Gregor Gaida: „Reichstagsfiale“
Der 1975 in Polen geborene Bildhauer Gregor Gaida widmet sein Werk dem narrativen Potential von Objekten und kunstgeschichtlichen Zeugnissen – Kunstwerken und Gegenständen also, die im Zentrum historischer, politischer und gesellschaftlicher Erzählungen stehen und nun, ihrem Kontext beraubt, Geheimnisse zu bergen scheinen. Die „Reichstagsfiale“ ist eine Holzskulptur, die in der andauernden Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Thema Flaggen entstand. In diesem Fall thematisierte Gaida nicht die Fahne selbst, sondern jenes architektonische Detail der Reichstagsfassade, auf dem die 1945 die Flagge der Sowjetarmee gehisst wurde:
Ende April 1945 wurde Berlin, die Hauptstadt des nationalsozialistischen Deutschen Reiches, durch die Soldaten der Roten Armee eingenommen. Die Schlacht um die Stadt hatte am 16. April begonnen. Sie endete am 2. Mai mit der Kapitulation des Befehlshabers des „Verteidigungsbereichs Berlin“ General Weidling im Hauptquartier des sowjetischen Befehlshabers Oberst Tschukow in Tempelhof. Wenige Tage später, in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945, wurde die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht vor den vier Siegermächten zunächst in Reims, dann in Berlin Karlshorst unterzeichnet und besiegelte das Ende des Zweiten Weltkriegs.
Für die Sowjettruppen, die Berlin als erstes erreicht und die Machtzentrale der Nationalsozialisten erobert hatten, war der 2. Mai ein entscheidender Moment des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland, dessen Truppen bei den Schlachten und Belagerungen auf sowjetischem Territorium Hunger, Leid und Tod in unvorstellbarem Ausmaß verursacht hatten. Der Sieg über Berlin wurde deshalb in allen Zeitungen und Nachrichtensendungen des Landes verbreitet – bildgewordenes Symbol wurde ein Foto, das das Hissen der roten Fahne auf dem Dach des Reichstagsgebäudes zeigt. Aufgenommen wurde es von Jewgeni Chaldej (1917 – 1997), einem Fotografen, der als Kriegsberichterstatter den Weg der Roten Armee bis nach Berlin begleitete und dokumentierte. Er berichtete später auch über die Nürnberger Prozesse und die Pariser Friedenskonferenz. Chaldej, der einer jüdischen Familie aus der Ukraine entstammte, gilt als einer der wichtigsten Fotografen der Sowjetunion / Russlands. Zu weltweiter Berühmtheit gelangte er durch das Foto vom 2. Mai 1945, das lange nach dessen Aufnahme nochmals ins Licht der Öffentlichkeit gerückt wurde, weil Chaldej die Situation nachgestellt und die Aufnahme – erbeutete Armbanduhren am Handgelenk des Soldaten – retuschiert hatte. Chaldej erinnerte sich später:
Als der Krieg begann, sprachen alle vom Reichstag. Es war am frühen Morgen des 2. Mai 1945. Ich betrat das Reichstagsgebäude. Überall war schrecklicher Lärm. Ein junger sympathischer Soldat kam auf mich zu. Ich hatte eine rote Fahne in der Hand. Er sagte: „Leutnant, dawai, lass uns mit der Fahne aufs Dach klettern.“ „Deswegen bin ich ja hier.“ Wir waren endlich oben. Der Reichstag brannte. Er meinte: „Wir wollen auf die Kuppel klettern.“ „Nein“, sagte ich, „da werden wir geräuchert und verbrennen.“ (…)Wir fanden eine lange Stange. Ich suchte nach Kompositionsmöglichkeiten. Es sollte auch etwas von Berlin zu sehen sein. Ich habe einen ganzen Film verknipst, 36 Bilder, und bin in der Nacht zum 3. Mai nach Moskau geflogen, und das Foto ist veröffentlicht worden. (J. Chaldej in: Volland/Krimmer: Von Moskau nach Berlin, Berlin 1994)
Der Kunstbeirat erwarb die Reichstagsfiale, auf deren steinernen Original der sowjetische Soldat einst die Flagge hisste, im Jahr 2015 für die Kunstsammlung des Deutschen Bundestages. Sie steht nun in der Blickachse zum Dach des Reichstagsgebäudes und damit zum Ort des von Chaldej inszenierten Fotos. (kvo)