Besuch

Grußwort des Vorsitzenden von Yad Vashem, Dani Dayan, anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Sechzehn Objekte – siebzig Jahre Yad Vashem“

[Es gilt das gesprochene Wort]
Sehr geehrte Frau Präsidentin,
verehrte Gäste,
liebe Holocaust-Überlebende und Angehörige,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde -

Dies ist mein zweiter Tag in Deutschland.
Damit meine ich nicht den zweiten Tag meines aktuellen Besuchs. 
Ich meine damit den zweiten Tag, den ich jemals in Deutschland verbracht habe.
Ehrlich gesagt, bis vor 16 Monaten noch hatte ich vor, niemals nach Deutschland zu reisen.
Für mich war das etwas Grundsätzliches.
Dabei ging es nicht etwa um Hass auf die Deutschen, 
schon gar nicht auf die Menschen, die heute in Deutschland leben.
Es ging mir vielmehr um den heiligen Grundsatz des Gedenkens. 
Aus Respekt, ja Ehrfurcht 
vor der Erinnerung, vor dem Leben und vor der Kultur
meiner sechs Millionen Brüder und Schwestern – 
darunter auch meiner Familienangehörigen – 
die von Nazideutschland und seinen Kollaborateuren ermordet wurden, war es mir sehr wichtig, auf das bedrückende, schwierige und auch überwältigende Erlebnis 
eines Besuchs in Ihrem Land, als Jude, zu verzichten.
Wahrscheinlich wäre ich niemals hierher gekommen – 
und wenn, dann 
sicherlich nicht an ausgerechnet diesen Ort in Deutschland: den Bundestag, 
hier im Schatten des Reichstags – 
wäre ich nicht zum Vorsitzenden von Yad Vashem ernannt worden. 
Dieser Wendepunkt hat mein Leben 
auf vielerlei bedeutsame Weise verändert – 
und ein Ergebnis dessen ist meine Anwesenheit heute in Berlin 
als Leiter der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte. 
Paradoxerweise stehe ich heute vor Ihnen bei dieser bedeutenden Veranstaltung  
aus genau dem Grund, aus dem ich bisher einen Besuch vermieden habe:
Weil Gedenken wichtig ist. 
Und das Gedenken an den Holocaust ist sehr wichtig, 
vor allem für mein Volk und… 
in völlig anderer Hinsicht – 
auch für Ihr Volk.
Die Bedeutung, die das Gedenken an den Holocaust hat, 
wurde von vielen Opfern selbst erkannt.
Noch als sie verzweifelt um ihr Leben kämpften -
und das Leben ihrer Liebsten - 
wollten sie ihren Platz im Gedächtnis,
im Bewusstsein und im Gewissen 
der Menschheit sichern.

Anneliese Borinski wurde 1914 hier in Berlin 
als Tochter jüdischer Eltern geboren, 
die sich in der deutschen Gesellschaft und Kultur voll assimiliert fühlten. 
Nach der Machtergreifung der Nazis wurde Anneliese, 
so wie viele weitere deutsche Juden,
in eine ausschließlich jüdische Lebenswelt gedrängt, 
darunter die zionistische Jugendbewegung MakkabiHazair. 
Dort übernahm Anneliese eine Führungsrolle 
und scharte ihre Kameraden buchstäblich um die Makkabi-Fahne, 
eine Fahne, die für sie eine immer größere symbolische Bedeutung erhielt, 
weil die Verfolgungen, unter denen sie leiden mussten, 
immer schrecklicher wurden.
1943 beschlossen Anneliese und elf ihrer Freunde,
die einem entsetzlichen Schicksal an unterschiedlichsten Orten entgegensahen, 
einen symbolischen Akt 
der gemeinsamen Verpflichtung und des Vertrauens in die Zukunft:
Sie zerschnitten ihre Makkabi-Fahne in zwölf Stücke und versprachen einander, auf die Stücke achtzugeben und die Flagge wieder zusammenzusetzen, wenn sie sich „nach dem Krieg“ hoffentlich wiedersähen. 
Diesen außergewöhnlichen jungen jüdischen Idealisten war 
schon zu diesem Zeitpunkt klar, 
welch große Strahlkraft von einem physischen Gegenstand ausging, einem Objekt, 
das für sie Quelle der Motivation und Inspiration war.

Anneliese schrieb darüber in ihren Erinnerungen nach dem Holocaust:
Wir erkannten, wie wichtig es für uns sein würde, zusammenzubleiben …
mit unseren Idealen, 
mit unserem Ziel, eines Tages in das Land Israel zu gelangen 
und die einzelnen Stücke der Fahne mitzunehmen …
Deshalb versteckte ich mein Stück Fahne unter meiner Schuhsohle …
Es war mir sehr wichtig, es dort zu verstecken, wo niemand es finden konnte …
Nur drei der zwölf „Fahnenbesitzer“ überlebten den Holocaust. 
Eine von ihnen war Anneliese, 
die den Schrecken von Auschwitz-Birkenau überstand 
und schließlich nach Israel ging, 
wo ihr Name Ora Aloni wurde.
Die drei Überlebenden schufen eine restaurierte, vollständige Makkabi-Fahne.
Oras Stück der Originalfahne sowie die nachgebildete Fahne 
wurden der Gedenkstätte Yad Vashem übergeben.
Und gleich werden Sie sie sehen können, 
als Teil der besonderen und denkwürdigen Ausstellung, 
die hier und heute zum ersten Mal eröffnet wird.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Frau Bas, liebe Freundin:
Für uns in Yad Vashem lag es nicht auf der Hand, 
die Makkabi-Fahne 
und die anderen für uns so wertvollen Objekte in dieser Ausstellung 
nach Deutschland zurückzubringen und sie hier zu zeigen. 

Natürlich, Deutschland ist seit Jahrzehnten ein demokratisches Land.
Ein „neues Deutschland“, so hat man uns versichert.
Und dennoch ist es der Ort, 
an dem Hitler aufstieg und der Nationalsozialismus entstand, gedieh und sich ausbreitete. 
Und genau hier hat, viele Jahrzehnte später, 
die Zahl der alarmierenden antisemitischen Hassbotschaften 
in den letzten Jahren dramatisch zugenommen – 
eine ungeheuerliche Situation, 
gegen die die Bundesregierung anzukämpfen versucht.

Zehntausende von Gegenständen, 
die Yad Vashem übereignet wurden,
und mehrere Hundert Millionen Dokumente
haben auf unserem Berg der Erinnerung in Jerusalem „eine Heimat“ gefunden,
eben weil ihre Besitzer erkannten, 
dass wir der heilige Schrein der Erinnerung des jüdischen Volkes sind.

Aber in einer Wirklichkeit, in der Antisemitismus und Holocaustleugnung wieder zunehmen,
und in der jeden Tag die Zahl der Überlebenden der Shoah schwindet,
erzählen uns diese ganz besonderen Gegenstände eine lebendige Geschichte, 
auf der ganzen Welt und ganz besonders in Deutschland.
Sie selbst sind 
Zeugen der Geschichte der Shoah und dessen, was danach kam.
Sie werden sehen:
Die Botschaft dieser Objekte findet Widerhall in den Herzen und Köpfen 
aller Menschen, denen Wahrheit und Moral am Herzen liegen – egal welcher Nationalität oder welchen Glaubens sie sind. 

Sehr geehrte Frau Präsidentin, 
ganz herzlichen Dank, dass Sie es möglich gemacht haben, 
dass diese ganz besonderen Gegenstände 
hier im Bundestag die Wahrheit schildern können.
Danke all unseren Freunden und Unterstützern in Deutschland, 
vor allem unserem Freundeskreis Yad Vashem 
unter der so kompetenten Leitung von Kai Diekmann – 
dem Freundeskreis, der auch dafür Sorge trägt, 
dass diese Ausstellung später in Essen gezeigt wird.
Und mein ganz besonderer Dank gilt meinen hervorragenden und engagierten 
Kolleginnen und Kollegen von Yad Vashem,
darunter natürlich Ruth Ur, die gemeinsam
mit Michael Tal diese Ausstellung kuratiert hat.
Ich möchte mit einem alten hebräischen Segensspruch enden, 
der sich auf ein weiteres Objekt in unserer Ausstellung bezieht: 
Rabbi Posners Chanukka-Leuchter aus Kiel, 
der kürzlich von Bundespräsident Steinmeier wieder entzündet wurde. 
Wenn Juden die Menora entzünden, sprechen sie:
שעשה נסים לאבותינו, בימים ההם – בזמן הזה.
Sheh-asah Nissim la-avoteynu, 
ba-yamim ha-hem, ba-z'man hazeh
Das bedeutet: 
„…der unseren Vätern Wunder geschehen ließ, in jenen Tagen zu dieser Zeit“.
So wie unsere Vorfahren mit dem Wunder 
des wiedergewonnenen Wohlergehens und der Unabhängigkeit des jüdischen Volkes gesegnet wurden, 
so sind wir es auch. 
Es gibt kaum einen geeigneteren Ort als diesen, 
um uns diese Errungenschaft ins Gedächtnis zu rufen 
und uns gemeinsam dazu zu bekennen, 
sie zu bewahren. 
Shalom.

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