Eröffnungsrede von Andreas Kaernbach, Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages
Zur Eröffnung der Ausstellung Wille, Macht und Wandel, Foto- und Video-Installationen von Herlinde Koelbl im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Deutschen Bundestages am 29. September 2005
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages, sehr geehrte Frau Koelbl, meine sehr geehrten Damen und Herren,
zwei Ereignisse - darauf hat der Herr Präsident bereits hingewiesen - gilt es heute zu feiern, zum ersten die Eröffnung der Ausstellung von Herlinde Koelbl, zum anderen die erstmalige Öffnung der Ausstellungsräume des Deutschen Bundestages. Heute stellt sich also im Deutschen Bundestag eine Art Galerie des Parlamentes vor, und - was ihren besonderen Rang ausmacht - sie ist keine hausinterne Veranstaltung, sondern ein Angebot an die Öffentlichkeit. Dass nun diese Ausstellungsräume im Deutschen Bundestag zur Verfügung stehen ist nicht das Ergebnis einer kurzfristigen Überlegung, eines spontanen Einfalls. Die Schaffung solcher Räume ist vielmehr das Resultat eines langen Prozesses, einer gut bedachten allmählichen Annäherung des Parlamentes an die zeitgenössische Kunst. Dieser lange Weg nahm - wie bereits vom Herrn Präsidenten dargelegt - seinen Anfang noch in Bonn, als der Kunstbeirat beschloß, Künstler einzuladen, das Bild der Parlamentsbauten in Berlin durch ihre Kunstwerke mitzugestalten. In dem Maße, wie diese Kunstprojekte Gestalt annahmen, wurde ersichtlich, dass es ein glückliches Konzept war, bedeutende zeitgenössische Künstler für eine solche Aufgabe zu gewinnen und zu motivieren. Auf diese Weise wurde ein neues, geistig und sinnlich erfahrbares Erscheinungsbild des Bundestages geschaffen. Und in dem Maße, wie dieses Projekt also Früchte trug, in dem Maße wurde auch deutlich, daß der Bundestag es nicht bei diesen Kunst-am-Bau-Projekten belassen dürfe, sondern dass er den einmal eingeleiteten anregenden Dialog zwischen Kunst und Politik weiterführen, ja weiterentwickeln müsse.
Aus dieser Überzeugung erwuchs der Beschluß des Kunstbeirates, Ausstellungsräume zu schaffen, die als ein Fenster des Parlamentes zur aktuellen Kunstszene dienen, die zum Gespräch zwischen Künstlern, Bürgern und Politikern anregen und dieses fördern sollen. Ein wenig poetisch ausgedrückt, ließe sich sagen, dass eine Art Kunst-Agora im Parlamentsviertel geschaffen werden soll. Ein solches Forum für Kunstausstellungen bietet die Chance, daß das Parlament zu einem aktiven Mitgestalter der Kunstszene von Berlin wird, ein gewiß nicht einfaches Vorhaben angesichts des Reichtums dieser Szene an Galerien und Ausstellungsräumen aller Art. Es muss daher das Ziel des Parlamentes sein, der überbordenden Buntheit der Kunstszene nicht mit einem gleichermaßen bunten Strauß von Ausstellungen zu begegnen, sondern sorgfältig ein ganz eigenes Ausstellungsprogramm zu konzipieren, das das Selbstverständnis des Veranstalters, nämlich des Parlamentes, widerspiegelt. Es gilt also, auch für diese Ausstellungen Künstler anzuregen - vergleichbar ihren Beiträgen zu den Kunst-am-Bau-Projekten -, sich kritisch und gedankenreich mit Geschichte, Geist und Wesen dieser zentralen Institution unserer Demokratie sowie dem Wesen des Politischen im allgemeinen auseinanderzusetzen.
Insofern ist die erstmalige Vorstellung dieser Räume mit Arbeiten von Herlinde Koelbl wegweisend. Wenige Künstler dürften sich wie sie so einfühlsam beobachtend und forschend Themen der Politik und der Gesellschaft zuwenden. Es hätte von daher, um die politische Aktualität der Arbeiten von Herlinde Koelbl zu unterstreichen, nicht einmal der zeitlichen Nähe zu den Neuwahlen und deren Ergebnis bedurft. Und doch ist diese zeitliche Verknüpfung der Ausstellung mit den Neuwahlen und dem anschließenden Machtpoker der Parteien eine zusätzliche und willkommene „Illustration“ dessen, was Herlinde Koelbl gestaltet hat. Am Beispiel der Arbeiten von Herlinde Koelbl wird deutlich, wie Kunst trotz dem ihr eigenen Abstand zur Politik einen ungemein packenden und aktuellen Kommentar zur Politik zu geben vermag und doch zugleich weit über diese Aktualität hinausweist.
Ein kurzer Rückblick auf das Jahr 1991, den Ausgangspunkt der Arbeiten von Herlinde Koelbl für die hier gezeigten Installationen, möge das künstlerische, psychologisierende Anliegen der Künstlerin erhellen. In jenem Jahr begann sie ihre berühmte Fotoporträt-Folge der „Spuren der Macht“: Acht Jahre lang fotografierte sie Jahr für Jahr neben Wirtschaftsführern und Mediengrößen vor allem Politiker, von denen sie annahm, dass sie am Beginn einer politischen Karriere standen. Jedes Jahr entstanden ruhige, sensible Foto-Porträts, fern jeder Glamourfotografie und fern jeder Report-Routine. Man kann Herlinde Koelbl für ihren sicheren Instinkt nur bewundern, mit dem sie genau jene Politiker ausgewählt hat, die im folgenden Jahrzehnt für die Neuformierung der Politik in Deutschland nach der Wiedervereinigung bestimmend werden sollten und es ja - das ist das Besondere dieser Präsentation kurz nach der Neuwahl - noch heute sind - wie Gerhard Schröder, Angela Merkel, Joschka Fischer oder Heinrich von Pierer, um nur einige zu nennen. Die Fotoporträt-Sitzungen vertiefte Herlinde Koelbl durch bekenntnisreiche Gespräche mit den Porträtierten über ihre Einstellung zur Macht, ihre politischen Ambitionen, über ihre weitere Lebensplanung, über Liebe, Ehe, Religion und Elternhaus. Die Gesprächspartner wussten, dass eine Veröffentlichung der Porträts erst Jahre später erfolgen würde. Sie konnten sich also ungezwungener und damit ehrlicher zeigen als für den medialen Tagesgebrauch geboten. Aber ihre Offenheit im Gespräch lag wohl auch in der Art der Fragen von Herlinde Koelbl begründet, dem überlegten, intensiven Nachfragen, das ihnen bewußt machte, dass die Fotografin sie nicht als bloße Kunstobjekte vermarkten wollte, sondern sie als Menschen ernst nahm - für Politiker, die wie wenige Berufsgruppen Klischeevorstellungen und Vorurteilen ausgesetzt sind, ist solch einfühlsame Rücksichtnahme ungewohnt und nicht selbstverständlich. So wurde für manche der Befragten das oft ungeduldig erwartete jährliche Interview zu einer „Art Selbsterfahrung“ (Heinrich von Pierer) oder sogar zu einem „Lebensbuch“ (Peter Gauweiler), das half Bilanz zu ziehen, sich des zurückgelegten Weges reflektierend zu erinnern, also fast schon zu einer Lebenshilfe.
Das Charakteristische dieser fotografischen Forschungsreisen von Herlinde Koelbl ist, dass sie das intensive Gespräch als Teil eines umfassenden Porträts aus Wort und Bild versteht. Diese besonders eindringliche Form der Porträtierung hatte sie bereits beeindruckend in ihrem Projekt „Jüdische Porträts“ realisiert, als sie jüdische Persönlichkeiten der deutschen Geistesgeschichte in der ganzen Welt aufsuchte. Weitere bekannte Fotoprojekte von ihr sind das „Deutsche Wohnzimmer“, das sie als Spiegel der Persönlichkeit seiner Besitzer vorstellte oder die Männerakte, die als eine der ersten Fotografinnen zeigte, und auch bei diesem Sujet psychologisierend die Persönlichkeit der Fotografierten porträtierte. Durch diese ganzheitliche Schau gelingt ihr die Hinwendung zum Kern dessen, was einen Menschen geistig-seelisch konstituiert, was seinen Antrieb zum Leben und Handeln in der Gesellschaft bewirkt - nicht nur wenn Herlinde Koelbl die Herausbildung der „Spuren der Macht“ in den Gesichtern und im Bewußtsein von Politiker verfolgt, sondern auch, wenn sie - um andere bekannte Fotoreihen von ihr zu nennen - die Vitalität „Starker Frauen“ feiert, die Dekadenz der „Feinen Leute“ anprangert oder uns verlockt, den Geld- und Goldphantasien anonymer Menschen in der Installation „Goldmund“ zu folgen. Es sind Forschungsreisen in diesen so oft untersuchten, aber so selten verstandenen und in weiten Teilen immer noch dunklen Kontinent der menschlichen Seele.
Der Untertitel jener Fotofolge über die „Spuren der Macht“ lautet „Die Verwandlung des Menschen durch das Amt“. Dieser Untertitel verweist auf die Kategorien von Zeit und Wandel, auf Kräfte, die über den Menschen und ihren Plänen walten und ihnen ihre Endlichkeit bewußt machen. So entwirft Herlinde Koelbl mit ihrer Arbeit geradezu ein Gegenprogramm zur medienkonformen Schnellebigkeit unserer Zeit, zur Schlagzeile, die tagesaktuelle Klischees bedient. Sie ermöglicht dem Betrachter nicht nur das Visualisieren, sondern führt zu einem echten Dialog, der auch in einer Selbstbefragung mündet: Wie war dein Verhältnis zu den Eltern, wie hälst du es mit der Religion, wie wärest du mit diesem Sieg oder dieser Niederlage umgegangen ?
So vermögen diese Porträts aus Gespräch und Bild nicht nur für die Befragten selbst, auch für den heutigen Betrachter eine Erkenntnis- und Lebenshilfe zu sein. Der Betrachter erhält Aufschluß über die Lebensentwürfe und den Lebensgang von Menschen, die er nur aus medialer Hochglanzdarstellung oder Verteufelung kennt. Dem Betrachter eröffnen sich die privaten Tragödien zerbrochener Freundschaften, das dauernde Ausgeliefertsein an eine öffentliche, kritische Aufmerksamkeit, die Einschränkung des privaten Lebens oder das oft schmerzliche Bewältigen von Machtverlust und Niederlagen. So erschließt sich ihm unaufdringlich, dass es „den Politiker“, „den Machtmenschen“ nicht gibt, sondern dass jeder der Befragten seine ganz individuelle Strategie entwickeln musste, um die Folgen des Machterwerbs und des Machtbesitzes zu bewältigen und zu verarbeiten.
Die hier zu erlebenden Fotoinstallationen und Videointerviews bauen zwar auf Herlinde Koelbls Recherche nach den „Spuren der Macht“ auf, sie lösen aber mit der Frage nach dem Wesen der Macht und des Machtwillens darüber hinaus explizit die beiden zentralen Begiffe heraus, die in Deutschland so sehr mit Vorurteilen und Vorbehalten belastet sind. Herlinde Koelbl scheut sich nicht, in ihren Installationen und Videointerviews Gestaltungswillen und Machtstreben als Urtrieb und zugleich als Grundkonstante des Politischen offenzulegen. Und dieses offene Ansprechen eines emotionsbeladenen Begriffs ist hilfreicher, als ihn zu tabuisieren und dadurch eine ehrliche Auseinandersetzung über Begrenzung und Zielsetzung von Macht in der Demokratie, ihren Gegensatz zur illegitimen Gewalt und zur Willkürherrschaft zu verhindern. In vergleichbarer Weise stellt ihre Installation „Was ist deutsch?“ einen allgemein sorgsam verhehlten Begriff ins helle Licht, und Herlinde Koelbl erhält auch hier aufschlußreiche, nachdenkliche Antworten, wie sie diese Politiker im Tagesgeschäft sicher nicht gegeben hätten: Sie hätten es in der Hektik des politischen Alltags nicht gekonnt, und sie wären aus Vorsicht vor medialer Ausbeutung hierzu nicht bereit gewesen
Mit den großformatigen Fotowänden „Wille und Macht“ werden die Ergebnisse der Suche auf den „Spuren der Macht“ von Herlinde Koelbl noch auf eine weitere Weise vertieft und neu gedeutet, eine Deutung, die über die Video-Interviews hinausgreift. Diese Fotowände stellen die gesellschaftliche, ja auch die zeitliche Eingebundenheit der handelnden Personen durch einen scheinbar unendlichen „all-over“ Foto-Teppich heraus. Die Fotowand ist dadurch eine Bildergalerie demokratischer Entscheidungsträger geworden, derjenigen, die über Jahre hinweg den politischen Diskurs in Deutschland wesentlich mitgestaltet haben, die also diesen Staat, diese Republik gewissermaßen verkörpern - ein spannender demokratischer Gegenentwurf zum herrschaftlichen Fürstenporträt. Aber der Gehalt dieser Komposition reicht darüber hinaus. Der Einzelne auf dieser Fotowand geht im Fluss der Bilder auf, so erscheinen die ideolgischen Differenzen wie aus ferner Sicht nur noch klein und marginal: Der Gewerkschafter findet sich Bild an Bild neben der CSU-Politikerin, der Medienvertreter unmittelbar neben dem Wirtschaftsführer. Der Strom der Bilder führt die Zeit als die große Gleichmacherin vor Augen. Und so gewinnen diese Installationen in der Abfolge der Fotos einen geradezu mythischen Charakter, nämlich den einer großen Bilderzählung vom Streben, vom Kämpfen, vom Wahn und von der Hoffnung dieser Individuen und des Menschen überhaupt, kurz, sie erzählen von dem, was den Kern der Conditio Humana ausmacht.
Herlinde Koelbl hat sich mit diesen Installationen zu einer großen Erzählerin entwickelt. Ihr Weg begann mit Fotoprojekten, in denen sie zwar das Foto als Instrument des Dokumentarischen nutzte, aber bereits damals durch wohlüberlegte Konzepte immer wieder Neuland betrat. Mit den hier gezeigten Fototafeln findet sie nunmehr zur epischen Bilderzählung über das Zoon politicon, den Menschen als politisch Handelnden, der sein privates und gesellschaftliches Glück auf dem so verheißungsvollen wie abgründigen Terrain des Politischen versucht. Und diese seine Ziele verfolgt er in einer Welt, die ständigem Wandel unterworfen ist und ihm keine Gewähr für die Richtigkeit seiner Entscheidungen und keine unangefochtene Sicherheit bietet, denn - um mit Friedrich von Schiller zu sprechen - „... mit des Geschickes Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten.“
Zweifellos eine nachdenklich stimmende, eine anspruchsvolle Thematik, die hier, mitten im Parlaments- und Regierungsviertel und auch mitten im Trubel der derzeitigen politischen Ereignisse, zur Reflexion, zum Innehalten einlädt.
Mein Dank gilt Herlinde Koelbl für dieses beeindruckende Projekt, gilt der Burger-Collection für ihre großzügige Förderung des Projektes und gilt Barbara Thumm für die Vermittlung und Anregung zu dieser Ausstellung und schließlich dem Team Rommel für den professionellen Ausstellungsaufbau.
Andreas Kaernbach, Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages