Rede bei der Festveranstaltung „35 Jahre Bund der Zwangsausgesiedelten - Ein Anker der Erinnerung und Brücke der politischen Verständigung“

Evelyn Zupke SED-Opferbeauftragte beim Deutschen Bundestag, Symbolbild (© Inga Haar)
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Professor Voigt,
sehr geehrter Herr Landtagspräsident Dr. König,
lieber Dr. Peter Wurschi,
liebe Frau Tröbs,
liebe ehemalige Zwangsausgesiedelte und liebe Angehörige,
sehr geehrte Gäste,
Liebe Frau Tröbs,
ich erinnere mich gut an unser allererstes Gespräch vor viereinhalb Jahren, kurz nach meinem Amtsantritt als erste Opferbeauftragte des Bundestages.
Sie berichteten mir davon, wie Sie als damals Zehnjährige auf dem Rückweg vom Kindergottesdienst in die Arme der Volkspolizisten liefen. Wie die Staatssicherheit und die Volkspolizei gerade dabei waren, die Zwangsumsiedlung Ihrer Familie vorzubereiten. Und Sie noch nicht einmal die Möglichkeit hatten, sich von Ihren Schulkameradinnen zu verabschieden. Nur ein Puppenkleid und eine Spielzeug-Kaffeemühle konnten Sie damals mitnehmen.
Das Leid der Zwangsaussiedelten kannte ich zuvor nur aus Büchern und aus den Medien.
Wie sehr dieser brutale Eingriff der Diktatur in das Leben der Menschen, die Betroffenen, bis zum heutigen Tag begleitet. Das, liebe Frau Tröbs, habe ich von Ihnen gelernt.
Das jahrzehntelange Ringen um Aufklärung, um öffentliche Anerkennung und auch um Ausgleich. Ein Ringen um Respekt und um Gerechtigkeit.
Es hat lange gedauert, bis in unserer Gesellschaft das Verständnis für das Leid der Zwangsausgesiedelten wuchs. Das Verständnis dafür, dass das Unrecht der Zwangsaussiedlungen im Zuge der Grenzschließung mehr ist als eine Art Nachbeben des zweiten Weltkrieges. Dass das Unrecht, das die Zwangsausgesiedelten erfahren mussten, kein Kollektivschicksal war.
Nein, es war individuelle politische Verfolgung. Politische Verfolgung von Menschen, deren Schicksale drohen in Vergessenheit zu geraten.
Schicksale, wie das von Klara Obkirchner aus Hirschberg, die sich in der Nacht vom 6. auf den 7. Juni 1952 mit ihrem Mann Kaspar das Leben nahm.
Die Angst vor der Zwangsaussiedlung und davor, möglicherweise in ein Lager in die Sowjetunion verschleppt zu werden, trieb das Paar in den Selbstmord.
Die Geschichte der Zwangsaussiedlung ist eine Geschichte des Leids, der Repression, des Heimatverlustes und ja, auch in vielen Fällen, eine des Todes. Die Erinnerung an die Zwangsaussiedlung fordert uns als Gesellschaft heraus.
Die Zwangsaussiedlung hat uns keine Gefängnisse, Mauerteile oder Stacheldraht hinterlassen.
Für die Zwangsaussiedlung fehlen die Orte, die in unserer Erinnerungskultur wie Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart fungieren können. Die Zwangsaussiedlung hat heute meist nur stille Zeugen.
Umso wichtiger ist es, dass wir, wie heute, über die Zwangsaussiedlung sprechen, dass wir uns mit den bis heute andauernden Folgen auseinandersetzen. Das, was den Zwangsausgesiedelten in der Diktatur widerfahren ist, können wir heute in unserer Demokratie nicht ungeschehen machen.
Als demokratische Gesellschaft aber können wir uns an ihre Seite stellen. Indem wir das Unrecht klar als Unrecht benennen. Und indem wir den Menschen mit Respekt begegnen und helfen, dort wo Hilfe nötig ist.
Liebe Frau Tröbs, am Abend des 30. Januar dieses Jahres saßen wir gemeinsam auf der Ehrentribüne des Bundestages.
Es war der Abend, an dem der Bundestag nicht nur ein umfassendes Gesetzespaket für die Opfer von politischer Verfolgung in der SBZ und der DDR auf den Weg brachte. Es war der Abend, an dem der Bundestag, nach jahrzehntelangen Ringen, einen gesetzlichen Anspruch auf eine Einmalzahlung für die Opfer von Zwangsaussiedlung beschlossen hat.
Nach der Debatte erhoben sich die Abgeordneten von ihren Plätzen und wandten sich mit minutenlangem Applaus den Gästen – den politisch Verfolgten - auf der Ehrentribüne zu. Ein solch weitreichender einstimmiger Beschluss, insbesondere in einer derart herausfordernden politischen Lage, ist für mich keine Selbstverständlichkeit. Es ist ein eindrucksvolles Signal an die Opfer, dass ihr Leid nicht vergessen wird und sie auf die Unterstützung unserer demokratischen Gesellschaft bauen können.
Dieser Beschluss, die 7.500 € für die Zwangsausgesiedelten, ist weit mehr als eine monetäre Zuwendung. Er ist ein Signal an die Menschen, dass ihr Leid gesehen wird.
Im Frühsommer, wenige Monate nach dem Beschluss des Gesetzes, meldete sich eine über 90-jährige Zwangsausgesiedelte, die als junge Frau aus ihrer Heimat vertrieben wurde. Erst jetzt, nach dem Gesetzesbeschluss, hat sie zum ersten Mal ihr damaliges Dorf wieder besucht.
Sie sagte: „Jetzt wissen es alle: Wir waren keine Verbrecher.“ Liebe Frau Tröbs, liebe Mitglieder des Bundes der Zwangsausgesiedelten.
Dass das Leid der Zwangsaussiedelten anerkannt ist und die Betroffenen sich heute in unserer Gesellschaft stärker gesehen fühlen, das ist ganz wesentlich Ihr Verdienst.
Und dafür möchte ich Ihnen ganz persönlich, aber auch als SED-Opferbeauftragte des Bundestages, von Herzen danken.
Vielen Dank!