Rede anlässlich des 35-jährigen Jubiläums der Genscher-Rede in der Deutschen Botschaft in Prag am 3. September 2024 im Landtag von Sachsen-Anhalt
[Es gilt das gesprochene Wort]
Sehr geehrter Herr Präsident Schellenberger – lieber Kollege,
sehr geehrte Ministerin Zieschang,
sehr geehrte Ministerin Grimm-Benne,
sehr geehrter Herr Beleites,
sehr geehrte Abgeordnete,
sehr geehrte Zeitzeuginnen und Zeitzeugen,
liebe Gäste!
Der Abend des 30. September 1989 in der Deutschen Botschaft in Prag ist historisch.
Die Lage im Palais Lobkowicz und im umliegenden Garten hatte sich dramatisch zugespitzt:
Über Wochen waren immer mehr Menschen aus der DDR in die Botschaft geflüchtet – durch das Tor, über die Außenmauer oder den Zaun.
Ende September befinden sich rund 3.500 Menschen auf dem Gelände.
Das Wetter wird kälter, es regnet immer wieder in Strömen.
Die Gesundheitslage ist kritisch, die Kanalisation überlastet.
Weitere Toiletten können nicht angeschlossen werden.
Auch das Wasser ist knapp.
Die Menschen schlafen in Zelten und auf den Stufen im Treppenhaus.
Die Verantwortlichen haben Sorge,
die Lage könnte eskalieren: durch eine Epidemie, ein Feuer oder eine Massenpanik.
Für die Geflüchteten ist die Situation eine nervliche Zerreißprobe.
Die ungewisse Zukunft macht ihnen Angst.
Immer wieder kommt der Verdacht auf, dass sich die Stasi unter ihnen befindet.
Botschafter Huber erinnert sich: Jederzeit hätten schlechtes Wetter, Alkohol oder ein Streit das Fass zum Überlaufen bringen können.
In dieser Situation trifft Hans-Dietrich Genscher zusammen mit Rudolf Seiters ein.
Dass Genscher kommt, hatte sich bereits im Flüsterton herumgesprochen.
Wenn der Außenminister der Bundesrepublik persönlich anreist, muss etwas Entscheidendes anstehen.
Die unscharfen Filmaufnahmen von damals geben einen Eindruck von der angespannten Atmosphäre an diesem Abend: der grell erleuchtete Balkon, die Menschenmassen im Garten, die man nur schemenhaft erkennt.
Die improvisierte Akustik von Genschers Ansprache über Megafon. Unruhe und Zwischenrufe.
Bis Hans-Dietrich Genscher jenen Satz spricht:
„Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“
Lauter Jubel bricht aus. Die zweite Hälfte von Genschers Satz geht unter.
Alle Anspannung löst sich in diesem Jubel.
So groß ist die Last, die von tausenden Schultern in diesem Moment abfällt.
Von den Menschen aus der DDR, die in die Botschaft geflüchtet sind und die für eine Zukunft in Freiheit alles aufs Spiel gesetzt hatten.
Für eine Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland.
Von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Prager Botschaft, die spontan und über Wochen Tausende Geflüchtete versorgt hatten.
Von den Beamten der Bundesrepublik, die von Prag über Ost-Berlin und Bonn bis nach New York wochenlang ihr ganzes diplomatisches Geschick eingesetzt hatten.
Diese Erleichterung spürt man auch heute noch, wenn man die Szene von damals am Bildschirm sieht.
Der Umschwung von angespannter Sorge zu erleichtertem Freudentaumel sorgt auch nach 35 Jahren noch für Gänsehaut.
Vieles ist in diesem Augenblick noch ungewiss.
Doch es scheint bereits etwas Wundervolles in der Luft zu liegen: die Ahnung eines Wandels.
Eines Wandels, der über das einzelne Schicksal der Anwesenden hinausgeht.
Meine Damen und Herren,
die friedliche Lösung der Situation in Prag war ein Glücksfall der Geschichte. Verschiedene Aspekte trugen dazu bei:
- Die damalige Weltlage.
- Der Druck, den DDR-Bürgerinnen und -Bürger auf verschiedene Weise auf das Regime aufbauten.
- Und das Geschick, mit dem die Diplomaten der Bundesrepublik verhandelten.
Die Stimmung zwischen der Sowjetunion und dem Westen war im Sommer und Herbst 1989 durch Entspannung geprägt.
Michail Gorbatschow hatte mit Glasnost und Perestroika Reformen eingeleitet, die Mittel- und Osteuropa auf friedliche Weise verändern sollten.
Und die Block-Konfrontation beendeten.
In Polen sorgte die wieder-zugelassene Solidarność-Bewegung für die ersten halbfreien Wahlen im sowjetischen Einflussbereich.
Die Wahlen im Juni 1989 führten zu einem Sieg für die Oppositionellen und letztlich zu einem Politikwechsel mit demokratischen Mitteln.
Die ungarische Regierung öffnete im Sommer ´89 erst zeitweise und dann im September ´89 endgültig ihre Grenzen zu Österreich.
Das bedeutete einen ersten Riss im Eisernen Vorhang.
Die DDR beschloss daraufhin, keine Visa mehr für Ungarn zu erteilen.
So blieb den Bürgerinnen und Bürgern in der DDR nur, diese Entwicklungen aus der Ferne zu beobachten.
Zur wirtschaftlichen Unzufriedenheit kam für viele nun der Frust über ausbleibende Reformen im eigenen Land.
Sie sehnten sich danach, ihre Gedanken frei zu äußern und in die ganze Welt reisen zu können.
Sie sehnten sich danach, frei nach ihren Vorstellungen leben zu können.
In vielerlei Hinsicht wurde ihnen die DDR zu eng.
Und so folgten immer mehr DDR-Bürgerinnen und Bürger diesem Drang nach Freiheit.
Ich erinnere nur an einige Ereignisse des Sommers 1989:
- Anfang August flüchteten über 100 Personen in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin.
- Die Botschaften von Budapest, Warschau und Prag wurden in diesen Wochen Anlaufstelle für tausende Menschen, die die DDR verlassen wollten.
- Rund 700 Personen nutzten die Gelegenheit beim Paneuropäischen Picknick am 19. August ´89 und flohen über die ungarisch-österreichische Grenze – innerhalb von drei Stunden!
All diese Menschen waren bereit, einen hohen Preis für ihre Freiheit zu zahlen. Nicht nur, dass der Fluchtversuch immer noch gefährlich war.
Die Menschen ließen ihr Zuhause, ihr Hab und Gut, ihre Arbeit, ihre Freundinnen und Freunde und häufig auch Familienmitglieder hinter sich.
Wie entschlossen sie waren, konnte man in den Straßen von Warschau und Prag erkennen: Rund um die Deutschen Botschaften waren Trabbis und Wartburgs geparkt.
Die Autoschlüssel waren an Bäume in der Nähe gepinnt.
Nichts hätte treffender ausdrücken können: Diese Bürgerinnen und Bürger planten keine Rückkehr in die DDR.
Aus heutiger Sicht fügt sich alles.
Wir wissen, dass der Weg von dort bis zur Wiedervereinigung nicht weit war.
Damals jedoch mussten die Menschen davon ausgehen, dass diese Trennung für immer war.
Für sie war kaum absehbar, dass man sich wenige Monate später wieder in den Armen liegen konnte.
So gehörte zur genauen Planung der Flucht auch großer Mut.
Wie sollte man in der fremden Stadt die deutsche Botschaft finden?
Wen konnte man fragen, wenn im Umkreis der Botschaft die Stasi lauerte?
Wenn allein die Frage nach der Botschaft verdächtig machte?
Und war die Botschaft gefunden, blieben nur wenige Sekunden zur endgültigen Entscheidung:
Über den Zaun – ja oder nein?
Kein Wunder, dass manche den Überblick verloren: Der belgische Botschafter in Prag wandte sich am 21. September `89 an seinen deutschen Kollegen, weil sich 27 Geflüchtete aus der DDR in seiner Vertretung aufhielten.
Die belgische Flagge ist der bundesdeutschen sehr ähnlich.
Vielleicht sind sie deshalb über den falschen Zaun geklettert.
Noch am selben Tag ließ Botschafter Huber die gestrandeten Menschen mit Botschaftsfahrzeugen abholen und in die Vertretung der Bundesrepublik bringen.
All das geschah vor den Augen der Welt. International sorgte die Lage über Wochen für Schlagzeilen.
Kurz vor dem 40. Jubiläum der DDR am 7. Oktober wollten tausende Menschen nichts lieber, als diese zu verlassen.
Die Ausreisewilligen erzeugten einen starken Druck auf das Regime der DDR.
Nahezu zeitgleich und teilweise aus derselben Unzufriedenheit heraus wollten andere DDR-Bürgerinnen und -Bürger ihr Land verändern.
Sie gründeten in jenen Wochen unter anderem das „Neue Forum“, „Demokratie Jetzt“ und den „Demokratischen Aufbruch“.
Mit Kundgebungen, Demonstrationen und Sprechchören auf den Straßen und Plätzen verschafften sie sich in der DDR immer mehr Gehör.
Während die einen „Wir wollen raus!“ riefen, skandierten die anderen:
„Wir bleiben hier!“
Für die Friedliche Revolution hat es wohl beides gebraucht.
Jene, die „mit den Füßen abstimmten“, wie es damals hieß.
Die so signalisiert haben, dass sie in der DDR keine Zukunft mehr sahen.
Und jene, die zuhause auf die Straße gegangen sind und aktiv protestierten.
Sie zeigten, dass sie die DDR verändern und die Zukunft ihres Landes mitgestalten wollten.
Meine Damen und Herren,
für eine friedliche Lösung der Situation in der Prager Botschaft brauchte es außerdem geschickte Diplomatie.
Genscher war zu diesem Zeitpunkt bereits seit 15 Jahren Außenminister und auf der Weltbühne eine Größe.
Er war ein guter Zuhörer. Er wurde als kluger und weitsichtiger Brückenbauer geschätzt.
Um die schwierige Situation in Prag zu lösen, kam noch etwas Entscheidendes hinzu: seine Herkunft.
Er war Sachsen-Anhalter, in Halle geboren.
In seinen Erinnerungen schrieb er 1995:
„Zeit meines Lebens war ich stolz auf Halle, meine Heimatstadt.“
Zitat Ende
Dennoch hatte er sich mit 25 Jahren entschlossen, die DDR und damit seine Heimat zu verlassen.
Er wusste, wie schwer eine solche Entscheidung ist.
Und er konnte dieses Wissen nutzen.
Am Morgen des 30. September 1989 kehrt er von den Vereinten Nationen aus New York zurück.
Dort hatte er am Rande der Vollversammlung mit seinen Kollegen aus Prag, Ost-Berlin und Moskau über eine Lösung für die Geflüchteten verhandelt.
Endlich zeichnet sich im Laufe des Tages eine Vereinbarung mit der DDR ab:
Die Geflüchteten in der deutschen Botschaft sollen mit Zügen in die Bundesrepublik ausreisen – über das Territorium der DDR.
Auf dieses Vorgehen besteht die SED-Führung, um ihre Bürgerinnen und Bürger auch offiziell mit entsprechenden Dokumenten aus der Staatsbürgerschaft entlassen zu können.
Genscher weiß, dass er nun das Vertrauen der Geflüchteten gewinnen muss.
Die geplante Lösung könnte bei vielen Menschen Misstrauen wecken.
Obwohl er in jenem Sommer bereits einen Herzinfarkt erlitten hatte und seitdem zwei Herzspezialisten mit ihm gereist waren, will er die Nachricht persönlich überbringen.
Er fliegt noch am selben Abend nach Prag.
Vom Balkon spricht er die zu Beginn zitierten Worte.
Und erklärt die Absprache mit der DDR.
Als sich Unmut über die vorgestellte Lösung regt, sagt Genscher, ich zitiere:
„Liebe Landsleute,
ich habe denselben Weg, dieselbe Entscheidung, die Sie jetzt treffen, auch getroffen, als ich meine Heimat verlassen habe.
Ich würde Ihnen diese Empfehlung nicht geben, wenn ich sie nicht vor meinem Gewissen verantworten könnte.“
Zitat Ende.
Dieses Versprechen ihres Landsmanns aus Halle überzeugt.
Hinzu kommt, dass auch hohe Beamte der Bundesregierung mit den Geflüchteten mitreisen sollen.
Noch am selben Abend fährt der erste Zug Richtung Bundesrepublik.
Bis zum 3. Oktober verlassen tausende DDR-Bürgerinnen und -Bürger mit Zügen von Prag über Dresden und Leipzig ins bayerische Hof die Deutsche Demokratische Republik.
Jahre später stellte Hans-Dietrich Genscher dazu die entscheidende Frage:
„Wie konnte die Führung in Ostberlin unterschätzen, welchen psychologischen Effekt der Transport Tausender Flüchtlinge durch die DDR haben würde?“
Zitat Ende
Der Effekt war unübersehbar.
„Wie geht’s? – Über Prag!“ war bald ein landauf, landab beliebter Witz.
Tatsächlich wurden die Züge auf ihrem Weg durch die DDR von Jubel begleitet.
Einigen Menschen gelang es sogar, noch in der Tschechoslowakei oder in Dresden auf die Züge aufzuspringen.
Genscher beschrieb später, dass ihm bereits im Flugzeug nach Prag die Dimension der Entscheidung aus Ost-Berlin bewusst geworden sei.
Ich zitiere:
„Es kündigte sich Historisches an: Die DDR ist am Ende. Was sich hier vollzieht, ist im Grunde der Zusammenbruch der DDR von innen und von unten.“
Zitat Ende
Und so kam es dann auch.
Am 9. Oktober `89, also nur 10 Tage nach der Lösung in Prag, demonstrierten 70.000 Menschen in Leipzig für Freiheit und gegen das SED-Regime.
Einen Monat später fiel die Mauer. Aus damaliger Sicht überraschend schnell.
Meine Damen und Herren,
was sagen uns die Ereignisse aus der Prager Botschaft im Herbst 1989 heute?
Zunächst einmal, dass die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit nicht zu unterschätzen ist.
Jene, die damals dabei gewesen sind, sagen: Wir dürfen das Geschenk der Freiheit nicht verkennen.
Es ist an uns, die Freiheit zu schätzen und zu schützen.
Und es ist an uns, ein Leben in Freiheit zu ermöglichen, wo wir nur können.
In diesem Jahr feiern wir 75 Jahre Grundgesetz und 75 Jahre Parlamentarismus.
Davon bereits 34 Jahre gemeinsam. Welch ein Glück!
Das Grundgesetz garantiert Freiheit und Demokratie.
Es garantiert den Schutz der Menschenwürde und die Achtung der Menschenrechte.
Darum beneiden uns viele.
Unser Land mit seinem Grundgesetz und seiner Demokratie ist ein Sehnsuchtsort und Vorbild für Menschen in der ganzen Welt.
1989 war die Bundesrepublik genauso ein Sehnsuchtsort für viele, die mit der DDR nicht mehr einverstanden waren.
Das belegen auch jene historischen Tage in der deutschen Botschaft in Prag.
Freie Meinungsäußerung, freie Wahlen und die Freiheit, zu demonstrieren – die Menschen in der DDR sind für diese Rechte auf die Straße gegangen.
Wir feiern deshalb in diesem Jahr auch 35 Jahre Friedliche Revolution!
Wir erinnern daran, mit welchem Freiheitsdrang und mit welch hohem persönlichen Einsatz viele Ostdeutsche für die Demokratie gekämpft haben.
Und mit welcher Überzeugung und Leidenschaft.
Was für einen Dienst sie damit ganz Deutschland erwiesen haben!
Was für ein Vorbild einer friedlichen Revolution sie damit der ganzen Welt gegeben haben!
Dieses Erbe darf nicht von Demokratiefeinden missbraucht werden!
Als die Mauer fiel, war ich 21 Jahre alt. Ich möchte ehrlich mit Ihnen sein: Auf mein Leben hatte der Mauerfall keinen spürbaren Einfluss.
Ich weiß aber auch aus vielen Gesprächen mit Ostdeutschen: Für die Menschen aus der ehemaligen DDR war das völlig anders.
Meine Damen und Herren,
in diesen Tagen nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen beschäftigen wir uns viel mit dem Zustand unserer Demokratie.
Zurecht.
Die jüngsten Wahlergebnisse zeigen, dass viele Menschen unzufrieden sind.
Umfragen zeigen, dass die Zustimmung für eine autoritäre Führung oder gar eine rechtsgerichtete Diktatur wächst.
Warum ist der Unmut über die Demokratie derzeit bei einigen in Deutschland so groß?
Aktuelle Krisen und der daraus folgende Druck zur Veränderung verunsichern viele Menschen.
Anschläge, wie jüngst in Solingen machen ihnen Angst.
Sie zweifeln an der Handlungsfähigkeit der Demokratie.
Ich bin überzeugt:
Unsere Demokratie ist stark.
Sie ist lernfähig.
Sie ist ein gutes und sicheres Fundament.
Und sie ist wehrhaft gegen alle, die ihr schaden wollen. Die sie verächtlich machen und mit Häme überziehen.
Die Mehrheit der Deutschen hält die Demokratie nach wie vor für die beste Staatsform.
Doch Demokratie ist nicht immer einfach.
Natürlich muss uns Politikerinnen und Politikern die Unzufriedenheit der Menschen zu denken geben.
Wir müssen Zweifeln und Verunsicherung begegnen.
Wir müssen Vertrauen immer wieder aufs Neue rechtfertigen und zurückgewinnen.
Und wir müssen erklären, was wir alle von demokratischen Kompromissen haben: ein möglichst gutes Leben für möglichst viele Menschen.
Seit 34 Jahren gestalten wir diese Demokratie nun schon gemeinsam.
Fast so lange, wie wir getrennt waren.
Für die Zukunft unserer Demokratie habe ich ein paar Wünsche:
Lassen Sie uns mehr miteinander als übereinander sprechen!
Lassen Sie uns aufhören, das Trennende zu suchen!
Lassen Sie uns auf das schauen, was uns verbindet und trägt!
Jede und jeder aus seiner Perspektive.
Und vor allem: Lassen wir uns die gemeinsamen 34 Jahre nicht schlecht reden!
Vielen Dank!