Statement zum Jahresbericht 2022 - Bundespressekonferenz

Die SED-Opferbeauftragte Evelyn Zupke zum Jahresbericht 2022 an den Deutschen Bundestag bei der Bundespressekonferenz. (© DBT / Bettina Korge)
Sehr geehrte Damen und Herren,
in diesen Zeiten kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Viel zu verstörend sind die Bilder und Nachrichten, die uns jeden Tag aufs Neue aus der Ukraine erreichen.
Als vor mehr als dreißig Jahren die Mauer und der Eiserne Vorhang fielen, erlebten wir einen der glücklichsten Momente der Geschichte. Demokratie hatte über Diktatur gesiegt. Der Kalte Krieg, die ständige Sorge über einen Krieg mitten in Europa, schien für immer in die Geschichtsbücher verbannt.
Wenn wir heute in die Ukraine blicken, sehen wir schmerzlich, wie verletzlich Demokratie sein kann. Neben der Hilfe für die Ukrainerinnen und Ukrainer gibt es einen Punkt, der mir in diesen Tagen ganz besonders wichtig ist. Gerade jetzt, in dieser schwierigen Zeit, dürfen wir die Zivilgesellschaft und die Opposition in Russland und Belarus nicht vergessen. Ich denke an die mutigen Frauen und Männer, die, wenn sie sich für Protestaktionen treffen, nicht wissen, ob sie abends zu ihren Familien, zu ihren Kindern zurückkehren oder aber für Jahre in Gefängnissen und Lagern verschwinden werden.
Am morgigen Tag jährt sich der DDR-Volksaufstand zum 69. Mal. Für die Opfer der SED-Diktatur hat dieser Tag eine besondere Bedeutung. Der 17. Juni ist über die Jahrzehnte zu einem Symbol für den Widerstand der Menschen und zu einem Symbol für die Brutalität des Systems geworden. Der 17. Juni macht wie kaum ein anderer Tag aus der jüngeren deutschen Geschichte deutlich, dass Freiheit und Demokratie keine Selbstverständlichkeiten sind und viele Menschen in der DDR einen hohen Preis für ihren Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung zahlen mussten.
Ich habe mich als SED-Opferbeauftragte ganz bewusst dazu entschieden, meinen Jahresbericht dem Parlament zum 17. Juni vorzulegen. Ich möchte diesen Tag dafür nutzen, um von den Menschen zu berichten, die bis heute unter den Folgen der Diktatur leiden.
Als ich vor einem Jahr das Amt als erste Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur beim Bundestag angetreten habe, gab es eine Frage, die mich durch die ersten Monate im Amt begleitet hat: Frau Zupke, wie kann es sein, dass wir uns mehr als dreißig Jahre nach dem Mauerfall noch immer mit dem SED-Unrecht und seinen Folgen auseinandersetzen müssen?
Wenn wir uns dieser Frage nähern, ist es mir besonders wichtig, dass wir eines erkennen: Für den Prozess der Aufarbeitung der Diktatur und der Unterstützung der Opfer gab es kein Vorbild. Es gab keine Blaupause, an der man sich hätte orientieren können.
In den zurückliegenden drei Jahrzehnten wurde viel für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft erreicht. Insbesondere die Rehabilitierungsgesetze sind ein Anker für die Betroffenen. Vor genau dreißig Jahren hat das Parlament mit den SED-Unrechtbereinigungsgesetzen etwas Einzigartiges geschaffen. Das Unrecht, das die Diktatur den Opfern zugefügt hat, wird in der Demokratie gelindert. Aber all das Erreichte darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir auch heute noch vor großen Herausforderungen stehen. Die Herausforderungen der 1990er- und 2000er-Jahre sind jedoch andere als die heutigen.
Direkt nach dem Mauerfall ging es insbesondere darum, erste Erkenntnisse über die Strukturen der SED-Diktatur zu gewinnen. Ziel war es, den ehemaligen politischen Häftlingen möglichst schnell eine Rehabilitierung zu ermöglichen. Und es ging auch darum, eine Möglichkeit für alle Bürgerinnen und Bürger zu schaffen, dass sie Einsicht in „ihre“ Stasi-Akte nehmen konnten. Über dreißig Jahre später sehen wir: Der Schatten der Diktatur reicht weit. Er reicht viel weiter, als es viele damals vermutet hätten. Gerade was das Hineinwirken des Repressionsapparats in die Gesellschaft, in die Familien und die Institutionen angeht, gewinnen wir dank der Forschung und dank Betroffener, die über ihre Schicksale berichten, auch heute noch immer wieder neue Erkenntnisse.
Diese Erkenntnisse sind wichtig, um die Wirkungsweisen einer Diktatur zu begreifen und den Betroffenen adäquat helfen zu können. Zudem zeigen sich manche Probleme – wie bei der Traumatisierung der Opfer – erst Jahre oder Jahrzehnte später. Manche Betroffene können erst jetzt, mehr als 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Diktatur, über das sprechen, was ihnen damals angetan wurde.
Unsere heutigen Herausforderungen sind andere als die der ersten Jahre. Aber: Sie sind eben nicht weniger herausfordernd!
Als Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur ist es meine Aufgabe, den Opfern eine Stimme zu geben und die Politik zu beraten. Am 9. November des letzten Jahres habe ich dem Deutschen Bundestag einen ersten Bericht zu dringenden Handlungsbedarfen vorgelegt. Vieles von dem, was ich zur Verbesserung der Situation der Betroffenen vorgeschlagen habe, wurde von der neuen Regierung im Koalitionsvertrag aufgegriffen.
Dies betrifft insbesondere:
- Erleichterungen bei der Beantragung und Bewilligung von Hilfen und Leistungen, insbesondere für gesundheitliche Folgeschäden,
- die Anpassungen der Definition der Opfergruppen an den Stand der Forschung,
- die Dynamisierung der SED-Opferrente,
- die Einrichtung eines bundesweiten Härtefallfonds
- sowie die Überarbeitung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes.
Dafür bin ich außerordentlich dankbar!
Mit dem Jahresbericht, den ich nun dem Bundestag vorlege, möchte ich aufzeigen, was für die Opfer in der Umsetzung dieser Vorhaben besonders wichtig ist.
Erstens: Schließen wir Gerechtigkeitslücken in den Reha-Gesetzen!
Unsere Reha-Gesetze sind gut und sie sind eine wichtige Hilfe für viele tausende Betroffene. Hilfe ermöglichen Sie jedoch nur den Betroffenen von SED-Unrecht, die in den Gesetzen adäquat berücksichtigt sind.
Immer wieder scheitern daher Opfergruppen, die nicht explizit in den Gesetzen genannt sind, bei ihrem Versuch, sich rehabilitieren zu lassen. Ich denke dabei insbesondere an die Menschen, die bei ihrer Flucht oder als Fluchthelfer im osteuropäischen Ausland inhaftiert wurden. Ich denke dabei an Menschen, wie Alexander Wiegand.
Alexander Wiegand war in den 70er-Jahren Fernfahrer für eine Westberliner Spedition. Wiegand kam mit seinem Lastwagen viel rum im damaligen Ostblock. Er transportierte Waren aus der DDR, Polen und der Tschechoslowakei in den Westen.
Aber nicht nur das. Alexander Wiegand versteckte in seinem Lastwagen Flüchtlinge – hinter einer Bretterwand mit Luftlöchern. Über 120 Menschen schenkte Alexander Wiegand mit seinem Mut die Freiheit. Bis zu dem Tag, an dem Alexander Wiegand mit acht Flüchtlingen an Bord in der Tschechoslowakei erwischt und verhaftet wurde. Er kam für seine Fluchthilfe in Prag ins Gefängnis. Über vier Jahre musste er immer wieder Dunkelhaft, Folterungen und sexuelle Übergriffe ertragen. Seinen Mut und seinen Kampf für Freiheit für die Menschen in der DDR musste Wiegand bitter bezahlen. Alexander Wiegand wurde in brutalster Weise Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft.
Heute ist Alexander Wiegand alt und körperlich schwer krank. Alexander Wiegand hat in Deutschland keinen Anspruch auf die Opferrente, wie sie sonst politische Häftlinge erhalten. Das Strafrechtliche Reha-Gesetz bezieht sich nur auf Opfer, die in der DDR inhaftiert waren. So hart es auch klingen mag: Alexander Wiegand hat Pech, da er nicht in der DDR, sondern in einem anderen Ostblock-Staat im Gefängnis saß. Als SED-Opferbeauftragte kann ich mich und will ich mich damit nicht zufrieden geben. Diese Gesetzeslücke muss geschlossen werden.
Ich denke dabei nicht nur an die im Ausland inhaftierten Fluchthelfer und Flüchtlinge. Ich denke ebenso auch an die Zwangsausgesiedelten, die Menschen, die in Westberlin und Westdeutschland von der Stasi verfolgt wurden und die Opfer von Zwangsdoping wurden. Und dies sind nur Beispiele für Opfergruppen, die mit unserer heutigen Gesetzeslage nur geringe oder teils keine Aussichten auf Rehabilitierung oder Unterstützung haben.
Aus meiner Sicht ist es Zeit, dass wir diese Gerechtigkeitslücken in unseren Gesetzen schließen.
Zweitens: Ich werbe für die Verbesserung der sozialen Lage der Opfer.
Im vorletzten Jahr hat die Brandenburger Landesbeauftragte hierzu eine umfangreiche Studie für ihr Bundesland vorgelegt. Die Ergebnisse der Studie sind alarmierend. Fast jeder zweite Betroffene von SED-Unrecht lebt heute an der Grenze der Armutsgefährdung. Das habe ich Ihnen im November letzten Jahres schon näher berichtet. Oft sind es „kleine Stellschrauben“ in den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen, durch deren Anpassung wir die soziale Lage von vielen Betroffenen und ihren Angehörigen nachhaltig stabilisieren könnten. Hierzu habe ich in meinen Bericht nun konkrete Vorschläge für Verbesserungen vorgelegt.
Drittens: Vereinfachen wir die Anerkennung von verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden!
In den letzten Monaten habe ich viele SED-Opfer getroffen, die seit Jahren um die Anerkennung ihrer Gesundheitsschäden kämpfen.
Es beschämt mich zutiefst, wenn ich sehe, was viele der Betroffenen erleben müssen.
Verfahren von zehn oder zwölf Jahren sind keine Seltenheit. Auf Gutachten folgen Gegengutachten. Und schließlich wird sogar in vielen Fällen die Glaubwürdigkeit der Betroffenen infrage gestellt. Was folgt, ist ein Glaubwürdigkeitsgutachten, welches von den Betroffenen als besonders erniedrigend wahrgenommen wird.
Stellen Sie sich vor: In den letzten sechs Jahren ist beispielsweise in Sachsen-Anhalt nur einem einzigen Betroffenen die Anerkennung seiner Gesundheitsschäden gelungen. Die Opfer, im Osten wie im Westen, scheitern daran, dass die Behörden keinen Zusammenhang zwischen einer jetzigen Erkrankung, wie einer Angststörung oder PTBS, und einer früheren Haft oder z. B. Zersetzung sehen. So muss beispielsweise ein Mann, der eineinhalb Jahre im berüchtigten Gefängnis Bautzen inhaftiert war und über Jahre von der Stasi schikaniert wurde, in seinem Ablehnungsbescheid lesen:
Die Auswertungen der medizinischen Unterlagen aus der Haftzeit konnten den Nachweis haftbedingter Gesundheitsschäden nicht erbringen.
Bautzen! Das bedeutete: unmenschliche Haftbedingungen, psychische und körperliche Misshandlungen. UND natürlich wurde dies nicht dokumentiert! Um es ganz deutlich zu sagen: Kein Amt in einer Demokratie sollte sich in seinen Entscheidungen auf das stützen, was die Ärzte in den Gefängnissen einer Diktatur in die Akten geschrieben haben. So wie es jetzt ist, kann und darf es nicht weitergehen!
Dieses Thema ist nicht neu. Schon die Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur wies vor über 24 Jahren auf das Problem hin. Über die Jahre folgten Beschlüsse des Bundestages und Anpassungen in den Regelungen und Gesetzen. Heute müssen wir feststellen, all das, was probiert wurde, hatte keinen durchschlagenden Erfolg.
Ich werbe daher entschieden dafür, dass wir keine Kosmetik an dem bestehenden Regelungsrahmen betreiben. Wir brauchen eine grundsätzlich andere Herangehensweise.
In meinem Bericht mache ich dem Bundestag deshalb einen konkreten Vorschlag für ein vereinfachtes Verfahren. Ich werbe dafür, dass wir die Vermutungsregelung, die ab 2024 im sozialen Entschädigungsrecht vorgesehen ist, für die SED-Opfer konkretisieren.
Vorbild ist für mich die Regelung, die der Bundestag 2012 für die durch die Auslandseinsätze körperlich und psychisch geschädigten Soldaten eingeführt hat. Die Regelung enthält auch eine Vermutungsregelung. Diese ist jedoch um einen Katalog an Erkrankungen einerseits und eine Übersicht an möglichen schädigenden Ereignissen andererseits ergänzt. Wenn das diagnostizierte Krankheitsbild einerseits den benannten Kriterien entspricht und der Betroffene ein in der Verordnung aufgeführtes schädigendes Ereignissen nachweisen kann, sind keine weiteren Begutachtungen oder sonstigen Hürden mehr zu überwinden. Eine solche vereinfachte Regelung brauchen wir auch für die SED-Opfer. Aufgrund der Forschung können wir die typischen Erkrankungen, wie PTBS oder Angststörung, klar benennen. Ebenso sind die Repressionserfahrungen durch Stasi- oder auch Haftakten in der Regel ausreichend dokumentiert.
Ich möchte den Bundestag dafür gewinnen, auch für die SED-Opfer eine konkretisierte Vermutungsregelung einzuführen! Nur auf diese Weise beenden wir den Marathon aus Gutachten und Gegengutachten. Wir sparen uns unnötige Bürokratiekosten. Und: Wir stärken bei den Opfern von Diktatur das Vertrauen in unseren Rechtsstaat.
Als letzten Punkt möchte ich auf eine Frage eingehen, die mir von Journalistinnen und Journalisten immer wieder gestellt wird: Frau Zupke, diese ganzen Opfer- und Aufarbeitungsthemen, das ist doch durch und durch eine ostdeutsche Angelegenheit, oder?
Als Antwort berichte ich den Journalistinnen und Journalisten meist über die Zwangsarbeit, die zum Beispiel die politisch inhaftierten Frauen im Frauenzuchthaus Hoheneck unter menschenunwürdigen Bedingungen leisten mussten. Die Strumpfhosen aus Hoheneck waren nicht hauptsächlich für den DDR-Markt bestimmt. Sie wurden ebenso auch an westliche Handelsketten geliefert und fanden sich als Billigware auf bundesrepublikanischen Grabbeltischen wieder: „Strumpfhosen made in Hoheneck“ oder wie es der Historiker Tobias Wunschik treffend ausgedrückt hat: „Knastware für den Klassenfeind“. Westdeutsche Firmen wie z. B. Quelle, Woolworth, C&A, aber auch Siemens ließen sich mit der SED-Diktatur ein und nutzten die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in den Gefängnissen als billige Arbeitskräfte.
Als sie endlich in Freiheit waren, erkannten nicht wenige ehemalige Inhaftierte die von ihnen hergestellten Waren beim Gang in ein Kaufhaus wieder.
Mitte der 80er-Jahre berichteten westdeutsche Medien über diese schmutzigen Deals. Ein Aufschrei in der westdeutschen Bevölkerung aber blieb aus. Kein Boykott durch die Kunden. Keine nennenswerte Reaktion der Politik. Und die Produktion lief einfach weiter.
Die Knastware aus Hoheneck und vielen weiteren Gefängnissen zeigt uns eindrücklich:
Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur ist keine Frage Ostdeutschlands. Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur ist eine gesamtdeutsche Aufgabe.
Ohne Frage: Kein heutiger Vorstandsvorsitzender und keine heutige Geschäftsführerin sind dafür verantwortlich, was damals in den Gefängnissen geschah. Die heutigen Unternehmensleitungen tragen aber Verantwortung dafür, wie die Firmen heute mit den dunklen Kapiteln der Unternehmensgeschichte umgehen.
Es beschämt mich zutiefst, dass im Gegensatz zum schwedischen Möbelkonzern IKEA bis heute keines der größeren westdeutschen Unternehmen, die von DDR-Zwangsarbeit profitierten, sich dazu bereit erklärt hat, sich an der Unterstützung der Opfer zu beteiligen. Aus meiner Sicht ist es für diesen Schritt nie zu spät. Als SED-Opferbeauftragte werde ich die Unternehmen weiter an ihre Verantwortung erinnern.
Über vierzig Jahre Diktatur hinterlassen tiefe Spuren: In der Gesellschaft. In den Familien. Und bei jedem einzelnen Betroffenen.
Wir können, dass was den Menschen passiert ist, nicht ungeschehen machen. Unser Anspruch sollte aber sein, die Folgen der Diktatur zu lindern. Mit meinem Jahresbericht möchte hierzu einen Beitrag leisten. Schließen wir daher Gerechtigkeitslücken in den Reha-Gesetzen, verbessern wir die soziale Lage der Opfer und erleichtern wir die Anerkennung von verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden!
Kein Mensch, der in der Diktatur für Freiheit und Selbstbestimmung gekämpft und gelitten hat, sollte heute - in unserer Demokratie - ins Abseits geraten.
Vielen Dank!