Bürger zu sein.“
Als „Bürger-Pianist“ haben Sie vielen von uns die Corona-Pandemie erträglicher gemacht.
Begeistert haben viele Menschen Ihre sogenannten Hauskonzerte in den sozialen Medien verfolgt.
Sie haben damit auch bewiesen,
dass die sozialen Medien – richtig genutzt – auch zum sozialen Zusammenhalt beitragen können.
Das ist wichtig!
Meine Damen und Herren,
vor wenigen Tagen haben wir 75 Jahre Grundgesetz gefeiert.
Wir haben uns bewusst gemacht, was wir dem Grundgesetz verdanken.
Wie sehr es unseren Alltag prägt.
Dass die Rechte und die Freiheiten des Grundgesetzes nicht selbstverständlich sind.
Unsere Demokratie braucht Menschen, die für demokratische Rechte und Freiheit eintreten.
Die solidarisch sind mit ihren Mitmenschen.
Die den Geist unseres Grundgesetzes verinnerlicht haben:
Die Würde des Menschen ist immer auch die Würde des anderen.
Meine Damen und Herren,
wir zeichnen heute einen Menschen aus, der eine solche Haltung lebt und vorlebt.
Wir verleihen den Deutschen Nationalpreis an den Bürger Igor Levit.
Herzlichen Glückwunsch.
Und herzlichen Dank.