Festrede - Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ am neuen Standort

Die SED-Opferbeauftragte bei ihrer Festrede anlässlich der Einweihung des neuen Standortes, Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“, in Jena. (© DBT / Team Zupke)
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Dr. Nitzsche,
Sehr geehrter Herr Schleußner,
Sehr geehrter Herr Ilse,
Lieber Herr Landesbeauftragter Dr.Wurschi, lieber Peter,
Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Thüringer Archivs für Zeitgeschichte,
liebe Gäste,
ich freue mich sehr, heute hier bei Ihnen in Jena zu sein.
Vor zwei Jahren fanden die zentralen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in Thüringen, in Erfurt statt. Im Zelt des Bundestages nahm ich als SED-Opferbeauftragte an einem Bürgerdialog zum Thema Friedliche Revolution und Deutschen Einheit teil.Gegen Ende der Veranstaltung stand ein Mann im Publikum auf und ergriff das Wort. „Warum, Frau Zupke, sind Sie und viele andere erst 1989 auf die Straße gegangen? Die Aufdeckung des Wahlbetrugs ist ja schön und gut. Aber ich wäre zur Mauer gezogen! Schon Jahre vorher hätte ich mich gewehrt!“
Ich muss gestehen, ich habe mich über diese Fragen und sein Urteil über die DDR-Bürger im ersten Moment sehr geärgert. Sich früher wehren? Mit einem Protestzug zur Mauer ziehen? Ja, es gab sie. Die Vorkämpferinnen und Vorkämpfer der Demokratie und die Widerständigen, die gegen den Staat und Unterdrückung in der DDR aufgestanden sind - über alle Jahrzehnte hinweg!
Viele von ihnen und viele Familien gingen durch die Hölle oder bezahlten mit ihrem Leben. Und es gab Hunderttausende, die dem Regime den Rücken zukehrten, indem sie ihr Leben riskierten und flüchteten. Oder aber einen Ausreiseantrag stellten.
Wenn man genauer hinsieht, merkt man jedoch, dass die Frage, die dahinter liegt, durchaus ihre Berechtigung hat. Warum gingen die Menschen erst 1989 zu Tausenden auf die Straße und übten öffentlichen Protest? Warum haben sich scheinbar nur wenige Menschen in den Jahrzehnten davor gewehrt?
Für mich ist dabei die zentrale Frage: Haben wir bisher genug vermittelt, was es bedeutet in einer Diktatur zu leben? Haben wir das tagtägliche Spannungsfeld zwischen Anpassung und Widerspruch, das das Leben in der Diktatur prägt, ausreichend beleuchtet? Bezogen auf unsere Geschichte. Aber auch mit Blick auf das Heute. Auf eine Zeit, in der autokratische Regime weltweit an Gewicht gewinnen.
Ich bin überzeugt davon, dass wir, gerade in Zeiten wie diesen, Einrichtungen, wie das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte, brauchen. Einrichtungen, die uns vermitteln können, was es bedeutet, Widerstand in einer Diktatur zu leisten.
Das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte dokumentiert das oppositionelle Verhalten von 1945 bis 1989 in der DDR. Ganz bewusst mit dem regionalen Fokus auf die ehemaligen Bezirke Gera, Erfurt und Suhl. Den heutigen Freistaat Thüringen. Eine der Keimzellen des Widerstandes gegen die SED-Diktatur.
Das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte ist ganz bewusst mehr als eine „Hall of Fame“ der Thüringer Revolutionäre. Nein, Sie dokumentieren, gerade in den persönlichen Aufzeichnungen der Protagonisten, ebenso auch Ängste und Zweifel.
Kein Mensch kommt als Oppositioneller zur Welt.
Das Spannungsfeld zwischen Anpassung und Widerspruch. Wie persönliche Erfahrungen mit dem Unrechtsstaat die Menschen prägen. Und wie schließlich aus Widerspruch Widerstand wurde. All das findet man ebenso auch in diesem besonderen Archiv.
Ganz besonders beeindruckt mich, wie sehr in diesem Archiv das oppositionelle Handeln und der Alltag in der Sammlung verwoben sind. Ganz konkret, wie im Vorlass von Cornelia Bartlau hier aus Jena. Das Engagement in der Umwelt-Bewegung in der DDR. Mit Notizen, Sitzungsprotokollen, Eingaben, Flugblättern und Konzepten.
Parallel aber auch ganz persönliche Dokumente, wie Korrespondenzen um ihre Kündigung als Leiterin des Zirkels Schreibende Schüler. Und auch Dokumente aus dem normalen Alltag mit Materialien einer Hausgemeinschaft, mit Protokollen von Hausgemeinschaftssitzungen und Mängelanzeigen von Mietern.
Gleichzeitig finden wir im Archiv auch Flugblätter zum DDR-Volksaufstand des 17. Juni 1953, in das Archiv eingebracht von Magdalena Bindmann. All diese Dokumente, vom oppositionellen Handeln bis hin zu Zeugnissen des Alltags, sind wertvoll für uns, um uns mit dem Leben in der DDR auseinandersetzen zu können.
Mit diesem Archiv und Ihrer Arbeit treten Sie ganz klar Mythen über die DDR und Mythen über die Revolution entschieden entgegen.
Die Revolution in der DDR war eben nicht ein Geschenk eines reformbereiten Staates. Ein Staat, der aufgewacht wäre und nun bereit war, auf die Bevölkerung zuzugehen.
Die Akten hier im Archiv zeigen uns, wie jedes bisschen Freiheit in der DDR und schließlich das Ende der Diktatur hart erkämpft wurden. Hart erkämpft von mutigen Menschen.
Dank Ihnen haben wir eben nicht nur die staatliche Überlieferung. Die Akten der Stasi, der Partei und die der Staatsorgane. Dank des Thüringer Archivs für Zeitgeschichte können wir auch die andere Seite der Geschichte erzählen.
„Warum, Frau Zupke, reden Sie immer so viel von Opfern und vom Widerstand? Was ist mit den “normalen„ Menschen in der DDR? Sind wir Ihnen etwa keine Erwähnung wert?“ Dies schrieb mir vor ein paar Wochen ein Mann aus Thüringen sichtlich verärgert. Er schrieb mir wenige Tage nach der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages. Die viele von Ihnen, wie ich, aufmerksam verfolgt haben.
Ein neu gewähltes Parlament ist ein Zeichen der Kontinuität und des Aufbruchs zugleich. Erstmals gehören dem Parlament keine Abgeordneten mehr an, die in der letzten freien Volkskammer und dem Deutschen Bundestag den Weg zur deutschen Einheit mit ihrer Stimme geebnet haben.
In seiner Rede nahm der Alterspräsident – Gregor Gysi –, der damals gegen die Wiedervereinigung stimmte, Bezug auf 35 Jahre Deutsche Einheit und zum Leben in der DDR. „Selbstverständlich haben die Menschen im Osten an Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gewonnen“ führte er vom Präsidentenpult des Bundestages aus. Gleichzeitig empörte er sich, dass man über Jahrzehnte die DDR nur auf Stasi und Mauertote reduziert habe und forderte in seiner Rede, unter johlendem Beifall seiner Fraktion, von einer kommenden Bundesregierung eine Entschuldigung.
Eine Entschuldigung für die Fehler der deutschen Einheit.
Die systematische Repression als viel zu sehr beachteter Nebenaspekt der DDR? Die Deutsche Einheit, lediglich nur ein Zugewinn an Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit für die Menschen im Osten?
Nein.
Die Menschen in der DDR. Sie haben 1989 nicht, wie der Alterspräsident es suggerierte, an Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gewonnen. Sie haben sich durch jahrzehntelangen Widerstand, der in eine friedliche Revolution mündete, Demokratie, Freiheit und den Rechtsstaat hart erkämpft. Hart erkämpft eben nicht nur in Leipzig oder Berlin, sondern in vielen Regionen des Landes.
Davon zeugt ganz besonders ihr Archiv. Das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte. Widerspruch und Widerstand, der für viele nicht, wie im Herbst 1989, in der Freiheit endete, sondern in den Gefängniszellen einer unmenschlichen Diktatur.
Wie in Erfurt, in Gera und in Suhl.
Nein, es war nicht der Zugewinn an Freiheit. Sondern, es war die Freiheit überhaupt, die Menschen sich erkämpften. Das, was wir bei der Eröffnung des neuen Bundestages erleben mussten, zeigt uns eindrücklich, wie wichtig es ist – gerade jetzt, nach 35 Jahren – über die Deutsche Einheit und über das Leben in der Diktatur und das Leben in der Demokratie zu sprechen.
Ein Blick in das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte genügt, um die Darstellungen des Alterspräsidenten des Bundestages mit Fakten zu widerlegen.
Trotz dieser besonderen Bedeutung, die die Archive für uns im Umgang mit der Geschichte haben, haben sie es in der Öffentlichkeit und auch in der Politik häufig nicht leicht.
Der besondere Wert, den die Archive für die Gesellschaft haben, ist in der Öffentlichkeit nur teilweise sichtbar. Vielmehr sind die Archive mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern häufig „stille Dienstleister“, die mit ihrer Arbeit im Hintergrund persönliche Aufklärung und Forschung ermöglichen.
Gerade in der internationalen Zusammenarbeit erlebe ich immer wieder, welchen zentralen Beitrag die Archive in der Aufarbeitung von Diktatur haben. Es ist für mich immer wieder dramatisch zu sehen, wie Aufarbeitung scheitert, weil die Quellen nicht gesichert wurden.
Vor nun bald zehn Jahren, 2016, beschloss der Bundestag den dauerhaften Erhalt der Stasi-Akten. Das Archiv der Repression wurde damit zum nationalen Kulturerbe. Die Stasi-Akten stehen damit auch zukünftigen Generationen zur Aufklärung über die SED-Diktatur zur Verfügung.
Aus meiner Sicht war dies ein längst überfälliger Schritt. Aber für mich ist es, offen gestanden, nur der erste Schritt. Nach den Akten der Repression sollten nun auch die Akten der Opposition zum nationalen Kulturgut werden.
Ich werbe dafür, dass die öffentliche Hand die bürgerschaftlich geführten Archive, wie das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte, noch stärker in der Vermittlungsarbeit und auf den Weg ins digitale Zeitalter unterstützt. Wir brauchen die digitale Langzeitsicherung des Archivguts und wir brauchen digitale Vermittlungsformate. Nur so schaffen wir den Sprung in die Zukunft.
Mich beeindruckt sehr, was Sie hier in Jena in Ihrer Bildungsarbeit leisten.
Gerade die Verknüpfung mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, wie hier in ihren Bildungsprojekten, bietet jungen Menschen die Möglichkeit, sich mit Geschichte ganz persönlich in Bezug zu setzen.
Wie hätte ich gehandelt? Wann mache ich mit und wann widersetze ich mich?
Diese Fragen nehmen jungen Menschen mit aus einem Besuch hier bei Ihnen im Archiv.
Es ist gut, dass der Freistaat Thüringen immer wieder das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte in seiner Arbeit unterstützt.
Eine solche Einrichtung, wie dieses Archiv in seinem Bundesland zu haben, ist ein echter Schatz. Jeder Euro, der in diese Arbeit fließt, ist eine Investition in unsere Demokratie.
Mein ganz besonderer Dank gilt aber an diesem Tag natürlich dem Archiv für Zeitgeschichte selbst. Dem Vorstand des Vereins. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Den Mitgliedern. Es ist beeindruckend, was Sie in den Letzten nunmehr 34 Jahren geleistet haben. Sie senden mit Ihrer Arbeit ein Signal in unsere Gesellschaft:
Ja, die DDR waren SED, Staatssicherheit und FDJ.
Aber die DDR war viel mehr als das:
Die DDR waren ebenso auch Menschen, die aufgestanden sind. Die Nein gesagt haben. Die etwas weltweit Einmaliges geschafft haben. Aus jahrzehntelangem Widerstand wurde schließlich eine Friedliche Revolution.
Ich würde mir wünschen, dass dieser Aspekt noch stärker die Identität der Menschen in Ostdeutschland prägen würde. Es waren die Menschen in der DDR, wie hier in Thüringen, die eine Diktatur in die Knie gezwungen haben.
Das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte und seine Partnerarchive, sei es in Leipzig oder Berlin, senden ein Signal an alle Autokraten und Diktaturen:
Es sind ohne Frage Menschen, die Diktaturen errichten, festigen und verteidigen. Es sind ebenso aber auch Menschen, die Protest üben, die sich weigern und die schließlich Diktaturen stürzen können.
Vielen Dank für Ihre unermüdliche Arbeit!