Soldat (Sowjetischer Ehrenfriedhof)
`Er war ein ganz einfacher Soldat, ohne Schulterstücke, vielleicht so 25 Jahre alt. In seiner linken Hand trug er eine schwarze Maschinenpistole, eine MP 44. In seiner rechten Hand eine rote Fahne mit einem Stern drauf. Der ist runtergefallen von seinem Sockel vor ungefähr vier Monaten. Hooligans, hab' ich gedacht, oder irgendwelche Jugendliche haben den runtergestürzt. Er ist jetzt in Teltow, bei einem Schlosser.'
`Als ich — es muss irgendwann im Oktober gewesen sein — dorthin kam, lag die Figur auf dem Rücken, der rechte Arm war abgebrochen und die Fahne in drei Teile zerbrochen. Wir haben die Polizei gerufen, aber da waren keine Spuren, keine Fußspuren, also muss er von selbst umgefallen sein. Die Fahne war halbrund. Da hat sich wahrscheinlich der Wind drin gefangen.'
`Die Figur des Soldaten war mit je sechs Bolzen in jedem Stiefel auf einer Stahlplatte befestigt. Sie war zweieinhalb Tonnen schwer. Und zweivierzig groß.'
`Der hat mir gefallen. Ein bisschen naturgetreu war der schon nachgemacht. Vor zwei Jahren haben sie den noch gemalert, da stand ich mit einer Leiter dran. An Krieg hab' ich auf gar keinen Fall gedacht. Wir hatten ja auch mit den Soldaten und den Offizieren ein wunderbares Verhältnis.'
`Hier liegen fünfeinhalbtausend Russen. Aber unter dem Denkmal war niemand begraben... Der Friedhof ist von 1945, aber er ist erst 1947 hier aufgestellt worden. Die Maschinenpistole fällt mir sofort ein. Die Figur war silbern gestrichen und die Maschinenpistole schwarz. Die Soldaten haben ihn mit einem Rasierpinsel gestrichen.'
`Solange ich hier bin, wurde er mehrmals gestrichen, er hatte drei verschiedene Farben: erst Mennige, dann Schwarz — da sah er aus wie ein Schornsteinfeger — erst zum Schluß war er mit Silberbronze gestrichen. Das Detail, an das ich mich am meisten erinnere, waren seine Fingernägel, fein ausgearbeitet.'
`Er war ein freundlich aussehender junger Mann, kein verzerrtes Gesicht. Ich hab' ihn auch mal unter dem Mantel angefasst, um zu sehen, ob er hohl ist.'
`Unglücklich war der bestimmt nicht. Frauen haben Blumen hingestellt und ihm einen Namen gegeben. Er hieß Egon. Und Lieder hat man ihm gesungen, wie ,,Treuer Kamerad„.'
`Er blickte ungefähr nach Nordosten. Von vorne, vom Eingang, hat man den stehen sehen, leuchten sehen: Wenn ich vorbeigehe, sehe ich, dass da keiner ist: Mir fehlt er, ein Friedhof ohne einen Soldaten ist ein nackter Friedhof.'
`Er fehlt mir eigentlich nicht. Was mir fehlt, ist der Orientierungspunkt. Er stand ja im Zentrum des Platzes. Wir haben uns immer an ihm orientiert, an der roten Fahne.'
`Er kommt wieder hierher, er muss wieder hierhin. Der Soldat kommt wieder...'
Aus: Calle, Sophie: Die Entfernung, Dresden 1996 (vergriffen).