08.04.2025 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Julia Klöckner bei der Ausstellungseröffnung „Staatssicherheitsinhaftierung - 100 Portraitaufnahmen 2023 – 2024“

[Es gilt das gesprochene Wort.]

Einhundert Augenpaare. 
Direkte Blicke in die Kamera.
Radikal in schwarz-weiß.

Diese Bilder sprechen jede Betrachterin, jeden Betrachter unmittelbar an. Man kann den Blicken nicht ausweichen.

Lieber Herr Wagenzik, 
vielen Dank, dass Sie uns heute an Ihren Erfahrungen in der Haft der Staatssicherheit teilhaben lassen – und dass Sie uns diese bewegenden Aufnahmen zeigen.

Sie haben in den vergangenen zwei Jahren ehemalige politische Inhaftierte des Staatssicherheitsdienstes der DDR gesucht, gefunden und fotografiert. 
Liebe Frau Schönherz,
lieber Herr Latotzky,
ich danke Ihnen, dass Sie nachher als Zeitzeugen im Rahmen der Podiumsdiskussion „Für die Freiheit hinter Gittern – politische Gefangene in der DDR“ zu uns sprechen.
Und ich freue mich sehr, dass viele weitere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen heute hier sind.

Lieber Herr von Grumbkow, Herr Hübener, 
Frau Radewahn und Frau Schlegel, 
Sie werden uns nachher bei der Führung durch die Ausstellung begleiten. Ihre Perspektiven sind auch für mich persönlich etwas sehr Besonderes. Ihnen allen ein sehr herzliches Willkommen!

Liebe Frau Zupke,
auch Sie heiße ich sehr herzlich willkommen.

Diese Ausstellung ist in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung Aufarbeitung, der SED-Opferbeauftragten und weiterer Akteure wie der Gedenkstätte Hohenschönhausen vorbereitet worden. Vielen Dank an alle Beteiligten, dass wir heute Abend diese beeindruckenden Aufnahmen sehen können!

Meine Damen und Herren,
die einhundert Portraits auf den Tafeln um uns herum 
stehen stellvertretend für die vielen Menschen, die aus politischen Gründen von der Staatssicherheit der DDR inhaftiert wurden. Die Portraits machen die Menschen hinter den Zahlen sichtbar.

Lieber Herr Wagenzik,
Sie geben den Menschen ein Gesicht und einen Namen, nachdem sie im Gefängnis außerhalb der Vernehmungen nur mit einer Nummer angesprochen wurden. Eine gezielte Methode, um ihre Persönlichkeit zu brechen.

Neben so vielen weiteren unmenschlichen Methoden der Staatssicherheit: Kaum Kommunikation nach außen und auch kaum Kontakt zu anderen Häftlingen. Besuchs-, Lese- und Schreibverbot, wenig Freigang, kaum Kaffee oder Zigaretten.

All dies wurde den Gefangenen oft nur als Belohnung von den Wärtern gewährt – und das zumeist komplett willkürlich. Das Handeln der Vernehmer und der Wärter wurde so als übermächtig, unberechenbar und gnadenlos empfunden.
Die Gefangenen waren ausgeliefert.

Sehr geehrte Damen und Herren, 
knapp 34.000 Inhaftierte wurden von der Bundesrepublik „freigekauft“. Manche waren froh, nach Westdeutschland zu kommen. Andere sahen weiterhin die DDR als ihre Heimat, 
die sie verändern und gestalten wollten. 
Jürgen Fuchs kam 1977 direkt aus der Haft nach West-Berlin. Er beschrieb in seinem Buch „Vernehmungsprotokolle“ die subtile Gewalt in Hohenschönhausen.

1979 erschien sein Gedicht „Das Schlimme“, das ich zitieren möchte:

„Das Schlimme ist nicht
In einer Zelle zu sitzen
und verhört zu werden
Erst danach
Wenn Du wieder vor
einem Baum stehst
Oder eine Flasche Bier
trinkst
Und dich freuen willst
Richtig freuen
Wie vorher
Erst dann“

Meine Damen und Herren,
Jürgen Fuchs macht eindrücklich deutlich: Eine zersetzende Haft wie die der Staatssicherheit endet nicht mit der Freilassung oder dem Freikauf.
Psychisch und auch körperlich wirkt die Haft ein Leben lang nach.

Lieber Herr Wagenzik, 
liebe Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, es ist unglaublich wichtig, dass wir heute an dieses Leid und die vielen Schicksale erinnern.

Ich freue mich sehr, dass so viele Gäste zu unserer Ausstellungseröffnung gekommen sind, darunter viele Kolleginnen und Kollegen aus dem Haus.  

Unsere Botschaft ist klar: Wir vergessen nicht.

Es ist gut, dass so viele Gedenkstätten die Erinnerung an die Haft durch die Staatssicherheit wachhalten. Viele meiner Besuchergruppen, die aus meiner Heimat Bad Kreuznach – tief in Westdeutschland – nach Berlin kommen, 
besuchen die Gedenkstätte Hohenschönhausen.
Was man dort sieht, hört und liest, geht allen Menschen nah.

Die Besucherinnen und Besucher setzen sich nicht nur mit der Geschichte auseinander. Viele betonen danach auch: „Wie gut, dass wir in einer Demokratie leben!“ In einer Demokratie mit Meinungsfreiheit, mit individuellen Rechten jedes einzelnen Menschen.

Für mich ist das eine Lehre aus den Diktaturen in unserem Land: Ein Mensch ist immer mehr als nur ein Glied eines Kollektivs. Ein Mensch ist immer ein Individuum. Mit Rechten, die ihm nicht genommen werden dürfen. Deshalb steht die Menschenwürde ganz vorne in unserem Grundgesetz und ist damit der Mittelpunkt des Wertesystems unserer Verfassung.

Jeder Mensch ist etwas Besonderes. Das gilt es, in unserer Demokratie zu fördern und zu schützen!

Diese Ausstellung zeigt, dass Menschen in der DDR unter Einsatz ihrer eigenen Freiheiten für die Grundlagen unserer Demokratie gekämpft haben: für Freiheit und Menschenwürde. Deshalb gehört diese Ausstellung hierher, in den Deutschen Bundestag, in das Herz unserer Demokratie!

Meine Damen und Herren,
bereits der erste gesamtdeutsche Bundestag hat 1992 eine Enquete-Kommission zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur eingesetzt.

Der Wunsch nach Aufarbeitung des Unrechts war schon in den letzten Tagen der DDR riesig. Die Gebäude des Ministeriums für Staatssicherheit wurden vielerorts gestürmt, um zu verhindern, dass Unterlagen vernichtet werden. Die Runden Tische und die erste frei gewählte Volkskammer der DDR haben intensiv debattiert, wie man mit den Hinterlassenschaften des Staatssicherheitsdienstes umgehen solle.

Viel ist seitdem passiert. Aber klar bleibt: Die Aufarbeitung ist niemals abgeschlossen.

Erst kürzlich haben wir im Deutschen Bundestag die SED-Opferrenten entscheidend verbessert. Seit 2021 ist Evelyn Zupke die erste Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur beim Deutschen Bundestag. Vielen Dank, liebe Frau Zupke, 
für Ihre wichtige Arbeit!

Ich danke allen Initiativen und Institutionen für ihr unermüdliches Engagement. Es gilt, die Erinnerung an die nächste Generation weiterzugeben. Mit Ausstellungen wie dieser. Mit Diskussionen wie der gleich folgenden Podiumsdiskussion. Und ganz wichtig: in den Schulen.

Und auch an der „digitalen Theke“, wie ich das gerne nenne.
Social Media wird oft als Gefahr für die Demokratie gesehen. Ich bin überzeugt: Wir dürfen Instagram, TikTok und Co. nicht den undemokratischen Kräften überlassen.
Wir müssen als Demokraten dort präsent sein und Social Media für politische Bildung nutzen!

Erst heute Mittag gab es eine Podiumsdiskussion zu historisch-politischer Bildung in Ost und West in den Sozialen Medien, organisiert von der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur und dem Instagram-Kanal „Wir in Ost und West“.

Ich kann alle nur ermutigen: Kommen Sie an die „digitale Theke“, nutzen Sie die Möglichkeiten und bringen Sie sich ein!

Meine Damen und Herren,
der Schriftsteller und Dissident Jürgen Fuchs starb 1999, viel zu früh. Auf seinem Grabstein steht: „Ich schweige nicht.“ Nach diesem Motto hat Jürgen Fuchs sein Leben lang gehandelt.

Und es sollte auch uns leiten:
Nicht zu schweigen, wenn die Menschenwürde verletzt wird.
Nicht zu schweigen, wenn ein Staat Menschen mundtot machen will und politisch verfolgt – egal, wo auf dieser Welt.
Nicht zu schweigen, wenn die Freiheit in unserer Demokratie verunglimpft wird.

Lassen Sie sich von diesen einhundert Augenpaaren dazu inspirieren, für unsere Freiheit und für unsere Demokratie einzustehen!

Sehr geehrte Damen und Herren, 
last but not least möchte ich auch den Kolleginnen und Kollegen der Bundestagsverwaltung für Organisation und Begleitung der Ausstellung herzlich danken.

Ich wünsche uns eine erkenntnisreiche Ausstellungseröffnung. Und ganz besonders wünsche ich dieser Ausstellung viele Besucherinnen und Besucher – bis zum 7. Mai hier im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages. Und hoffentlich im Anschluss im ganzen Land – zum Gedenken, zur Aufklärung und zur Mahnung.